Kommentar zu den Reviews vom 7. März 2019

1 mal europäisches, 1 mal amerikanisches Kino hors classe, 2 mal erstklassiges, hochpolitisches amerikanisches Kino, einmal ordentlich amerikanisch geblockbustert, einmal beachtliches deutsches EU-Kino, viermal deutsches Förderkino und dann noch ein Film in 3D und aus Österreich. Und eine schöne Hexen-DVD.

Kino
THE SISTERS BROTHERS
Ein Ritt durch den wilden Westen, ein Ritt durch wilde, verlorene Seelen.

MID90S
Ernst und Risiko des Coming of Age im ausgehenden 2. Jahrtausend.

BEALE STREET
Krachende Ungerechtigkeit aus subtiler Nähe betrachtet.

DIE BERUFUNG
Ein Markstein auf dem Weg zur Gleichberechtigung.

CAPTAIN MARVEL
ist eine Frau. Die Grenzen des Alltags sprengen, den Übermenschen testen.

A YOUNG MAN WITH HIGH POTENTIAL
Piet reflektiert mit hohem Moralanspruch die Spurenhaftigkeit im Internet.

RATE YOUR DATE
Mit anthropologischen Attributen zum engen Dating-Fokus.

GERMANIA
Jetzt müssen die Studentenverbindungen schon PR machen.

KIRSCHBLÜTEN & DÄMONEN
Der Film beweist, dass die Drehbuchkultur in Deutschland am Boden liegt. Drehbuchprofessorinnen sind kein Heilmittel.

VOM LOKFÜHRER, DER DIE LIEBE SUCHTE
Einfältiges, armutromantisierendes Entwicklungskino aus Georgien – oder auch: BH-Kino.

THE BIG JUMP
Hier hebt 3D das Unästhetische hervor.

DVD
WILDHEXE
Wenn ein Mädchen von der Hexe angesprungen wird, so kann es was erleben.

Captain Marvel

Auf dem Boden von Tatsachen

macht Marvels unverwüstlich begeisterte Ausweitung des Menschen zum Helden und Übermenschen, der die Dimensionen von Zeit und Raum überschreitet und durchpflügt, Sinn.

Die Hauptheldin in diesem Sequel der Marvelstudios heißt Carol Danvers (Brie Larson); als Captain Marvel ist sie auf waghalsiger Mission im Universum und an dessen Grenzen, ja bis zu Planet 53, Terra, wie die Erde, ein „Shithome“ sei das; dort hat Captain Marvel vor Jahren einen Crash hingelegt.

Die irdisch alltägliche Andockposition ist die Familie oder das Büro. Diese Grenzen werden gesprengt durch das Universum der Kree, das wiederum infiziert ist von Spionen der Skrull, einer außeriridschen Spezies, die sich aber transformieren kann, beliebter Kinoeffekt.

Zum Boden der Tatsachen gehört auch eine Katze, die ihre das Publikum bestens unterhaltenden Spiele treibt und ganz weit nach Ende des Abspannes noch die Schlusspointe setzen wird. Tiere, Kinder, Idioten, daneben fühlen sich Schauspieler machtlos.

Man soll bei diesen Marvel-Filmen nicht zu viel verraten in einer Review, um den Aficionados den Reiz des Kinobesuches nicht zu verderben.

Wer aber sind die wahren Fans? Einen Hinweis könnte schon die Pressevorführung geben. Es sind Männer um die 35, die keinen Zweifel an ihrem Mannsein haben, die gerne einen Bart tragen, nicht besonders schlank sind, die sich vermutlich im irdischen Alltag nicht allzuviel bieten lassen, garantiert kein Hemd tragen, dafür T-Shirt oder Pullover, Jacken, Jeans ohne modischen Schnieck, gerne auch Brille und Baseball-Käppi. Sie haben keine Probleme mit Übermenschen-Fantasien in der Nachfolge Nietzsches, sie können Kampfsituationen Mann gegen Frau oder Mann gegen Außeriridischer in ihrem Hirn assimilieren und gouttieren. Sie trauen sich vieles mehr zu, als der Alltag ihnen abfordert. Sie können umgehen mit Metamorphosen, Hologrammen, Machtspielen und der Vertrauensfrage, den Verwirrungen der Ontologie im Marveluniversum. Sie fremdeln nicht mit Superintelligenz, sehen sich in einem sozialen Kontext und sind der Selbstironie nicht abhold („Blockbuster-Girl“, das aus der Videothek kommt). Sie mögen es abwechslungs- und actionreich, unterhaltsam und abenteuerlich und sie haben keine Probleme mit elektronischen Feuerstümpfen anstelle von Händen. Sie lieben es, Alltagssituationen aus dem Blickwinkel des Universums zu betrachten und können ein Nippes von entzückendem Blechkästchen in einen universellen Zusammenhang stellen genauso wie eine Katze.

