Fair Traders

Ein leises, non-aggressives Votum für „eine Postwachstumsökonomie, die Ethik und Nachhaltigkeit ins Erfolgszentrum rückt“, wie es im Regiestatement von Nino Jacusso (Shana – Das Wolfsmädchen), des Autors und Regisseurs heißt, oder wie Ernst Bloch es nannte: die „Konkrete Utopie“.

Jacusso präsentiert unaufdringlich drei Menschen, die unter Kapitalismus nicht Gewinnmaximierung mit allen Mitteln verstehen. Sie setzen ihr Kapital allerdings ein für ihren Produktionsbetrieb und der muss schwarze Zahlen schreiben.

Wie Patrick Hohmann meint, sein Ziel ist ein Gewinn von 2 oder 3 Prozent und nicht von 30 oder 40. In Indien funktionierte das noch nicht richtig, in Tansanien kommt er dem Ziel schon näher. Er baut Biobaumwolle an. Er möchte, dass die Bauern eine Zukunft haben, dass sie ein gewisse Preissicherheit haben. Er hat Großabnehmer in der Schweiz.

Claudia Zimmermann, die Biobäuerin in der Schweiz hat ihr ganzes Erspartes eingesetzt, um ihren Biobauernhof mit Hofladen aufzubauen. Das war und ist nicht einfach. Denn die Ware muss im Laden sein, wenn er öffnet. Das war nicht allen ihren Lieferanten von Anfang an klar. Andere haben mit Erstaunen zur Kenntnis genommen, dass sie fragt, wieviel Geld sie für die Tomaten brauchen. Und es auch bekommen. Sie lässt von einer Enthusiastin Brot backen. Da läuft einem das Wasser im Mund zusammen, wenn diese biologischen Erzeugnisse ins Bild rücken.

In Augsburg hat Sina Trinkwalder ihr ganzes Vermögen in die Grüdung eines Textilunternehmens investiert, das heute 150 Angestellte hat. Auch sie möchte die Menschen langfristig beschäftigen. Dank Großkunden wie DM ist ihr Konzept aufgegangen, mit Leuten ohne Chancen auf dem kapitalistischen Arbeitmarkt Taschen aus biologischen Rohstoffen oder recycleten Produkten herzustellen und auch einen Markt dafür zu schaffen. Auch das ist nicht immer leicht. Manche ihrer Arbeiter und Arbeiterinnen, sie spricht von den Ladies, nehmen es mit der Arbeitszeit nicht so genau, sie stempeln zwar, aber dann wird eifrig telefoniert, geraucht oder manche melden sich krank und arbeiten derweil woanders, das ist nicht tolerierbar, da muss eine geharnischte Chefinrede her – die Jacusso diskret über die Tonspur laufen lässt, während er Impressionen aus der Fabrik zeigt.

Kleine, aber ermutigende Beispiele gegen die Auswüchse des Turbokapitalismus. Beispiele, in denen die Qualität des Lebens über die Maximierung des Gewinnes aus dem Kapital gestellt wird. Wobei letztlich die Kunden darüber entscheiden, ob diese Produkte eine Zukunft haben.

Beach Bum

Moondog (Matthew McConaughey) ist ein Poet, ein Hippie in einer Zeit, als Dichter ihre Texte noch auf mechanischen, Portablen (wie Woody Allen bis heute) geschrieben haben. Die hat Moondog immer dabei. Er lebt im Exzess im subtropischen Paradies, Blumenhemden, Shorts, lange fast weiße Haare, er ist Vater einer Tochter, Heather (Stefania LaVie Owen) und verheiratet mit der superreichen Minnie (Isla Fisher).

Moondog ist dieser Typ, der ständig high ist, ständig auf der Suche nach Liebe, nach Erotik, er lebt sein Leben; beamtetes Sekundärleben ist bei ihm nicht vorstellbar; er steht ständig unter Strom. Seine Frau drückt großzügig ein Auge zu; sie selbst vergnügt sich mit Captain Wack (Martin Lawrence) während der langen Abwesenheitsphasen, in denen der Autor nichts zustande bringt.

