Kommentar zu den Reviews vom 1. November 2018

London (Kinostück, süß wie Plumpudding), Wien (ein Junge vom Lande in der Nazizeit in der großen Stadt), Berlin (zwei hübsche Frauen, ein Kinoschmuckstück), Zürich (4 hübsche Schweizerinnen, krasses Coming-of-Age), Disneyland (Klassiker frisch umgebaut und verzuckert), 3 x deutscher Subventionstümpel (Rumänische Verkopfung der Gefühlswelt; Verreist mit Verspätung; Verstresste Mütter), 2 x Dokuallerlei (Stimme; Ethno). Auf DVD geht es um ein Horrorerbe. Und im TV zieht der BR einen schlimmen Verdacht auf sich.

Kino
BOHEMIAN RHAPSODY
Zum Verzweifeln schön und süß und viel Musik (Queen), aber nie Kitsch.

DER TRAFIKANT
Ein junger Freund für Doktor Freud in gepflegter Literaturverfilmung aus dem Wien der Nazizeit.

NUR EIN TAG IN BERLIN
Zwei Freundinnen und ein Tag wie ein ganzes Leben.

BLUE MY MIND
Pubertäts-Blues in der Schweiz.

DER NUSSKNACKER UND DIE VIER REICHE
Weihnachtsbescherung aus Disneyland, gekonnt gesüßt.

TOUCH ME NOT
Mit der Pinzette der Gefühle habhaft werden wollen.

25 KM/H
Das dauert bis zum In-die-Ostsee-Pinkeln.

FRAU MUTTER TIER
Drehbuchschreiben heißt Erziehsprech auf verschiedene Rollen verteilen und davon ausgehen, dass junge Mütter per se gestresst sind.

DER KLANG DER STIMME
Wühltisch-Doku über das Geschäft mit der Stimme.

AN DEN RÄNDERN DER WELT
Ausgefranst.

DVD
HEREDITARY – DAS VERMÄCHTNIS
Omas Horror mit Generationenreichweite.

TV
LEBENSLINIEN CHRISTIANE BLUMHOFF – MEHR ALS KOMÖDIE
Ganz beiläufig bringt sich der BR in den Verdacht praktizierten Rassimus‘.

Der Nussknacker und die vier Reiche

Ein Stück Repertoire-Kultur,

frisch verzuckerwattet von Disney. Die haben Angst, dass beim leisesten Hauch von Kritik die Zuckerwatte in sich zusammenfallen könnte. Deshalb erlässt der Verleih ein Schreibembargo im Internet bis zum Kinostarttag um 01.00 Uhr.

Spielt bei Filmjournalisten.de keine Rolle. Unsere Reviews erscheinen generell erst am Kinostarttag ab elf Uhr vormittags und dann im Halbstundenrhythmus, diese hier wird erst um 14.30 Uhr online gehen.

Bis dahin können diejenigen, die ganz heiß auf die Filme sind, diese oft auch schon am Vorabend in einer Preview gesehen haben – ohne dass eine Review einen negativen Einfluss auf das Sehvergnügen ausüben könnte (wobei nicht auszuschließen ist, dass eine Review auch zum Kinobesuch animieren könnte).

Dabei gibt es hier nicht viel, ja gar nichts auszuplaudern oder zu verraten.

Der Stoff ist klassisch und bekannt. Die Regisseure Lasse Hallström und Joe Johnston arbeiten nach dem Drehbuch von Ashleigh Powell, die sich explizit auf E.T.A. Hoffmann und auf das Ballett von Marius Petipa beruft.

Sagen wir so: bei E. T. A. Hoffmann liest sich die Geschichte doch ziemlich anders und auch anders fantasievoll. Dazu gibt es wunderschöne, klassische Balletteinlagen.