Und Annette Bening spielt auch mit, die wir schon in beeindruckenden Rollen gesehen haben.

Vom Lokführer, der die Liebe suchte

Die einzig interssante Frage an diesem kindischen, zerfallsromantisierenden Werk ist, wie Veit Helmer, der Autor, Regisseur und Produzent, es schafft, sich an die Zitzen von Filmförderern und Fernsehredaktionen anzuwanzen und daraus Gelder abzusaugen, damit er in Georgien den großen Entwicklungshelfer spielen kann, logierend im Radison und im Film Absteigen zeigend, die es so selbst in Georgien kaum mehr geben dürfte.

Hat Helmer den verantwortlichen Förderern und Zwangsgebührentreuhändern (die im an sich schönen Presseheft nicht einmal erwähnt werden) etwas in den Tee getan bei der Besprechung, was sie umnebelt und outgeknockt hat, wie er es in seinem Film tut, um seinem Hauptdarsteller Predra „Miki“ Manojlovic als Lokführer Nurlan in einem Brustuntersuchungsbus lüstlingshaft Brüste zu sehen?

Helmer muss ein Gscheithaferl von Dampfplauderer sein, dass er mit so einem Film, in dem aus Angst vor Sprachregie nur Stumme mitspielen, die hin und wieder einen Befehls- oder einen Zustimmungslaut knurrend von sich geben, an Förder- und Fernsehgelder kommt. (Es scheint sich hierbei um Entscheidung aus reiner Bequemlichkeit zu handeln, um keine Sprachregie führen zu müssen und auch, um eine Vereinfachung der Montage zu erreichen).

Oder sind die entsprechenden Förderer und Fernsehredakteure präsenile Sabbergreise, die man mit ein paar voluminösen, bestickten BHs in traditioneller Form, wohlbusig, den Verstand verlieren lässt?

Mit ausführlich-ausdauernder BH-Wäsche fängt der Film an. Für Bildertrödler folgen ein paar schöne, armuts-, wüsten- und eisenbahnostalgische Bilder in der Art vergilbten Postkartenkitsches.

Der Junge, der pfeifend vor der Eisenbahn herläuft, die durch ein Wohngebiet fährt und dessen Gleise die Bewohner die meiste Zeit privat und geschäftlich nutzen. Sie müssen diese für die Durchfahrt räumen.

Armutskitischig, wie der Junge in einer Hundehütte wohnt. Aber Georgien scheint nicht mehr so unterentwickelt zu sein, wie Helmer es darstellen möchte. Es gibt Bahnstrecken, die sind auf der Gleisebene vollkommen verrrottet, aber darüber sind sie modernstens elektrifiziert.

Die Farbgebung ist patinaschmierig, immer im Einklang, immer mit diesem Hauch von Vergänglichkeit. Der Lokführer ist ein romantisch Einsamer. Wohnt in einer malerischen Steinhütte hoch oben im baumloser Gegend – der Fotoidylle von Herrn Helmer wegen, sicher nicht aus lebenspraktischen oder filmimmanenten Gründen.

Das ist wieder so ein Film, den sich im Kino kein Freiwilliger anschauen dürfte, bei dem der Förderapparat sozusagen geneppt wurde.

Als Kurzfilm für die dialoglose Kameraübung eines Studenten, der keine Filmideen hat, dürfte es gerade noch für ein Budget von vielleicht 300 Euro durchgehen.

Vielleicht hat Helmer seine Geldegeber auch mit dem Argument vereinnahmt, er würde einen Kontext herstellen zwischen Maschinen und Musik – mindestens gibt es davon ein paar nicht besonders originelle Versuche.