Was ist große Dichtung? Der Film von Harmony Korine (Spring Breakers) gibt eine flachsend-eskapistisch-radikale Antwort darauf. Während wir das ernste Bild des asketisch-armen Poeten lieben, nimmt Harmony Korine es auf die direkt materialistische Weise: der Poet ist reich im materiellen Sinne, Reichtum heißt, tun und lassen können was einer will, auf Yachten, in Villen, in einer angenehmen Klimazone und auch in Liebesdingen.

Es gibt aber auch das einsame Bild von Moondog: er findet eine Albino-Katze und mit ihr ist er oft allein.

Dieses künstlerische Ausleben mit Koks und Frauen und anderen Drogen wird unterbrochen durch die Heirat seiner Tochter. Auch hier zeigt Moondog, dass ihn gesellschaftliche Regeln nicht interessieren. Das ist seine Interpretation von der Freiheit des Dichters, das tun, wonach ihm ist, jemanden zu umarmen oder einem anderen Mann ans Geschlecht fassen, neugierig, was sich da so tut.

Der Dichter ist frei. Das bewundern wir am Dichtertum: dass es mit der Sprache eine Freiheit beweist, die uns fasziniert, mit einer Sprache, die keine Konzessionen macht, die keine Rücksichten auf einen Anstand oder Formalitäten oder gesellschaftliche Regeln nimmt, die den Nagel auf den Kopf trifft. Insofern eine amüsante Bebilderung von Poetentum.

Aber in Moondogs Leben gibt es einen Einschnitt: seine Frau stirbt und das Erbe wird ihm vorenthalten, bis er sein Buch geschrieben hat. So ist er ein Rausgeschmissener. Erst sinnt er auf Rache, zerstört mit einer malerischen Gruppen von Obdachlosen das Mobiliar, findet aber schnell Gefährten und Abenteuer, lebt weiter wie bisher, eben mit anderen Menschen und anderem Komfort, ein Abenteurerleben.

Und wie frei der Poet ist, das zeigt er in dem Moment, wo er an die vielen Millionen kommt, so dass ganz am Ende ein beinah rührendes Bild über einen Poeten den Schlusspunkt bildet. Er sei von einer anderen Dimension, heißt es über ihn. Wohl wahr, wohl wahr. Abenteuerlicher Fieldtrip durch verschiedene Stationen. Moondog über sich: die Welt habe sich verschworen, ihn glücklich zu machen.

Lebenslinien Jutta Speidel – Ich mach’s einfach (BR, Montag, 25. März, 2019, 22.00 Uhr)

Zupacken.

Ihr Vater wollte einen Sohn. So hat Jutta Speidel das Zupacken gelernt. So hat sie auch im Umgang mit Männern sich durchgesetzt. Keiner ihrer Gatten wollte nach München. Die Beziehungen sind wieder auseinandergegangen. Eine Freundin meint, dass Männer Angst vor iherer Stärke haben.

Und so wie Jutta Speidel bei der Entwicklung einer ihrer größten Erfolgsrollen am Fernsehen, der Schwester Lotte in Um Himmels Willen, von Anfang an mitgewirkt hat, so dürfte sie die Chance zu einem Lebenslinien-Porträt vom ersten Gespräch an genutzt zu haben, um das Format ohen Federlesens ihrem wichtigsten Projekt Horizont e.V. unterzuordnen. In Andi Niessner hat sie für diese Lebenslinien einen angenehmen Strohmann gefunden, der seinen Namen für Buch und Regie gegeben hat.

(Wie es bei Um Himmels Willen nicht mehr nach ihren Ideen ging, die Serie immer mehr von der Nonnen- zur Bürgermeisterserie sich wandelte, ist sie ausgestiegen).

Der Film trägt, besonders, wenn man mit dem Gesülze und PR-Getue anderer Folgen des Formats vergleicht, ganz klar die Handschrift von Jutta Speidel. Die sonst eher peinlichen Routinen aus dem Format, den Besuch bei alten Wirkungs-, Schul- und Wohnstätten, hakt sie kurz und schmerzlos ab. Immer wieder geht es um Horizont. Ein Projekt, das sie von sich aus gestemmt hat, das anfangs ein Ding der Unmöglichkeit schien.