Fantasie bei Disney heißt für die Schauspieler bestimmt viel Arbeit vorm Green Screen, heißt, dass kein Pixel auf der Leinwand ohne Zuckerguss bleibt, heißt, dass Figuren, Kostüme, Räume, Paläste Landschaften aus dem bewährten Disney-Fundus aufgefahren werden, gefährliche Situationen, eine Maus, die mit Piepsstimmchen sich äußert, mystischer Wald, ein Pferd, ein Soldat in Operettenuniform (Philip, Jayden Fowora-Knight), Pilzwald, eine zuckersüß-hübsche Frau (Clara, Mackenzie Foy), Schlösser wie das Logo von Disney und – E.T.A.-Hoffmann geschuldet – jede Menge mechanischer Wunderwerke vom kleinen Wunderei bis zum riesigen Clock-Work und auch Heerscharen von per Maschine zum Leben zu erweckende Spielzeugsoldaten (ein rudimentäres Bild für KI?) – das ist eben diese andere Fantasie, die sich auf einen maschinellen Prozess beruft. Dazu gibt’s fast eine Fibel zum Thema Jahrmarktausstattung, es kommt einem die Idee von der fröhlichen Wissenschaft des Jahrmarktes (sie nennen es „die vier Reiche“).

Der Plot ist nichtsdestotrotz höchst klassisch. Clara jagt hinter einem Schlüssel her, der sie in magische Welten hineinzieht. Es gibt gute, vertrauenswürdige Figuren (Drosselmeyer, Morgan Freeman) und bösen Figuren (Mother Ginger, Helen Mirren) und solche, die erst gut scheinen und es dann doch nicht sind.

Ein klassischer, furchtloser Weg zum Ich, der auch in der gebührenden Kinozeit erfolgreich beschritten wird, da führt kein Irrweg und keine Gefahr davon weg.

Touch Me Not

Den Gefühlen auf den Grund.
(oder: dieses Gefühl mit den Gefühlen)

Was hat es auf sich, mit dieser Sehnsucht, mit dem Verlangen, mit der Angst, mit dem Anschauen, mit dem Berühren, mit dem Sichausziehen, mit dem Sichzeigen, mit dem Schmerz, mit dem Sich-selbst-in-die-Augen schauen, mit diesem Geschlechterding, mit dem Fetisch, mit der Behinderung, mit der Anziehung und mit der Abstoßung, mit dem Aushalten von Nähe?

Was hat es auf sich mit dem Vertrauen, mit der Geborgenheit, mit dem Aufgehobensein, mit der Ablehnung, mit der Skepsis, mit Angst, Schuld, Gewalt?

Eine Befragung der Regisseurin Adina Pintilie, die selbst höchst kritisch, höchst skeptisch, fast vergrämt (in Richtung Verbitterung) gelegentlich im Gesichtsausdruck den Gefühlen auf den Leib rückt – oder auch nicht.

Sie holt einen Callboy, der sich für sie auszieht, duscht. Sie trifft sich mit Hanna (Hanna Hofmann), die bis 50 ein Mann war, sie rückt Behinderten und ihren Gefühlen auf die Pelle. Christian ist ein heller Wonnepfropfen, liebt nicht nur seine Augen, seine Haare, sondern auch seinen Penis, der gut normal ist. Seine Freundin Grit liebt ihn vor der Kamera. Er gibt Auskunft, er hat extreme körperliche Behinderungen, ist aber geistig hellwach; er kennt sich nicht anders, auch wenn er gerne mal richtig aktiv ficken möchte.

Die Regisseurin beobachtet Therapiestunden, Atemtherapie, Berührungstherapie, Fetischveranstaltungen – manchmal auf Messers Schneide zwischen Pikanterie und Forscherernsthaftigkeit, zwischen Todernst und Spiel, zwischen Negativismus und Bejahung, zwischen Verzweiflung und Verklemmung mit den eigenen Gefühlen und dem Loslassen.

Adina Pintilie hat einen riesigen Stab an Produzenten, Castern, Coaches (inklusive Susan Batson), Scritp-Analysten hinter und um sich.

Die Kamera von George Chiper fängt geschmack- und stilvolle Bilder in entsprechender Komposition ein. Die Tonspur von Ivo Paunov wird der Vielfältigkeit der Ansätze und dem untersuchenden Verhalten gerecht.

Ein Film an der Grenze zum Forschungsbericht mit lüsternen Intermezzi. Was, wenn die Menschheit nicht in Mann und Frau – und welche dazwischen – eingeteilt wäre? Wie viel Aufregendes, Irritierendes, Faszinierendes Beklemmendes, Bedrohliches, Appetitliches, Lust- und Schmerzhaftes bliebe ihr vorenthalten – gäbe es dann fürs Kino überhaupt interesssante, offenlegbare, verhandelbare Intimität?