Und die Story? Ein BH von einem Wäscheseil, das nicht rechtzeitig vor der Zugdurchfahrt entfernt wurde, bleibt an der Lok hängen und verdreht dem alleinlebenden Lokführer den Kopf. Er sucht nun, höchst extensiv erzählt, die Besitzerin. Die chronische Saitenzupferei auf der Tonspur behauptet doch glatt, es gehe hier alles nicht so ernst und mit leichter Hand zu – Tonspur mit einem gestörten Verhältnis zur Wahrheit.

The Sisters Brothers

Die Brüder Eli (John C. Reilly) und Charlie (Joaquin Phoenix) Sisters sind als Killer für den Commodore (Rutger Hauer – viel ist er nicht zu sehen in dem Film, er spielt die antreibende Macht im Hintergrund) 1851 unterwegs in Oregon. Ihr Auftrag ist es, Hermann Kermit Warm (Riz Ahmed) zu töten wegen Geldschulden.

Den Kontakt zu Warm soll Morris (Jake Gyllenhaal) herstellen. Es geht darum, in den Besitz von Warms Rezept zur einfachen Goldgewinnung zu kommen. So weit so schlicht, so westernhaft geradeaus.

Regisseur Jacques Audiard, der mit Thomas Bidegain auch das Drehbuch nach dem Buch von Patrick DeWitt geschrieben hat, kann sich nicht damit abfinden, diesen Stoff rudimentär mit Pappfiguren zu verfilmen. Deshalb entsteht diese spezielle Qualität, die einen zwei Stunden in eine andere Welt entführt.

Jacques Audiard setzt mit diesem Western noch eins drauf auf seine Vorgängerfilme: Ein Prophet, Der Geschmack von Rost und Knochen, Dämonen und Wunder – Dheepan.

Er dreht den Film in Europa. Das gibt schon mal eine ganz besondere, fast nüchterne Atmosphäre. Er wählt sorgfältig seine Schauspieler aus. Sorgfalt auch in der Befassung mit den einzelnen Situationen, individuell und gegen jedes Westernklischee.

Warm ist ein wissenschaftlicher Träumer von einer idealen Welt und Gesellschaft. Er hat eine Methode entwickelt, wie ganz leicht Gold zu schürfen ist (der reale Akt später im Film wird sich zu einem unerwartet dramatischen Höhepunkt entwickeln, wenn wie aus dem Nichts die Gier im Menschen erwacht). Er beurteilt Menschen nicht, ob sie lächeln, sondern ob sie auch noch lächeln, wenn man an ihnen vorbeigegangen ist. Deshalb gefällt ihm Morris, der auf ihn angesetzt ist. Deshalb ist auch die Entwicklung dieser Beziehung nicht planbar, nicht voraussehbar.

Morris wiederum ist ein reflektierter Menschen, ein Poet fast, der Tagebuch führt, ein Beobachter, weit entfernt vom Bild eines Westernhelden. Das sind aber auch die beiden Brüder mit dem Familiennamen Sister nicht. Mei, die machen halt ihren Job. Sie sind auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden. Einer hat den Vater umgebracht und der andere hat es nur deshalb nicht getan, weil der eine schneller war. Die Mutter will nichts mehr wissen von den Söhnen. Auch sie sind weit entfernt vom Bild von Westernhelden, nicht eimal besonders malerisch, eine filmisch höchst ungewöhnliche Paarung. Mit versteckten Sehnsüchten und Empfindungen, wie eine Szene zwischen Eli und einer Nutte zeigt. Oder die Geschichte mit der Zahnbürste und dem Zähneputzen. Wie ein in einen Teppich eingewirkter Goldfaden wirkt sie und bereichert den Film um eine wunderbare Farbe.

Audiard lässt sich Zeit für seine Figuren und kommt dabei ganz beiläufig auf tiefere Schichten, erschließt die Menschen als Menschen mit einer Geschichte, mit einem Schicksal innerhalb dessen sie agieren. So ermöglicht er immer wieder unerwartete Wendungen, wobei nichtsdestotrotz Leichen den Weg der beiden Brüder pflastern.