Auch als Künstlerin managt sie sich selbst. So sind durch ihr Zutun – ein bisschen was über ihre schilldernde Karriere erfährt man auch – mit von den spannendsten Lebenslinien eines Promis geworden, die ihr soziales Projekt uneitel in den Mittelpunkt stellen. Das Format hat sie in ihrem Sinne verformt. So wie sie schon eine ihrer ersten Komparsenrollen nutzte, um gesehen, bemerkt und entdeckt zu werden, so nutzt sie dieses Lebenslinien für ihr soziales Engagement.

Piripkura – Die Suche nach den letzten ihres Volkes (DVD)

An einem seidenen Faden.

Sie sind ein dünnes Faustpfand für den Schutz des Amazonas und auch nur dann, wenn sie, die nur mit Beil und Feuer ihr Leben bewältigen, überhaupt gefunden werden. Sie sind die beiden letzten ihres Stammes, die im Dschungel leben. Siehe stefes Review.

Kommentar zur den Reviews vom 21. März 2019

Hämmer und Hammerhaftes. Von der Duplizität des Menschen, vom Wesen des Theaters, von der deutschen Spaßgesellschaft, von der deutschen Ernstgesellschaft, Familie im Unluststaat, die katholische Kirche und ihre Sünden, Famille en France, Fun (deutsch!) in der Zukunft, ZEN über Norddeutschland, Behinderten-Katastrophenkomödie ebenfalls aus Deutschland, Gebot der Perfektion in der Steilwand. Weniger hammerhaft: ein deutsches Mutterthema und ein deutsches Rachethema. Auf DVD eine Filmtrouvaille aus Australien. Und auf arte abrufbar ein bemerkenswerter Venedig-Film.

Kino
WIR
Dem eigenen Monster aus der Schattenwelt begegnen und mit ihm kämpfen.

VORHANG AUF FÜR CYRANO – EDMOND
Das ist nicht nur die Geschichte der Geburt eines berühmten Theaterstückes – hierbei offenbart sich das Wesen des Theaters.

WINTERMÄRCHEN
Spekulatives über das, was der NSU-Prozess nicht an den Tag bringen konnte.

SCALA ADIEU – VON WINDELN VERWEHT
Hier gehts um Moneten, ein Kino mehr oder weniger ist echt egal.

OF FATHERS AND SONS – DIE KINDER DES KALIFATS
Der Hammer des Tages, der einem am schwersten auf dem Magen liegt.

LUZ
Kino als künstlerische, kirchenkritische Installation

DAS HAUS AM MEER – LA VILLA
Familie als ein Ort cineastisch unerschöpflicher Ergiebigkeit – noch dazu am Meer!

IRON SKY – THE COMING RACE
Lustvolle Fortsetzung eines SciFi-Studentenulkes.

NORDDEUTSCHLAND BEI NACHT
Zuschauen, Entspannen, Nachdenken bei ruhigem Nachtflug und unaufgeregten Gesprächen.

DIE GOLDFISCHE
Die Jagd nach dem Geld und wenn Blinde am Steuer sitzen.

FREE SOLO
So wie das Freeclimbing Nerven braucht, braucht es welche für das Schauen dieses fachspezifischen Filmes. Ein Beispiel für misslungene Oscar-Vergabe.

FRAU MUTTER TIER
Deutscher, subventionierter Allgemeinplatz-Themenfilm (Futterplatz für Subventionsmütter?).

DAS SCHÖNSTE PAAR
Deutsch subventionierter Themenfilm: zur Polizei gehen oder Rache üben nach Vergewaltigung?

DVD
QUIGLEY DER AUSTRALIER
Braucht keine externen Berater.

TV im Internet
VENEZIANISCHE FREUNDSCHAFT – IO SONO LI
So poetisch und anrührend dürfte das Thema Ausbeutung kaum je auf die Leinwand gefunden haben.