Nur ein Tag in Berlin

Berliner Blüte.

Eine Unfiltered Artitsts Produktion.

Linda (Sophie Reichert) besucht ihre Freundin Mia (Bea Brocks) in Berlin. Sie verbringen einen Tag und eine Nacht zusammen, hängen rum, plaudern, trinken Alkohol und nehmen auch Koks, machen eine Schifffahrt, cremen sich ein, lesen Handlinien, fahren Taxi. Die SMS zu ihren Freunden Thomas (im regnerischen Hamburg) und zu Jo (in Berlin) verlieren mit der Zeit an Intensität.

Malte Wirtz (Hard & Ugly, Voll Paula), der die beiden Hauptdarstellerinnen offenbar viel hat improvisieren lassen, so dass er sie mit als Drehbuchautorinnen anführt, hat auf der Seite der Bildhochformates genügend Platz für die Texte der SMS gelassen. Die erzählen, dass der Film vom 22. auf den 23. September 2016 in Berlin gedreht worden ist. Ein Herbstfilm also und wie ein buntes Herbstblatt flattert er jetzt durch den Kinoherbst 2018.

Aufmerksamkeit hätte der Film verdient. Er nutzt Kino für eine ganz intime Geschichte, eine eng fokussierte Geschichte. Das Drumherum spielt keine Rolle oder spielt unfreiwillig mit, der Straßenlärm, der Autolärm, der Straßenbahnlärm, der Schiffsmotor, ein Helikopter.

Wirtz hat mit kleinem Aufwand gedreht. Am meisten Aufwand dürften die Darstellerinnen für ihr Make-Up und die Herrichtung ihrer Haare verwendet haben: denn sie sind immer bildhübsch, kinohübsch-attraktiv: ein Kino schöner Frauen.

Sie unterhalten sich über die Männer, darüber, ob zwei Freundinnen ein Geheimnis voreinander haben dürfen, was das Leben mit 27 noch bringt; oder über die Oma, die mit 98 am liebsten noch einmal auf eine Wiese pinkeln will. Aber auch über Ethik und Heirat. Sie plappern daher im Originalton, die Filmtechnik verkompliziert es ihnen nicht mit Szenenwiederholungen für Schnitt und Gegenschnitt oder Szenenabbruch wegen Fremdgeräuschen; das macht den Reiz dieses Filmes aus, dass er halbdokumentarisch wirkt; dass nie der Eindruck entsteht, sie hätten die Szene jetzt schon 37 Mal gedreht.

Es sind praktisch immer nur die beiden Frauen im Bild und ganz nah. Ein Jens kommt kurz vor. Aber der ist zu langweilig für sie, der hat am anderen Tag wieder Dienst. Und bei einem landen sie in der Wohnung. Sie klauem ihm ein Bild. Ein anderes Thema ist das Geld, das vor allem Mia beschäftigt, Geldbeschaffung, auch die Möglichkeit der Erpressung wird angedacht und in der Badewanne ausdiskutiert.

Frau Mutter Tier

Der Titel beschreibt einen Allgemeinplatz, dass Mütter gestresst und überfordert sind mit ihrer Mehrfachrolle als Ehefrau, Schwiegertochter, Mutter und womöglich noch als Regalauffüllerin oder klischeehafte Werbefuzzi für Ökoprodukte.

Für das gleichmäßige Verteilen von trendigem Erziehsprech mit besonderer Berücksichtigung des Veganen und der Lactose auf die nicht näher studierten Figuren in diesem Szenen-Verzopfkino von Felicitas Darschin, dürfte Rudi Gaul, der nebst Alexandra Helmig für das Drehbuch steht, verantwortlich sein.

Das erinnert in der Vorstellung dessen, wie Kino leichterdings machbar sei, an Safari – Match me if you can. Wobei der Krampf in dem Versuch, Alltagssituationen nachzuerfinden oder zu rekonstruieren, hier noch größer erscheint, die Unnatürlichkeit der Darstellung des überwiegenden Münchner-Castes noch mehr abstinkt.