Das macht den Film so groß, dass er anhand von kleinen Dingen die Geschichte von zwei Menschen erzählt, die eine brutalen Job haben und von zwei Menschen, die einen weniger blutigen Job haben.

Mid90s

Stevie (Sunny Suljic) steht an der Schwelle zur Pubertät. Der Dreizehnjährige ist ein schwarzlockiger, verschmitzt grinsender Bub, könnte ein Unschuldsengel sein. Ist es noch am Anfang des Filmes.

Sein Bruder Ian (Lucas Hedges) feiert gerade den 18. Geburtstag. Er wird in Erinnerung bleiben als der Einsame, der keine Freunde und keine Freundin hat. Mutter Dabney (Katherine Waterston) lebt allein mit den beiden Söhnen. Den älteren hat sie mit 18 bekommen. Sie hat eine Vorgeschichte, die sie abgelegt hat, Rumhängen, Alkohol, Drogen.

Faszinierend an diesem Film von Jonah Hill ist, wie Stevie offenbar ohne es zu wissen oder sich dessen bewusst zu sein, sich just in das Milieu hineinziehen lässt, von dem die Mutter sich längst distanziert hat. Es sind seine etwas älteren Rumhängfreunde Ray (Na-kel Smith), Fuckshit (Olan Prenatt), Ruben (Gio Galicia) und Fourth Grade (Ryder McLaughlin) – die Ghetto-Freunde. Ein Skateboard-Laden, ein verbotener, vergitterter Spielplatz und ein öffentlicher Platz mit einer Konzertmuschel sind ihre Aufenthaltsräume.

Mutter weiß erst nichts von braven Stevies neuem Umgang. Der Sog des bevorstehenden Erwachsenenlebens, des Abschieds von der Kindheit, der kommt mächtig über den Jungen. Erste Zigarette, nicht Danke sagen für eine neues Skateboard, riskante Mutübungen, Drogen schlucken, der erste Kuss mit Estee (Alexa Demie), die Grenzen austesten.

Diese Grenzen sind oft nah am Unfall, am Crash oder überschreiten diese Grenze sogar. Denn der erwachsen werdende Mensch kennt diese Grenze noch gar nicht. Unfall und Crash führen zu neuem Bewusstsein auch vom Stellenwert der Freundschaft.

Der älsteste der Gruppe, Fourth Grade, der sich nicht mal Socken leisten kann, filmt immer wieder die Ghetto-Freunde. Der Titel dieses explosiven Zusammenschnittes, dieses filmischen Selbstportraits aus dieser extremen Lebensphase ist „Mid90s“, was auf den Zeitpunkt dieses Coming-of-Age hinweist.

Auf den Zeitraum der Filmhandlung weist auch die vielfältig montierte Tonspur hin.

Jonah Hill besticht mit seinem Film durch Einfachheit, auch mit dem fast quadratischen Bildformat. Er ist auf die Vorgänge fokussiert, rafft sie erzählerisch, lässt die Jungs schauspielerisch glänzen, verzichtet ganz auf illustrierende, erklärende Zutaten oder Nebengeschichten. Er lässt die Jungs mit dem glaubwürdigen Ernst spielen, den so eine einmalige Herausforderung im Leben wie die Pubertät zu ihrer Bewältigung erfordert.

Kirschblüten und Dämonen

Ganz erfrischend

schreibt Doris Dörrie, die diesen Film vielseitig gefördert gemacht hat, im Presseheft über ihre Japan-Erlebnisse, ihre Japanbegeisterung. Prosa schreiben, das kann sie.

Auch zeugt das Pressheft davon, dass sie sehr überzeugt ist von ihrem Film: „Ich möchte durch große Nähe die innere Wahrheit der Figuren erforschen …. Dadurch bekommt diese Geschichte etwas Schillerndes, Abgründiges und rührt an sehr tiefe Gefühle, die wir alle kennen: die Angst unserer eigenen Identität nicht zu genügen, uns selbst nicht wirklich gefunden zu haben. …Gleichzeitig, wie in allen meinen Filmen, entbehrt das nicht der Komik und die radikale Wendung von Karl hat, … absurde und komödiantische Züge. Eine tieftraurige Komödie also – ganz wie das Leben“.

