Kommentar zu den Reviews vom 25. Oktober 2018

Zwei exzellente, kulturelle Dokus: Intensiv-Doku über die New Yorker Stadtbibliothek und vom Feinsten über den spanischen Tanz Jota. Ein wilder japanisch-französisch-amerikanischer Cartoon. Ein kaputter Abfluss aus Beiruth. Eine britische, animierte Hexe aus Japan. Aus den USA der VorTrumpAera ein ActionThriller und ein Halloween-Abgrusler. Aus Deutschland drei ansehnliche Dokumentationen und ein Hundefilm, der weder Tier- noch Menschenfilm ist. Eine DVD guckt dem Nikolaus hinter den Bart und das TV übersah vor lauter KI-Spielerei das Menschliche.

Kino
EX LIBRIS – DIE PUBLIC LIBRARY VON NEW YORK
Die Stadtbücherei als ein gesellschaftlicher Wirkort.

JOTA – MEHR ALS FLAMENCO – JOTA DE SAURA
Mitreißendes Handbuch über diesen Tanz.

MUTAFUKAZ
Hier gibt Harald Witz seinen Einstand als Filmjournalisten-Autor – der hat richtig was drauf und enorm Ahnung, gerade auch von Comics – unbedingt lesen – Welcome Harald!

THE INSULT
Ein kaputter Abfluss mit Folgen wie beim Zerbrochenen Krug.

WILDHEXE
Hexentum zur Bewältigung des Übergangs vom Kind zum Erwachsenen.

HALLOWEEN
Abgrusler oder Absacker zum entsprechenden heidnischen Brauch.

HUNTER KILLER
Wie war die Welt vor Trump doch übersichtlich und ermöglichte klare Spannungen.

PROJEKT: ANTARKTIS
Jungs in Karrierestartlöchern bringen sich mittels Start-Up-Expedition in die Antarktis in Position.

MEIN STOTTERN
Nettostottern und kompensatorische Lösungen.

MORITZ DANIEL OPPENHEIM
Ein viel zu wenig bekannter, deutscher Genremaler.

WUFF
Solche Hunde gibt es nur im Filmsubventionstümpel.

DVD
PLÖTZLICH SANTA
Wenn der Schreiner plötzlich Nikolaus wird.

TV
TATORT KI
Das Fernsehen konnte aus dem Thema künstliche Intelligenz keine menschliche Spannung erzeugen.

Jota – Mehr als Flamenco

Nach Zonda: Folclore Argentina präsentiert Carlos Saura einen weiteren Film á la „Fine Art of Movies“ zu spanisch-lateinamerikanschem Tanz und Gesang, wieder in der edlen, abwechslungsreich gestalteten Studioatmosphäre wie ein preziöses Handbuch, diesmal zum Jota. Über diesen schreibt er zu Beginn des Filmes:

„The „“Jota“ belongs by rights to the province of Aragon, but it is also presents throughout most of Spain, Latin America and the Philippines.
This vigorous and rhythmic genre of song and dance has attracted the attention of such prestigious composers as Liszt, Saen Saens, Massenet, Ravel, Glinka, Granados, Albéniz, Tárrega and Bretón.
Where does it com from? Most believe it has Arab and Oriental influences, and that the word „Jota“ comes from the Arabic „Xotar“: to jump.
Akin to Fandango and the „Bolera“school, ist clearly related to Flamenco.“

Es ist ein Hochgenuss, Saura, einem profunden Kenner der spanisch-lateinamerikanischen Kultur und einem Hochschätzer dazu, zuzuschauen, wie er eine fesselnde Nummernshow mit Ansagetiteln daraus arrangiert, immer im Ambiente einer Studiobühne, die für jeden Gesang, jeden Tanz, jede Musik variabel gestaltet wird, mal gibt es Aquarellzeichnungen auf den Projektionsflächen, mal tauchen dahinter Musiker auf, mal läuft ein Stück filmgeschichtlicher Footage, es gibt Seniorentanz und ab und an ist auch ein Publikum zu spüren, zu hören, einmal unterhalten die sich sogar – inszeniert – über den Film „Nobleza Baturra“ von Florián Rey von 1935.