Einzig Julia Jentsch rettet sich hochanständig und ohne Übertreibung noch in den grausamst konstruierten und schwerfällig inszenierten Situationen. Wie sie mit einem Zwillingskinderwagen unterwegs ist – wobei sie nur ein Kind hat – aber, der Gag ist lang und umständlich vorbereitet. Ihr Einkindkinderwagen wurde von einem bescheuerten Radfahrer im Hausflur angekettet, so hat sie sich den gerade freien Zwillingskinderwagen dicht daneben geschnappt, damit später der Gag im Reformhaus auch ja klappt mit dem meilenweit absehbaren Umfahren eines Werbeturmes aus Shampoopackungen.

Auch dieses Produkt wird im Film wieder vorkommen und die Regalaufräumerin mimt dabei eine Influencerin. Also es soll keiner sagen, die haben sich nichts gedacht bei der Herstellung dieses Filmes und sie hätten keine Verknüpfungen gesucht und gebastelt.

Aber sie haben nicht genügend gedacht – oder an den falschen Stellen. Sie haben es sich zu einfach gemacht. Sie haben sozusagen eine Reihe von Kurzfilmen, die in sich wiederum nicht genügend gearbeitet sind, ineinander verwickelt, womit sie alle weitergehenden Ansprüche an einen spannenden Kinofilm von sich weisen können, Ansprüche an tieferes Studium von Figuren.

Die Darsteller müssen so billig herhalten für die Reproduktion erfundener, allenfalls anekdotisch erlebter und rekonstruierter Alltagsstressszenen von Müttern. Was wir ja alle nicht kennen, was wir bestimmt zum ersten Mal hören und uns so, als filmisches Thema bestimmt immer schon gewünscht haben.

Ich frage mich, wer sich diesen Film anschauen soll, also wer ihn sich aus spontanem Interesse freiwillig anschauen wird. Die gestressten Mütter haben keine Zeit; auch im Film geht keine ins Kino, einzig die Julia Jentsch geht kurz und sehr schick an ein Sponsorenessen, dieses allerdings höchst medioker inszeniert.

Junge Ehemänner dürften eher nicht die Zielgruppe sein, so windelweich wie sie dargestellt sind, so uninteressant; keiner will sich als Langweiler im Kino wiederfinden.

Omas haben sicher auch Gscheiteres zu tun als so einen Film anzuschauen, der nur die allzubekannten Klischees über gestresste Familien auffährt. Das kennen sie aus eigener Erfahrung und haben es längst hinter sich. Und es ist nicht so, dass irgend etwas Erhellendes über den Erfahrungsbereich Hinausgehendes in dem Film herausgearbeitet worden wäre; er illustriert nur den Gemeinplatz, dass Mütter gestresst sind. Deshalb kommen auch die Babys und die Kinder als Augenfang nicht in Frage.

Das Hauptkinopublikum, die Freitag-Abend-Popcorn-Generation, dürfte mit der eigenen Verliebtheit beschäftigt sein und sich den Abend nicht mit so einem Film versauen wollen, für die gibt es grad gar nichts zu lachen, wenn das die Lebensperspektive mit der Gründung einer Familie sein soll.

Und das gepflegte, kinogängerische Seniorentum ist zu anspruchsvoll und zu verwöhnt vom Arthouse-Angebot; es dürfte von der Minderqualität dieses Filmes wenig angetan sein, der meines Erachtens gleich entsorgt gehört ins Museum der Pathologie des geförderten deutschen Kinos der ersten zwanzig Jahre des dritten Jahrtausends.

Mitverantwortlich für diese Energie- und Geldverschleuderung, für diese künstlerische Ressourcenverschwendung sind wieder diverse Filmförderer, die im Presseheft allerdings nicht vermerkt sind.

Beispiel für die miserable Inszenierung: das Kind das vom Dach des Spielhauses auf dem Spielplatz fällt: es muss ohnmächtig geworden sein, denn der Aufprallton auf dem Sand ist wie der eines schweren Kartoffelsackes. Das ist unrealistisch. Genau so wie die darauf folgende Rettungsaktion; die ist nicht mal von der Theorie her nachvollziehbar, geschweige denn von der minderbemittelten Performance.