Wozu sollen Kritiker den Film noch anschauen, wenn die Regisseurin sich selbst schon so ein Kränzchen windet? Und wozu sollen sie darüber schreiben, wenn sie das alles allenfalls schemenhaft erkennen konnten.

Weiter kennt Doerries‘ Selbstzelebrierung keine Grenzen, sie schreibt, sie habe einige Tage in einem Hotelzimmer geschrieben, in dem Ozu schon gearbeitet habe und im Film selber zitiert sie ein Lied aus einem Film von Kurosawa – alles ganz große Weihrauchlage. Und Billy Wilder hatte sie gesehen und war begeistert.

Aber dummerweise gibt es jetzt diesen neuen Film von ihr. Und der will so gar nicht zu ihrer Selbstdarstellung und Selbstwahrnehmung passen. Es mag angehen, dass sie Drehbuchprofessorin ist. Pestalozzi war ein grandioser Pädagogiktheoretiker, hat aber bei der Erziehung seiner eigenen Kindern grauenhaft versagt. Und weil sie Ozu und Kurosawa und Billy Wilder anführt, macht der Film umso schmerzlicher bewusst, dass so gar nichts davon verstanden wurde.

Begeisterung von etwas, auch von Japan, heißt noch lange nicht, es auch verstehen oder noch weniger: es plausibel mitteilen können. In ihrem Flohmarktfilm übernimmt sich Dörrie thematisch maßlos. Sie will – und das alles sind ehren- und filmenswerte Topoi und Intentionen – Japan den Deutschen näher bringen, sie will das Thema Ahnen (das Gefängnis) inklusive Gespenster- und Geisterwesen transportieren, sie will eine Familienaufstellung betreiben und sie will, das ist möglicherweise ihr erstes Interesse, das Porträt eines Mannes (Golo Euler als Karl) erstellen, der ein existentielles Identitätsproblem als Mann hat und zwar tiefergehend, also weit über die oberflächliche Differenz schwul oder hetero hinaus.

Seine Eltern haben ihn geschimpft, er sei kein Mann. Die Gespenster tauchen in seinem Geiste auf einem voralpinen Bauernhof auf. Seine Ahnen. Als Gegenmittel schickt ihm Dörrie die Geisterscheinung der Japanerin Yu (Aya Irizuki). Die ist eine Befreiungshelferin. Dank ihr läuft Karl nur noch im Kimono herum. Auch das ist Dörrie noch zu wenig Problematik. Er muss außerdem Alkoholiker sein. Zudem lässt sie ihn sein Zipfelchen verlieren und die Geschwister spielen plötzlich fürsorgliche Familie, wie er im Spital liegt.

Kurz, Frau Dörrie schafft es nicht, sich für ein Hauptproblem zu entscheiden, also die Probleme zu gewichten, und so die Voraussetzung für einen spannenden Spielfilm zu schaffen; sollte eine Drehbuchprofessorin wenigstens wissen. Dazu scheint sie aber doch zu kinounbedarft zu sein.

Stattdessen wirkt der Film mehr wie eine nette Patchworkmontage aus teils durchaus ansprechenden Bildern, mal die dazwischen geschnittenen Landschaften oder die verschwommenen Geister. Doch bereits der Anfang des Filmes ist unbeholfen, denn er stellt ein Nebenproblem, nämlich den Alk, als erstes ganz groß raus. Sie behauptet mit dieser ersten Szene: es geht um einen Trinker. Dann kommt groß die Pandamaske (der Panda Symbol des WWF) als eines von vielen weiteren Klischees, wie Schloss Neuschwanstein in der Schneekugel oder der Fujiama. Und da ist schon kein Zusammenhang mehr herstellbar.