Oder es sitzt eine Lateinklasse vor einem Lehrer und soll „rosa“ deklinieren; über die drei Seitenwände wird dabei Archivmaterial vom spanischen Bürgerkrieg in dreifacher Ausführung laufen; ein Bürgerkrieg, der mit der anschließenden Franco-Diktatur bis heute nicht aufgearbeitet ist – zu dem Thema kam eben erst ins Kino die Dokumentation „Franco vor Gericht: das spanische Nürnberg?“ Dazu läuft der Song „rosa, rosae“ – eine tief beeindruckende Sequenz.

Manchmal geht es auch lustiger zu oder es gibt reine Orchesternummern, eine Tanzschule kommt eingangs vor, es gibt Silhouettentanz bis hin zum finalen El Pueblo en Fiestas, das große Fest mit Masken zum Schluss.

„Der Rhythmus des Jota erreicht Dein Herz.“

Ex Libris – Die Public Library von New York

!Wahrlich ein Dokument

über den in den Welten von Bildung, geistiger Auseinandersetzung und Demokratie breit aufgestellten, hochaktiven Organismus „Stadtbibliothek New York“, um den Begriff der „Public Library“ in unser gewöhntes Deutsch zu übersetzen.

Der Großmeister der dokumenthaften Dokumentation, Frederick Wiseman, rastert das komplexe Gebilde mit seiner bewährten Gründlicheit, Systematik und ohne jeden belehrenden oder erklärenden Kommentar, ohne Quasselstatements Beteiligter, Betroffener, Verwandter, Promis oder von Nachbarn.

Wiseman lässt die Institution durch ihre Repräsentanten in ihren Funktionen, Aufgaben und Auseinandersetzungen sprechen. Da diese geistig-literarischen, fotografischen und anderweitig kulturellen Kontent sammeln, sichten, sortieren, ausleihen, digitalisieren oder anderweitig zur Verfügung stellen, wird aus der Dokumentation ein saftiger, kalorienreicher VHS-Intensiv-Kurs in kompakten 3 1/4 Stunden.

Wiseman vermittelt einen tiefen Einblick in Themen und Auseinandersetzungen amerikanischer Bürger, deren bürgerschaftliches Engagement zu Verbreitung von Bildung, gerade auch in bildungsfernen Stadtteilen.

Die Institution ist im Gegensatz zu unseren Stadtbibliotheken keine staatliche; sie bekommt zwar von der Stadt und vom Staat Zuschüsse, um die sie sich jährlich neu bewerben muss, wofür sie sich vernehmbar und attraktiv machen muss. Den Rest müssen Sponsoren aufbringen.

Sowohl darüber, wie das Geld zu beschaffen sei, gibt es innerhalb des Führungspanels der Bibliothek harte Diskussion, als auch darüber, wie das Geld zu verteilen sei, für welche Anschaffungen, ob mehr Bücher für die Kleinen in einer der zahlreichen Außenstellen in der Bronx beispielsweise oder mehr Geld für Bestseller, für Bücher oder doch lieber für E-Books?

Auch um die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen geht es im Hinblick auf viele Projekte. Für Reparaturen und Renovierungen in den vielen Gebäulichkeiten müssen sie ein eigenes Budget und einen eigenen Etat organisieren.

Wiseman versteht es, sich nahezu unsichtbar zu machen bei den zahlreichen Veranstaltungen und Diskussionsrunden. Wie, um das zu beweisen lässt er die Szene, in der George einmal und sogar länger in die Kamera blickt, bewusst drin, was den Dokumentaristen nur noch unsichtbarer werden lässt.

Aus den Vorträgen, Reden, Moderationen, Lesungen, Bühnenperformances, Konzerten, Sponsoren-Events, Teambesprechungen, Diskussionen berichtet er ausführlich in langen Passagen.