Das schönste Paar

Düsteres Mallorca.

Hütet Euch vor Mallorca, will uns dieser Film von Sven Taddicken (12 Meter ohne Kopf, Gleissendes Glück) erzählen, dort ist es zappeduster und junge Paare werden von zahmen, jungen Burschen aus Deutschland in ihren Ferienwohnungen überfallen und die Frau vergewaltigt.

Wie Sven Taddicken letzteres erzählt, da fangen schon meine heftigen Schmerzen mit diesem Film an. Seine beiden Protagonisten Malte und Liv (Maximilian Brückner und Luise Heyer) lieben sich am finsteren, zerklüfteten Strand von Mallorca. Sie sollen laut Titel dieses „schönste Paar“ sein, was im Kino gleichbedeutend sein dürfte mit dem Begriff „Traumpaar“.

Erste Magenschmerzen stellen sich ein: die beiden ein Kinotraumpaar? Für diesen Anspruch hat die Casterin Simone Baer so ziemlich daneben gelangt: Maximilian Brückner ist zu bodenständig und Luise Heyer zu maskenhaft undurchlässig; im Hinblick auf den Begriff „Traumpaar“ eine eher kuriose Zusammenstellung, zu schweigen von der nicht vorhandenen Chemie.

Trotz fast Lichtlosigkeit auf der Leinwand werden sie bei ihrem Liebesspiel am Meer von drei grünen Jungs beobachtet. Die wissen offenbar auch, wo die beiden einquartiert sind, und dringen vor deren Rückehr in die Wohnung ein.

Das Paar kehrt heim, die gänsebrüstigen Jüngelchen stehen da, ziemlich hilflos, aber die beiden Protagonisten müssen Ernstfall spielen und (deutsche Drehbuchkrankheit!) fragen, was los sei.

Die Reaktion von Maximilian Brückner ist vollkommen unlogisch, er der Bodenständige (später wird man noch erfahren, dass er boxt), er könnte die Bürschen mit drei Handkantenschlägen erledigen; aber wie eine Memme rückt er sofort Geld und Handys heraus. Das ist nicht nachvollziehbar. Das ist ein kapitaler Besetzungsfehler, dem Brückner solche Bürschen gegenüber zu stellen. Die Jungs werden von Taddicken auch gar nicht erst als gefährlich inszeniert. Obwohl, das könnte das Kino alleweil schaffen, Harmlose als brandgefährlich erscheinen zu lassen; wenn wer oder was die Möglichkeit hat, dann das Kino. Aber Sven Taddicken hat diese Möglichkeit nicht genutzt.

Später wird sich herausstellen, warum die Szene offenbar weder Fernsehredakteure, noch Casterin noch irgendwen sonst ernsthaft interessiert hat. Weil es sich nämlich um einen fernsehsubventionierten, deutschen Themenfilm handelt. Darin soll das Thema Rache behandelt werden. So kann die Exposition ruhig papieren bleiben. Es geht ja nur darum, dem Zuschauer bekannt zu geben, dass auf Mallorca eine Vergewaltigung einer verheirateten Lehrerin passiert ist und dass sie und ihr Mann, der dabei zusehen musste und der auch Lehrer ist, es nicht für nötig halten, weder um Hilfe zu schreien noch die Polizei zu holen. Sie sind sozusagen sofort einverstanden, dass an ihnen ein Verbrechen begangen wird. Für diese überflüssig lange Info wird gleich zu Beginn die Glaubwürdigkeit des Filmes aufs Spiel gesetzt und mit voller Energie verloren.

Nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nimmt das Lehrerehepaar psychiatrische Hilfe in Anspruch. Malte überwindet das Problem schnell, Liv braucht ein paar Sitzungen mehr. Sie vergibt dem (unbekannten) Übeltäter, hat daraufhin sogar einen süßen Traum vom bleichen Bürschchen. Vielleicht hat ihr die Vergewaltigung ja sogar gefallen, so harmlos wie die Jungs dargestellt werden.