Kritik hin oder her: Zwangsgebührentreuhänder Carlos Gerstenbauer und Harald Stenwender vom BR, Monika Lobkowicz von BR und ARTE und Barbara Häbe von ARTE waren begeistert und haben Zwangsgebührengeld für diese allenfalls netten Bild- und Themeassemblage freigegeben. Ich als Zwangsgebührenzahler fühle mich dadurch verschaukelt. Soll doch Frau Dörrie ihre versponnenen, privaten Hobbies selber und nicht aufkosten unfair erhobener Zwangsgebühren und zulasten einkommensschwacher Haushalte finanzieren – dagegen wäre nichts einzuwenden.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Germania

Vorüberlegung.
Der Mensch ist ein soziales Wesen. Er braucht soziale Kontakte. Das brauchen vor allem junge Menschen, die das familiäre Nest verlassen und die identitätshalber den Schutz in einer Gruppe suchen. Um diese konkurrieren jede Menge Vereine, Organisationen, Institutionen, Events, Modemarken und auch Kneipen. In dieser Dokumentation von Lion Bischof geht es um eine schlagende Studentenverbindung. Solche haben in unserer liberalen Freizeitgesellschaft ein eher anrüchiges Image. Dass sich jetzt die Verbindung Germania aus München für eine – deutlich eingeschränkte – Dokumentation öffnet, lässt darauf schließen, dass mit Aufkommen der sozialen Netzwerke und verbreitertem Angebot an Kontaktmöglichkeiten (in beruflicher Hinsicht über Xing beispielsweise) der Wettbewerb um die Jungs schärfer geworden ist. So versteht es sich von selbst, dass die Dokumentation im Sinne eines Tages der offenen Tür als eine Werbeveranstaltung zu sehen ist.

Der Film.
Als sanften Imagefilm, der deutlich Wert auf ein ergiebiges Kinobild legt (Fechtkämpfe und die operettenhaften Verbindungsuniformen geben allemal was her) gibt sich der Film denn auch zu erkennen; er gibt gar nicht erst vor, sich als Undercover-Recherche zu verstehen.

Lion Bischof, der Filmemacher, begleitet eine Gruppe junger Füchse, wie sie heißen, in ihrer ersten Zeit in der Verbindung. Es gibt ein einführendes Gespräch mit einem jungen brasilianischen Studenten. Die Vorzüge so einer Verbindung, die zweifellos da sind, werden erläutert. Das sind Vernetzungen weltweit einerseits und zu den verschiedensten Branchen über die Altherren andererseits. Das Versprechen ist, dass in diesem Rahmen der junge Bursche in relativ schneller Zeit zum Mann heranreife.

Der Dokumentarist durfte bei verschiedenen Sitzungen mit den jungen Füchsen dabei sein, bei Fechtübungen und Vorbereitungen für Kämpfe, bei Vorträgen mit Gegenrede, bei Vor- und Nachbesprechungen von Anlässen mit Gästen inklusive kurzer Einblicke in dieselben, beim Singen. Er hat ein paar Füchse in porträthaften Aufnahmen um Statements gebeten.

Als Höhepunkt gibt es einen Gruppenausflug nach Hamburg mit einem Schlenker zum Thema „schwul“. Hier kommt es nach dem Trunke zum Ansatz einer Ersatzbegattungsszene (alles schön in Klamotten und mit einem Schlafsack dazwischen).

Andererseits ist mein Eindruck, dass einer schon sehr einsam sein muss, um sich von dieser Art Korpsgeist, Uniformen und Trinkritualen antörnen zu lassen. Es gibt so viele, attraktivere Angebote heute, die Mutproben erfordern, vom Freeclimbing, Surfen und Drachenfliegen bis zum Rope-Swinging, extended Klippenspringen, Downhill-Skiing, Wingsuiten, Wallriding – ok, Fechten helfe auch, Angst zu überwinden -, zu schweigen von den sozialen und ehrenamtlichen Engagements aber auch Flüchtlingsbetreuung oder Entwicklungshilfe.

Je mehr ich mir das überlege, desto einleuchtender erscheint die Vermutung, dass die Verbindung Rekrutierungsprobleme haben dürfte, dass sie so einen Film überhaupt zulässt.

Die Berufung – Ihr Kampf für Gerechtigkeit

Ruth Bader Ginsberg ist die dreifache Verwirklichung des amerikanischen Traums: sie hat es bis ganz nach oben geschafft (als Richterin des obersten Gerichtes der USA), sie hat die Demokratie in Bezug auf Gleichbehandlung von Mann und Frau vorwärts gebracht und sie ist außerdem zur Pop-Ikone geworden.

Sie selbst ist die Protagonistin in der Dokumentation RBG – Ein Leben für die Gerechtigkeit. Hier beweist sie außerdem ihre Leinwandqualitäten.