Der Trafikant

Eine Geschichte

unter Millionen aus der Zeit des Dritten Reiches aus Österreich.

Die Geschichte von Franz Huchel (Simon Morzé) aus dem Salzkammergut, den alle wegen seiner unverdorbenen Jugend und dem interessierten Geist nur Burschi nennen.

Seine Mutter schickt ihn vom Land, wo er gerne in ein Wasserfass untertaucht und träumt, nach Wien zum Trafikanten Otto Trsnjek (Johannes Krisch). Denn der Gönner der Mutter ist bei einem Gewitter im See ertrunken. So kann sie den Sohn nicht mehr ernähren.

In Wien wird er sich das erste Mal in ein Mädchen verlieben, in das böhmische Luder Anezka (Emma Drogunova) und auch den Dr. Sigmund Freud (Bruno Ganz) lernt er in der Trafik kennen. Der besorgt sich hier seine Zigarren. Franz ist elektrisiert von Dr. Freud und seiner Wissenschaft. Es entwickelt sich eine Freundschaft.

Nikolaus Leytner hat mit Klaus Richter das Drehbuch geschrieben und die exzellente Regie geführt, vor allem die Schauspielerregie ist hervorzuheben. Das zeigt sich allein bei Bruno Ganz, der wie eins zu eins mit dem Doktor Freud wird, von minimalen Manierismus-Relikten in den Fingern abgesehen.

Es ist die Verfilmung des Romans von Robert Seethaler.

Leytner geht in angenehmem Erzähltempo Schritt für Schritt voran, den Entwicklungen und Wegen des Protagonisten folgend, auch dieser brilliert in seiner Regie. Es scheint ein Schuss Theaterarbeit in die Filmarbeit eingegangen zu sein. So glänzen denn alle Schauspieler im Sinne der Erzählung vor einer uneitlen, handlungszentrierten Kamera, die eine dezidierte Zuschauerposition einnimmt.

Es sind schöne, ruhige Bilder. Die Erzählung erstreckt sich bis zum Anschluss Österreichs. Sigmund Freund entkommt den Nazis.

Franz will sich nicht vereinnahmen lassen. Er verarbeitet vieles von seinem Leben in Träumen. Auch die entwickeln in Leytners Inszenierung und vor der Kamera von Hermann Dunzendorfer eine eigene Dynamik.

Der Film ist zwar überwiegend als Studioproduktion erkennbar, so wie beim Theater der Bühnenrahmen erhalten bleibt, und trägt somit zur Konzentration auf die eindrückliche Geschichte bei, die ganz auf das Fundushafte, was deutschen Nazifilmen oft anhängt, verzichtet.

Wobei es vielleicht eine Konzession an den Koproduzenten Degeto ist, dass das Spinnensymbol (und auch das der Motte oder des Schmetterlings sowie das der Glasscherbe, mit der Franz Licht reflektiert) zu häufig eingesetzt wird.

Gute Frage von Freud an den gequälten Franz: Anezka oder Libido?
Von mir aus gesehen hat der Film alles für einen gepflegten Matineefilm.

Der Klang der Stimme

Die Stimme ist ein besonders faszinierendes Organ des Menschen.

Abgesehen davon, dass sie ein elementarer Bestandteil menschlicher Kommunikation ist, lässt sich damit auch Geld verdienen. Das sagt an einer Stelle ein Stimmforscher, ein Wissenschaftler offenbar, der seinen Studenten Grafiken von Stimmen zeigt. Bei einem Tenor meint er, wenn einer so hoch hinaufkomme, dann könne er ganz schön Geld verdienen.

Aber auch der Wissenschaftler verdient sein Geld offenbar mit Stimmforschung, wobei Näheres darüber nicht zu erfahren ist. Er hat eine Frau gefunden, die extrem hohe Töne erzeugen kann und würde sich glücklich schätzen, einen wissenschaftlichen Beweis dafür zu finden. Er macht auch unangenehme Untersuchungen mit ihr mit einem Kabel, das er ihr durch die Nase einführt.

Ein andere beliebte Sache in diesem Film sind eine Art Röntgenaufnahmen von Zunge und Kehlkopf, während ein Mensch singt. Das sieht grauslich aus, besonders wenn im nächsten Schnitt die reale, hübsche Sängerin zu sehen ist.