All diesen Vorlauf braucht der Film allerdings, um überhaupt zu seinem Thema zu kommen: Vergeben oder rächen?

Denn Malte läuft Sascha in seiner Stadt wieder über den Weg. Jetzt wird er zum Selbstjustizler oder er wird zumindest auf diese Schiene gesetzt. Er verfolgt den Täter, findet heraus wie und wo er wohnt. Er dringt in dessen Wohnung ein. Klar, Wohnungen von Bösewichten schauen desolat aus, das vermittelt der Film seinem avisierten Fernsehpublikum. Und dass Malte die Tür eintritt, hat weiter keine Folgen. Das kann man in Deutschland einfach so machen, wenn keiner da ist.

Von dieser ersten Wiederbegegnung von Täter und Opfer an dominiert im Film das Bedröppelte. Sie spielen es ja nicht schlecht, diese Gefühlszustände. Nur fragt man sich, wozu? So bieder wie das Paar besetzt und charakterisiert ist, so unwahrscheinlich ist seine Handlungsweise. So schafft es das Fernsehen über das Kino, selbst einen talentierten Darsteller wie Maximilian Brückner, als nicht nachvollziehbar in seine Schranken zu weisen.

Taddicken hätte vielleicht vorher die norwegische Selbstjustizgeschichte Einer nach dem anderen studieren sollen
(die aktuell als Hard Powder als amerikanisches Remake im Kino läuft). Wie die ursprüngliche Tat, die den Hass und die Rachegelüste im Biedermann auslöst, gar nicht erst gezeigt wird, wie keine kostbare Filmzeit mit unnötigen Schilderungen vergeudet wird, wie nicht einmal die Frage, was denn hier los sei, vorkommt. Das ist aber hier passiert. Weshalb das Rachethema unschlüssig in der Luft hängen bleibt.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Wintermärchen

Spaßgesellschaft. (Nationales Thema)

Es geht um ein nationales Thema. Aber der Film von Jan Bonny, der mit Jan Eichberg auch das Drehbuch geschrieben hat, ist keiner von diesen typischen, vielfältig geförderten deutschen Themenfilmen. Er passt nicht in die Kategorie ‚Subventions- und Förderprodukt‘.

Im Gegensatz zu anderen Filmen zum NSU wie Der NSU-Komplex, 6 Jahre 7 Monate und 16 Tage – die Morde der NSU, Fatih Akins Aus dem Nichts und Der Kuaför aus der Keupstrasse versucht Bonny sich in die Welt der Täter zu versetzen, in das Innenleben der Gruppe. Darüber konnte der mehrjährige Gerichts-Prozess in München wenig in Erfahrung bringen, zwei der Täter waren tot und die überlebende Frau hat sich praktisch nicht geäußert.

Insofern ist der Film eine Spekulation, eine Fantasie, die sich nicht um political Correctness oder Bedröppelung schert und die Freiheit des Kinos ausreizt. Mit dem Thema beschäftigen muss sich das Land auch weiterhin. Dies ist ein Beitrag dazu.

Tommi (Thomas Schubert), Becky (Ricarda Seifried) und Maik (Jean-Luc Bubert) sind in den Untergrund abgetaucht. Sie wohnen in einer minimal eingerichteten Mietskasernenwohnung, Matratzen auf dem Boden und ein paar Sitzgelegenheiten, Küche zwar eingerichtet, Kühlschrank kaum mit Inhalt.

Sie wollen im Grunde genommen nur ein bisschen Spaß haben. Sie ficken, sie schreien sich an (mit der Zeit wirkt sich das Untergrundleben auf so eine kleine Gruppe nervend aus, Knatsch, Schreiereien, Wohnung abfackeln), sie üben im Wald das Schießen, sie gehen in Kneipen oder auf einen provinziellen Maskenball, saufen, grölen, tanzen.