Mimi Leder hat jetzt nach dem Drehbuch von Daniel Stiepleman einen entscheidenden Fall herausgepflückt, der den Anfang des Durchbruches von RBG als Anwältin brachte, und in bester Hollywood-Industrie-Norm-Manier inszeniert, quasi runtergerechnet auf den Schulgebrauch oder für die demokratische Lehrstunde.

Leder hat sich für einen Spielfilm entschieden und gar nicht erst versucht, Protagonistin Felicitas Jones auf Ruth Bader Ginsberg spielen zu lassen. Das dürfte niemandem gelingen, zu einmalig ist die Frau.

Leder hat sich wohltuend auf den Fall von Moritz konzentriert. Das ist ein Mann, der seine Mutter gepflegt hat und die Aufwendungen dafür nicht von der Steuer absetzen kann, weil das nur für weibliche Pflegekräfte vorgesehen ist.

Nach kurzem Streifen eines Teils der Vorgeschichte von RBG, wie sie abgekürzt genannt wird, versucht Mimi Leder die rein rechtlichen Argumentationen abzufedern oder aufzufangen mit dem Ausschmücken von innerfamiliären Situationen mit ihrem Mann Martin (Armie Hammer), auch er ein exzellenter Steueranwalt, und vor allem mit ihrer halbwüchsigen Tochter Jane (Callee Spaeny).

Denn die rechtlichen Argumentationen und die Diskussionen in Anwaltskanzleien und bei Richtern verzweigen sich schnell. Auch die Anhörung vor dem Obersten Gericht wird emotional ausgemalt und mit künstlichen, bewährten Spannungseffekten aufgepeppt und ausgemalt, immer in bester Hollywood-Industrie-Norm-Manier für cineastische ABC-Schützen. Von daher besehen dürfte sich der Film für den Schulunterricht eignen. Obwohl manche Backgroundinformationen im Film nicht gegeben wird, was zum Beispiel die ACLU ist.

Beale Street

Gegenwart / Sein (schwarz).

Seine eindrückliche Regiekunst hat Barry Jenkins bereits mit Moonlight bewiesen.

Jetzt greift er auf ein Drama von James Baldwin zurück, das er zum Drehbuch umgearbeitet und inszeniert hat. Ein Familien- und Justizdrama.

Die Liebe von Tish (Kiki Layne) zu Alonzo „Fonny“ (Stephan James). Die beiden kennen sich von Kindsbeinen an, waren Buddelkastenfreunde. Lange hat es gedauert, bis sie entdeckt haben, dass auch die geschlechtliche Liebe möglich wäre. Das ist der Hauptrückblendenstrang, nah, intensiv, atemberaubend. Sie wird schwanger von ihm. Verheiratet sind sie noch nicht. Da wird er von einer aus Puerto Rico stammenden Frau, Victoria Rogers (Emily Rios) als ihr Vergewaltiger identifiziert, genauer, ein Polizist drängt sie aus niedrigen (rassistischen) Beweggründen, dies zu tun.

Fonny ist chancenlos. Kommt ins Gefängnis. So weit ein für die USA mit ihrem immer noch latenten Rassimus nicht allzu ungewöhnlicher Plot.

Aber nicht der Plot, sondern die Erzählweise macht die Musik. Und die zielt ganz auf die Gegenwart der Figuren. Jenkins inszeniert so, dass der Eindruck entsteht, auch die Darsteller wüssten am Anfang einer Szene nicht, wie sie ausgeht, noch weniger der Zuschauer.

Jenkins versucht, das schwarze Sein in diesem Lande einzufangen. Er präzisiert ganz genau die jeweiligen Gefühlslagen seiner Protagonisten, er fokussiert das Bild exakt auf sie ohne unnötigen Kadragefüllraum drum herum. Es ist, als wolle er in die innersten Gefühle hineinkriechen. Er vermittelt so die Unmittelbarkeit der Existenz als Schwarzer in den USA. Er achtet mehr darauf, was in den Menschen vor sich geht, der innere Monolog bereitet den Sprechtext vor, der als solcher nicht so wichtig ist, eher Ausfluss von Situationen. Er zieht den Zuschauer zwingend hinein in diese Gefühlswelt. Widerstand zwecklos.