Aber auch andere Menschen verdienen ihr Geld mit der Stimme: Chorsänger, Chorleiter, Opernsänger, Korrepetitoren und Dirigenten, Menschen in den Tonstudios, Stimmtherapeuten. Sie sind hier alle zu sehen.

In dieser Dokumentation von Benhard Weber wird das bunt durcheinandergewirbelt und dazwischen noch mit Straßen- und anderen Impressionen aufgemischt, Applaus brandet auf, einer der sein Geld mit nonverbaler Tonerzeugung verdient, eine, die Schwangeren mit Stimmarbeit vorgeburtlich hilft, andere die zu Bildern aus dem Alltag, die auf einer Leinwand im Tonstudio gezeigt werden, mit Mund und Stimmwerkzeug Töne erzeugen.

Weber hat sich von der Doku-Methode her für die trendige Mäuschen-Verzopfmanier angereichert mit Statements der Protagonisten an das Publikum entschieden.

Für die Protagonisten sind dadurch sicher Aufnahmen entstanden, die sie für ihre Promotion verwenden können und wer noch nie etwas vom professionellen Umgang mit der Stimme gehört hat, der bekommt seine Appetizer.

Musikalisch geht der Weg von der großen Oper über das klassische Konzert, bis zum Jodeln, zur Katzen- und zur Kindergartenmusik. Wer allerdings etwas über Musik und Üben im Bad erfahren will, der sollte zu „Joao Gilberto – Wo bist Du?“ greifen (ab 22. November im Kino), ebenfalls eine Dokumentation aus der Schweiz, die beweist, dass die Schweizer so etwas an sich ganz spannend machen können.

Blue My Mind

Coming-of-Age ist eine krasse Sache. Beim weiblichen Geschlecht vielleicht noch krasser. Hier spielt Blut eine Rolle, Blut, das austritt, Lebenssaft. Existentiell, tiefgreifend. Vom Mädchen zur Frau, die sich in der Welt, im Leben und in ihrer Haut so wohl fühlt, wie die Meerjungfrau im Wasser.

Diesen Prozess symbolisiert Lisa Brühlmann in ihrem Film im Sinne einer kafkaesken Verwandlung.

Mia (Luna Wedler), die Protagonistin fühlt sich in ihrer Haut nicht mehr wohl. Das gibt ihr die Haut zu spüren, die Haut an den Beinen, zwischen den Füßen. Gregor Samsa lässt grüßen. Wobei Brühlmann die Absurdität nicht so weit treibt, sondern diese ganz klar als Symbol einsetzt für das, was mit Mia vor sich geht. Dass sie das Gefühl hat, sie sei nicht mehr normal, dass die Eltern sie darin sogar bestärken und vorschlagen, einen Arzt aufzusuchen (obwohl die Eltern von den physischen Veränderungen gar keine Kenntnis haben).

Aber die Eltern kennen ihr kleines Mädchen kaum wieder von ihrem Verhalten her. Sie selbst vermutet sogar, sie sei gar nicht das leibliche Kind von ihrer Mutter Gabriela (Regula Grauwiller) und wird bestärkt in dem Verdacht, da es nirgendwo Bilder von ihrer Mutter als Schwangeren gibt.

Brühlmann treibt den Symbolismus, ähnlich wie ihr Landsmann Arnold Böcklin weit über 100 Jahre vor ihr mit Öl auf Leinwand, weiter. Sie rahmt den Film mit einer Szene am aufgewühlten Meer, das von Felsen umrandet ist und einen kleinen Steinstrand freigibt (könnte ein böcklinsches Motiv sein).

Hier steht Mia als ganz kleines Mädchen. Und hier wird der Verwandlungsprozess, den der Film nachzeichnet, seinen Abschluss finden. Er beinhaltet eine Entfremdung von diesem Strand, von diesem Zustand des ungespaltenen Kindes. Die Entfremdung beginnt mit einem Umzug. Wobei der erste Blick in das seelenlose Neubauquartier in Zürich von der Optik her direkt eine Überblenung zum Strand, zum Naturzustand, sein könnte.