Um die Zuschauer damit nicht allzu sehr zu strapazieren, schneidet er dazwischen Street-Views um die Bibliothek und ihre Filialen herum, Besucher, Touristen, Buchsortierer, Seniorentanz, Literaturkreis oder er wirft einen Blick auf eine Halloweenparade.

Aber er guckt auch Besuchern über die Schulter und interessiert sich dafür, was diese interessiert, ob Krankheiten, Historisches, Kriege, Rassimus oder ob sie vielleicht nur Vidogames spielen; er beobachtet Vorgänge bei der Ausleihe, das Einscannen von Material.

Das sich immer wieder in den Vordergrund drängende Thema ist der immer noch latente Rassimus in der Ausformung des Gegensatzes von Schwarz und Weiß, was auch ein wesentliches Thema der Aktivitäten der Stadtbibliothek ist im Hinblick auf Gleichberechtigung, Chancengleichheit, Demokratie, digital Divide; auch zum Thema Klassenkampf gibt es einen pikanten Vortrag; ebenso spielt die Inklusion eine Rolle, Kulturzugang für Blinde und Taubstumme.

Bilder werden in der Sammlung thematisch abgelegt. Künstler holen sich Inspiration. Frappantes Beispiel einer Schubladenbezeichnung: „Hunde in Aktion“ – das hätten sich die Macher des deutschen Filmes Wuff, der auch heute startet, mal vor Projektbeginn anschauen sollen!

Wiseman spürt mit seinem Film, in dem es konzentriert um Content geht, dem Wesen der „Stadtblibliothek“ und ihrer gesellschaftlichen Ferment-Funktion nach. Überraschungsfundstück: Dürers Rhinoceros, eine der ältesten Druckgrafiken in der Sammlung – und auch der Welt!

Wuff

Wau,

wau wau, kläff, knurr – miau. Viele Hunde, viele Rassen, dazwischen erfundene Menschen, locker geschauspielert von lockern Schauspielern, mutmaßlich nach dem Leben, aber eben: nicht nach dem Leben, sondern nach den Erfindungen von Andrea Wilson (SMS für dich, Vaterfreuden) in der nicht strengen Regie von Detlev Buck, dem es wohl auch an tieferer Einsicht darin gefehlt hat, was uns Andrea Wilson mit diesem ihrem Drehbuch sagen will.

Es gab anno 2000 einen aufregenden Film über Hunde und Herrchen: „Amores Perros“ von Alejandro G. Inarritu. Das war ein Film, der mit Scharfblick Verhaltensweisen von Hunden und Herrchen beobachtet und pikant filmisch serviert hat, der bewiesen hat, dass sich aus der Beobachtung von Viechern und Menschen kinematographisches Kapital ziehen lässt. Er hat sich auf drei Paarungen beschränkt – in der Beschränkung zeigte sich schon früh seine Meisterschaft. Es war denn auch der Durchbruchsfilm von Inarritu.

Das dürfte Detlev Buck und Andrea Wilson nicht passieren. Sie haben im Subventionstümpel längst ihren Durchbruch, da kommt es auf Einbrüche nicht an; denn Subventionsname ist gleich Subventionsname; geheiliget seien bei den Fördergremien die Subventionsnamen, denn die Gremien sind leichtgläubig und gerngläubig, wenn sie einen Namen mal buchstabieren gelernt haben.

So kommt es, dass Buck und Wilson sich nicht weiter um ihr Thema kümmern zu glauben müssen. Sie fahren eine Unmenge von Hunden und Herrchen und Frauchen auf, viele darunter Subventionsnamen; und dann erfinden sie Szenen, Alltagsszenen, vielleicht auch Berliner Szenen.