Tommy ist eine Gefahr für die Gruppe insofern, als er verführbar ist, sowohl am Süßwarenregal im Supermarkt als auch von anderen Menschen und ein Gitarrenklimperer ist er noch dazu. Wie es zwischen ihm und Becka mit dem Sex nicht mehr so flott funktioniert, spricht er andere Frauen – und auch Jungs – an. Er holt sich aber auch Abfuhren. Später entwickelt er heftige Gefühle zu Maik, einem Energiebündel, für den es offenbar nicht so eine Rolle spielt, ob er mit Beka fickt oder mit Tommy.

Die Schauspieler hängen sich rein, gehen an ihre Grenzen. Ein exzellenter Cast (Susanne Ritter). Sie trauen sich ins Extrem weit über den subventionierten Film hinaus.

Märchen in Deutschland sind schlechte Märchen. Das Sommermärchen war ein Fußballmärchen und seine Grundlage war Bestechung. Dieses Wintermärchen vereinigt Menschen, die zwar von Regeln reden, die sie hätten, aber sie kennen keine Grenzen; ab und an erschießen sie Menschen. Die Gruppe gerät in die Krise. Es gibt wüste Auseinandersetzungen. Das verdichtet sich zu einem intensiven Kino, das auf jede Belehrung, auf Erzieherisches, Besserwisserisches oder Aufklärerisches verzichtet. Es fantasiert sich einen Teil deutscher Gegenwartswelt zusammen. Und dürfte mit dem Motto der Spaßgesellschaft weit mehr als nur den Nerv des Rechtsterrorismus getroffen haben.

Wir

Der Mensch und sein Double.

Von Antonin Arthaud gibt es den Begriff „Das Theater und sein Double“; von ihm stammt auch die Idee des Theaters der Grausamkeit.

Grausam geht es auch zu in Jordan Peeles zweitem Film nach seinem aufsehenerregenden Erstling Get Out. Schon dies war ein herber Horrorfilm.

Jetzt packt Peele noch ein paar Scheite drauf. Von Einzelfällen geht er jetzt auf fundamental Menschliches. Die fundamentale Dualität.

Die Basisinfo, die er anfangs liefert, ist die über eine der längsten Menschenketten (Solidarität der Menschen) in den USA und ebenfalls darüber, dass die USA unterhöhlt seien mit Gängen von U-Bahn-Bauten, Kanalisation und anderem, von dem nicht recht klar ist, wofür es gebaut wurde. Eine die USA umspannende Unterwelt.

Den Hauptreiz für seinen Horrorfilm bezieht Peele daraus, dass er die Geschichte von Adelaide Wilson (Lupita Nyong’o) sorgfältig erdet. Und damit enorme Glaubwürdigkeit und daraus Spannung erzeugt.

Er fängt vor 30 Jahren in Santa Cruz, Kalifornien an. Das liegt an einer Bay, ist aber auch nicht weit vom Meer entfernt, eine Differenzierung, die noch wichtig wird.

Mit irrer Lust an Kameraperspektiven und überraschenden Blickwinkeln, die immer eine Idee von der Langweilenormalität sich unterscheiden, schildert er den Familienausflug von Adelaide als kleinem Mädchen. Es verläuft sich auf dem Rummelplatz, gerät in ein Spiegellabyrinth, ist vielleicht eine Viertelstunde von der Familie entfernt. Hat ein einschneidendes Erlebnis.

30 Jahre später ist sie verheiratet mit Gabe Wilson (Winston Duke), hat die beiden entzückenden Kinder Zora (Shahadi Wright Joseph) und den kleineren Jason (Evan Alex). Ein ganz normale Familie, die auf dem Weg in den Urlaub ist.

Nur dass die Mutter ein posttraumatisches Syndrom zu verarbeiten hat. Dieses wird geweckt schon mit der Nennung des Urlaubsortes Santa Cruz. Hier treffen sie am Strand die befreundete Familie Tyler mit Josh (Tim Heidecker), Kitty (Cali Sheldon), die zwei heranwachsende Mädchen haben. Wie geerdet Peele die Familien vorstellt zeigt ein kleiner Smalltalk im Liegestuhl der beiden Frauen, denn Kitty sieht noch exakt aus wie im letzten Jahr, triumphierend erzählt sie, dass ein klitzekleiner Schnitt in die Wange das möglich gemacht habe. Amerikanischer Alltag.