Der pubertäre Stadtzustand besteht in der dicken Freundschaft mit drei Klassenkameradinnen, die die Lebensphase ausflippen lässt. Lieber gehen sie shoppen als zur Schule. Es gibt eine Jungs-Gruppe als Kontrapunkt. Für diese sind die Mädels Objekte zum Ausprobieren. Die Themen beider Gruppen sind stark vom Geschlechtlichen geprägt.

Vor allem geht es, neuschweizerisch, ums „Bouncen“, was schön traditionell mit „Poppen“ zu übersetzen sein dürfte. Es geht aber auch um Sauberkeit, Abhängen, Rauchen, Gamen, Cheekbones, Blutungen, Sextube. Alk und Drogen spielen eine Rolle, Rasur an den Beinen.

Die Casterin Corinna Glaus hat ein glänzendes Ensemble zusammengestellt und Lisa Brühlmann arbeitet hervorragend mit ihren Darstellern, mit dieser Sprachregie, die dem Schweizerischen gerade im Understatement Wucht verleiht – den Film also unbedingt in der untertitelten Fassung anschauen!

Und Lehrer Eric (Dominik Locher) hat im Bewusstsein der schwierigen Situation seiner Schüler den richtig lockeren Ton gefunden. Der Film könnte eine Variation zum Titel eines Theaterklassikers sein: Krankheit der Jugend.

An den Rändern der Welt

Thomas Tielsch dokumentiert den Exotik-Fotografen Markus Mautke, der um die Welt jettet, vom Süd-Sudan über Äthiopien nach Indonesien und dann zum Amazonas, immer auf der Jagd nach geldwerten Motiven und im Sinne der Ziele von Organisationen wie Green Peace, denen am Erhalt des Planeten liegt.

Immer auch ist Mautke im Zwiespalt, Dinge an den Tag zu zerren, unkontaktierete Indigene, die besser im Verborgenen blieben – denn unsere Zivilisation kann mörderisch und zerstörerisch auf diese Kulturen wirken, das zeigen Beispiele aus Afrika: sobald diese Menschen Geld verdienen, bekommen Sie Zugang zu Schnaps und Drogen – und wenden sich diesen zu.

Das Ziel wäre, meint er, deren Traditionen zu bewahren, ohne sie vom Fortschritt auszusperren (was am ehesten in der Verwendung malerischer Traditionen für den Tourismus verwirklicht werden kann). Er will dazu beitragen, indem er sie in Stammeskostümen, in pittoresker Körperbemalung und in buntem Schmuck fotografiert.

Das hat groteske Folgen. Da die Indigenen Geld für Fotos erhalten, wechseln sie eifrig die schönsten Schmuckstücke und Kopfbedeckungen untereinander aus, damit möglichst viele vom Geldsegen profitieren.

Andererseits muss der Fotograf die Bilder verwenden können, schließlich lebt er davon. Offensichtlich aber nicht gut genug, um im Amazonas eine plötzlich um ein paar Tausend Euro erhöhte Maut zum Besuch eines Stammes zu bezahlen.

Immer wieder geben porträtierte Menschen flüchtige Einblicke in ihr Leben, wie sie ihren Lebensunterhalt bewältigen, was die Zivilisation bei ihnen verändert hat, was der Bau eines Staudammes, was Brandrodungen.

Manche wehren sich mit Hilfe aus aller Welt gegen den Bau eines Staudammes, der verheerende Folgen für sie hätte – und bekommen sogar Recht vor Gericht. Andere behelfen sich mittels Erheben einer Maut.

Ehemalige Seenomaden arbeiten als Tauchlehrer oder verkaufen von Schiffen aus Souvenirs an Touristen.

Der Film ist ein Potpourri aus schnell an vielfältigen Stellen der Welt geschossenem Material, fotogen arrangierten Menschen zwischen Indigenität und Globalisierung.

Für den fotokulinarischen Naturaspekt schneidet Thomas Tielsch immer wieder gefällige Drohnen- und Unterwasseraufnahmen dazwischen. Es dominieren anzivilisierte Indogene, die sich nicht mehr allzusehr von anderen Menschen am Rande der Zivilisation in den Armenghettos um die Megapolen unterscheiden. Noch haben sie ihren traditionellen Schmuck und die Tänze – ohne diese wären sie für Mautke offenbar nicht interessant genug.