Wie die Mutter von Tish, Sharon (Regina King), nach Puerto Rico fliegt, um die Frau, die ihren Sohn ins Gefängnis gebracht hat, persönlich zu treffen und zu einer Revision ihrer falschen Aussage zu bewegen, bleibt Jenkins erst bei ihr im Hotelzimmer. Hier überlegt sie lange, ob sie eine Perücke tragen soll oder nicht, setzt sie auf, setzt sie wieder ab. Eine private Activity, die wie eine Übersprungshandlung wirkt, wie eine Ersatzhandlung, um die unglaubliche Spannung – es geht darum, ob ihr Sohn aus dem Gefängnis kommt oder nicht, ob ihm doch noch Recht widerfährt – abzuleiten. Vor allem wirkt das nicht gekünstelt, es wirkt zwingend, es erzählt, wie die Gefühle kämpfen, was in ihr in diesem Moment vorgeht. Es kommt bei Jenkins nicht vor, dass so eine private Activity aufgesetzt wirkt.

Der Filmemacher entwickelt eine grandiose Erzählökonomie, er nimmt in seiner Inszenierung nie schon das Folgende vorweg; als Ich-Erzählerin fungiert Tish.

A Young Man with High Potential

Fallstudie mit Horror-Bestandteilen.
Oder wie ein Computer-Nerd den Umgang mit einem Mixer lernt
.

Linus de Paoli, der mit Anna de Paoli auch das Buch entwickelt hat, wirft einen amüsant-ironischen Blick auf die Einsamkeit des Computer-Nerds und deren Nebenwirkungen.

Wie in einer Fallstudie im Reinraum (die klinisch karge Ausstattung) untersuchen sie den jungen, hochbegabten Computernerd Piet Carnell (Adam Ild Rohweder ist eine großartige Besetzung). Seine Charakterisierung lautet: Einsamkeit, Einsamkeit, Einsamkeit. Er zieht sich vollkommen auf seine Studentenbude mit wenig Tageslicht zurück. Seine menschlichen Kontakte beschränken sich aufs Internet, auch die sexuellen. Er mag den Kontakt zu Menschen nicht. Die einzigen, die er zu sehen bekommt, sind die Essensanlieferer, der Paketbote. Selbst für ein dann doch zustande kommendes Date lässt er sich eine neues Hemd und die Blumen liefern. Der Einkauf geschieht übers Internet.

Aber er ist eine Kapazität. Er ist ein Mann mit hohem Potential. Das gilt zuerst für sein Fach. Er hat ein Buch geschrieben mit dem Titel „Unsichtbare Spuren“ – das findet Beachtung bei Professoren und Kommilitonen und vor allem Kommilitoninnen. Der Titel ist zweideutig zu verstehen, wie die Handlung des Filmes zeigen wird.

Piet wird von Klara Koslowski (Paulina Galazka) richtiggehend bestürmt, wie er doch mal draußen ist, mit ihr die nächste Arbeit zu schreiben. Sie lädt ihn danach zum Abendessen ein. Er ist verklemmt, benimmt sich ungeschickt ihr gegenüber, kann direkte menschliche Regungen nicht interpretieren. Der Abend wird zum Fiasko.

Dann taucht sie doch wieder auf bei ihm. Hier läuft die Sache aus dem Ruder, mangels Erfahrung. Zum Glück hat er beim Besuch bei ihr gelernt, wie mit einem Mixer umzugehen ist.

Die Ereignisse, die folgen, erledigt er weiter in seinem Sinne, alles internetgesteuert und sie lassen die zweite Bedeutung des Titels seines Buches aufscheinen. So ganz ohne Spuren kann aber ein Mensch nicht leben. Es kommt zu einem weiteren Kontakt mit einer Frau, damit fängt der Film an, mit Ketura Stantz (Amanda Plummer). Sie wird ihm ihre Visitenkarte überlassen. Aber das ist alles nicht so ganz so, wie man auf den ersten Blick denken würde.

Der Film wurde in den EU gedreht, wie ausdrücklich vermerkt wird, und das Hohe Potential des jungen Mannes gilt just in dem Bereich nicht, wo andere sich brüsten wie Gockel.