Wie bei schönstem Wetter erste kleine Wölkchen den Umschwung anzeigen, so gibt es erste, kleine, alarmierende Ereignisse. Der Bub Jason entfernt sich von den Müttern in ihren Liegestühlen, er behauptet, Pipi machen zu müssen. Aber er hat eine die Mutter erschütternde Begegnung; sie wird erst später über eine Zeichnung davon erfahren.

Wie gut geerdet Peele seine Geschichte einfädelt, zeigt ein kleiner Dialog im Familienauto: Jason benutzt den Begriff „Anus“, statt zu fluchen. Da wäre dem Vater doch lieber, er würde fluchen, obwohl das bei Tylers nicht gern gesehen ist.

In der ersten Nacht in Santa Cruz folgt der Umschwung, tauchen die Doubles auf, alle in roten Kleidern, bedrohen die Originale – oder die Marionetten? Die Kämpfe werden hart und zäh, nie aber unübersichtlich. Sie weiten sich aus.

Auch die Tylers werden von Doubles heimgesucht. Diese stechen am liebsten mit Scheren auf die Originale ein. Und sie weiten sich weiter aus und aus, ergreifen die ganze Welt. Und immer noch eine Volte und noch eine. Ein Repetitiv-Alptraum, der nicht zu stoppen ist. Wobei Familie Wilson zwischendrin genüsslich Killer-Bilanz zieht.

Peele gehen die Bilder und Umschwünge nicht aus, immer bleibt es spannend, nachdem kurz bei den Tylers der Eindruck entstand, die Chose würde sich verselbständigen. Aber diese Wendungen und Fluchten und Kämpfe und Echos aus der Vergangenheit, die braucht so ein Film, damit er das wird, was er geworden ist: herausragend aus den tiefen – archaischen? – Tiefen der Duplizität des Menschen erzählend. Und von den Versuchen des Menschen, gegen die Einsamkeit ein Wir-Gefühl zu entwickeln, ein Solidaritätsgefühl bis hin zum Menschenkettengefühl über die Hügel.

Einmal kommt auch der Begriff „umbrae“ für die Monster vor: die Schattenwelt. Auch das geht weit in menschliche Mythologien zurück, die Schattenmonster. Oder wenn der Mensch dem eigenen Monster begegnet.

Was Peele nicht daran hindert, „Good Vibrations“ von den Beach Boys aufzulegen. Es fibriert zwischen Mensch und Schatten. Oder die Differenz zwischen Bildung und Missbildung. Das Material, aus dem Geschichten werden, ist in diesem Falle recht untergründig.

Quigley der Australier (DVD)

Tom Selleck spielt Matthew Quigley, einen berühmten Scharfschützen. Er ist ein Mann, der keine Berater braucht (wie heutzutage die Intendanten der ARD, wenn sie den demokratischen Grundauftrag den Beitragszahlern erläutern wollen). Mit seinen glasklaren Augen sieht er selbst, was Sache ist und entscheidet seine Handlungen.

Quigley wird für einen lukrativen Auftag nach Australien gebucht. Er soll für den Großgrundbesitzer Elliott Marston (Alan Rickman – in der exzellenten deutschen Version von Hans-Peter Hallwachs gesprochen) Dingos jagen.

Nach kurzer Vorstellung kommt Quigley in Australien an in diesem Film von 1990 von Simon Wincer nach dem Drehbuch von John Hill. Schon beim Gedrängel beim Verlassen des Schiffes zeigt Quigley, dass er sich durchsetzt, dass er Rüpelhaftigkeit nicht duldet und eingreift. Auf dem Kai bekommt er es mit der verrückten Crazy Cora (Laura San Giacomo) zu tun, die sich ihm an die Brust wirft und ihn für Roy hält. Dies ist der Anfang einer nicht unverrückten Liebesgeschichte und wird durch den Film hindurchgehen, immer auch mit der nötigen Portion Humor versehen.

