Für das junge Rentier Ailo, das der Dokumentarfilmer Guillaume Maidatchevsky so getauft und während seines ersten Lebensjahres auf dessen Wanderung durch Lappland begleitet hat, mag diese Reise eine Odyssee sein, für die Herde, mit der es mithalten muss, eher nicht. Die Rentiere gehen seit Jahrhunderten im Verlauf des Jahres ihre Wege und moderne Straßen können sie irritieren.
Wie Ailo die Reise seines ersten Jahres empfindet? Kein Mensch kann in sein Inneres schauen – und woher will es wissen, was überhaupt eine Odyssee ist? Hat es schon Homer gelesen? Das zeigt jedenfalls die anthropozentrische Sicht auf die Tierwelt, die hier über das Tier übergestülpt wird.
Den Winter – oder im Hohen Norden – die lange Nacht der einen Jahreshälfte verbringen die Rentiere auf lichten, verschneiten Bergkuppen. Hier können sie unter dem Schnee Flechten hervorscharren und verzehren. So überleben sie Dunkelheit und Kälte. Die Weibchen sind bereits trächtig.
Gegen Frühjahr zieht die Herde los hinunter in die Täler und zu den Fjorden. Kurz vor der Niederkunft verlassen die Weibchen die Herde und bringen abseits, wo sie bereits etwas wärmendes Grün finden, ihr einziges Kalb zur Welt. Innert fünf Minuten muss dieses die elmentarsten Lebensregungen lernen: aufstehen, gehen, fressen.
Im Film will das Weibchen den Sohn erst nicht, wie aber Gefahr von einem Raubvogel droht, scheint sich die Mutter auf ihre Aufgabe zu besinnen und kehrt zurück zum dunklen Ailo. Kaum kann dieser gehen, begibt sich die Mutter mit ihm auf den Weg, um die Herde einzuholen, denn die bietet bessern Schutz vor Raubtieren, so da sind Bären und Wölfe, Raubvögel und Vielfraß (Phantom der Taiga).
Wie bei Tierfilmen nicht unüblich, ergibt sich dabei die Chance auf dokumentarischen Beifang von Eichhörnchen, Hermelin, Lemmingen, Schneeeulen, Iltissen, Braunbären, Polarfüchsen und auch noch ein paar Käferlein.
Auf der netten Sprecherspur dominiert die Anthroprozentrizität, dass es auch Glücksmomente gebe im Leben des jungen Rentieres und so weiter, wie schon so oft gehört in Tierfilmen und dann muss auch grad alles kommentiert werden oder nochmal gesagt werden, was eh schon zu sehen ist.
Das ist eine altmodische Art, Tierfilme zu machen, die keineswegs mithalten kann mit den Standards, die BBC setzt. Der Tierfilm als Familienfilm, ob das noch verfängt in unserer Welt allseits verfügbarer Bilder?
Jeder arbeitet heute mit Drohnen. Die ermöglichen reizvolle Bilder. Aber Maidatchevsky setzt sie zu oft ein als Kapitelanfang: die Drohne steigt hoch bei anschwellendem Orchester, fliegt über das vor ihr liegende Gelände hinweg und irgendwann wird abrupt auf anderes Bildmaterial geschnitten, weil der Drohnenakku leergeflogen ist?
Das Alleinstellungsmerkmal dieses Filmes dürfte sein Thema sein, die Rentiere und deren Landschaft Lappland. Allzu häufig begegnet man diesen nicht, zumindest nicht in jenem Segment von Filmen, die einen regulären Kinostart erhalten.