Seine Scharfschützenkünste präsentiert Quigley gleich nach Ankunft auf der Farm auf Marstons Verlangen. Die sind stupend. Sein Gewehr ist eine Spezialanfertigung.

Die Exposition der Geschichte und der Figuren endet damit, dass Quigley klar wird, dass sein Job nicht die Jagd auf Dingos sein soll, sondern diejenige auf Aborigines und Deserteure der (operettenhaften) Regierungsarmee. Auch hier braucht er keinen Berater, um zu entscheiden, dass er das nicht mitmacht.

Das lässt sich der herrschsüchtige Marston nicht gefallen. Es folgt der Tiefpunkt für den Helden. Er wird in der Weite Australiens gefesselt ausgesetzt mit kaum Überlebenschance. Ebenfalls gefesselt neben ihm: Crazy Cora.

So entwickeln sich einerseits Drama, andererseits Liebesgechichte und dazu auch noch ein Erzählfaden mit den Aborigines in erzählökonomisch hervorragender Art und vor allem ist klar, Quigley will sich nur zurechtbuddeln, er ist nicht der Rächertyp oder gar ein Selbstjustizler, resp. seine Nerven müssen lange strapaziert werden, bis er sich entscheidet, Marston auf seinem Landsitz herauszufordern und für den finalen Countdown zu sorgen, wobei er auch hier nicht wild jeden erschießt, der ihm in die Quere kommt.

Der Film ist eine wunderbar doppelte Reise in die Vergangenheit: in die Siedlerzeit in Australien und in der Kinogeschichte immerhin 30 Jahre zurück in eine großartige Panavisions-Welt.

Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats

Aus den Innereien der Nusra.

Kulturschock. Grenzüberschreitung.

Zwei Jahre lang konnte Talal Derki mit seinem Kameramm Kahtan Hasson beim Clan-Chef Abu Osama der Nusra-Brigaden im salafistischen Nordwesten Syriens filmen. Sie haben sich als Kriegsreporter ausgegeben.

Herausgekommen ist ein Bild, das sprachlos macht.

Eine Welt, in der es zwar nach einem Bombenangriff kokelnde Bücher gibt, in der sich alles nur um den Propheten und das ihm wunschgemäße Leben, um die Ungläubigen, den grandiosen Erfolg von 9/11, das Bauen von Bomben, das Entschärfen von Minen, das Abschießen von Feinden aus dem Hinterhalt, das Militärcamp für Kinder und das Märtyrertum dreht.

Frauen kommen im Film kaum vor. Sie durften vermutlich auch nicht gefilmt werden. Sie sind Wesen niedrigerer Klasse. Die Buben werfen mit Steinen nach den Mädchen und vertreiben sie. Eine reine Männer- und Bubengesellschaft. Die Buben altern früh.

Der Protagonist ist Abu Osama, der mit zwei Frauen eine eigene kleine Armee an Buben gezeugt hat. Diese bekommt man zu Gesicht und noch vor der Pubertät werden sie ins Militärcamp geschickt. Abu Osama bedauert es, dass der eine Sohn noch nicht stark genug ist und stattdessen in die Schule geht, wo es immerhin noch anderes als nur Korantexte zu lesen gibt. Aber schon bei seinem Jüngsten, der gerade mal zwei Jahre alt ist, fängt er mit der religiösen Indoktrination an. Abu Osama hat seine Kinder nach den Helden des Terrors genannt.

Man möchte lieber nicht wissen, was mit den Gefangenen aus den Regierungstruppen passiert, die einmal zu sehen sind und in einem Hof zusammengetrieben werden und Gott laut loben müssen. Es ist zu vermuten, dass Derki, um den Film halbwegs erträglich zu machen, nicht alles zeigt, was er zu sehen bekommen hat. Es kursieren im Internet eh schon genügend Gräueltaten. Es geht hier um Kriege, die nicht zu gewinnen sind.

Guter Rat ist teuer, wenn es ihn überhaupt gibt. Irgendwoher müssen aber die Waffen, die Handys, die Munition kommen.

Schwer nachvollziehbare Horizontverengungen bei fanatischer Feindbildpflege.