Ein Beispiel soll genügen, vielleicht ist es sogar das verheißungsvollste, denn es skizziert immerhin einen Konflikt: Ein Chefredakteur zitiert zwei seiner Angestellten, es ist ein Ehepaar. Er erklärt des Langen und Breiten, dass nur eine Person der beiden Chef werden könne und dass das, weil er ihm gesteckt hat, dass sie mitten in der Familienplanung seien, nun mal der Mann sei, da die Frau ja mit Kinderkriegen beschäftigt sei (es hieß mal die Frau als Gebärmaschine, aber so weit wollen Buck-Wilson sich nicht aus dem Fenster lehnen). Das könnte immerhin, wenn auch ein recht plumper, Konflikt sein. Wobei offen bleibt, was Hunde damit zu tun haben.

Wenn man sich als Betrachter schon die Zeit für die Pressevorführung nimmt – hier sind es an die zwei Stunden – so möchte man sich selbst die Zeit ja nicht als verloren abschreiben, indem man versucht, den Film zu retten. Hier sieht es in dieser Beziehung mau aus.

Ein Möglichkeit, um aus dem Film wirklich ein brisantes Stück Kino zu machen, wäre wohl dies – das habe ich mir so während dem Screening vorgestellt – allen beteiligten Akteuren, als sei es selbstverständlich, ein Armbinde mit dem Hakenkreuz umzulegen. So könnte Provokation draus werden. Das habe ich mir eine Weile lang vorgestellt. Der Führer hatte ja auch was mit einem Hund.

Einen Tipp für Inspiration gibt es für die Filmemacher im ebenfalls heute anlaufenden Film von Frederick Wiseman Ex Libris – Die Public Library von New York.

Aber so, da fehlt nicht nur etwas, da fehlt es an allem: an Spannung, an Glaubwürdigkeit, an Witz, an Menschenkenntnis, an einem Geschichtsfaden. Mir scheint hier wieder viel Filmfördergeld für nichts und wieder nichts verpulvert worden zu sein zur Umverteilung von öffentlichen Geldern an Subventionsnamen.

Es gibt dreimal mindestens fettes Product-Placement für „drive now“ – keine gute Werbung und sie dürfte es verunmöglichen, den Film im öffentlich-rechtlichen Fernsehen zu zeigen, denn da ist das so ja nicht gestattet. In was für einer Welt leben Buck und Wilson eigentlich – und all die Schauspieler, die die Rollen zugeagt haben?

Wildhexe

Die Dänen, lässig und unaufgeregt in Ungarn, verschaffen sich den Überblick über die Irrungen und Wirrungen zwischen Kindsein und Erwachsenwerden mit rasendem Drohnenflug über das waldig-grüne Ungarn, das den mystischen Wald für diesen Übergang darstellt.

Sie montieren mit leichter Hand die Symolbilder für diese drastische Veränderung im heranwachsenden Menschen mit Schluchten und Nebel und Dunkelheit, Wald und wilder Weg (da muss sie durch), Undurchdringlichkeit und Orientierungslosigkeit und Hexen- und Zauberbrimborium.

Das Mädchen Clara (Gerda Lie Kaas) ist rothaarig, so müssen werdende Hexen und Wildhexen (das sind Übergangshexen) sein. Und sie muss allein da durch, durch diese Kämpfe und Überwindungen, speziell im Kampf gegen die Chimera (May Simón Lifschitz), durch diesen elementaren Veränderungskosmos des Coming-of-Age. Und das trotz Wildhexenfreund, das ist Oskar (Alber Werner Ronhard), der auch ein schwarzer Kater sein kann, der immer im unpassenden Moment den Schulweg kreuzt.

Dazu gehört die Wildhexenfreundin Kahla (Vera Mi Fernandez Bachmann). Sie ist die Tochter von Isa (Sonja Richter). Das ist eine Tante der Mutter von Clara, von Mille (Signe Egholm Olsen), von der Clara noch nie etwas gehört hat und die im Wald ein Wildhexentraining anbietet.

Denn die Mutter stellt sich ahnungslos und überfordert mit dem, was mit Clara plötzlich los ist. Sie tut so, als stimme mit Clara etwas nicht, Clara wird das Gefühl vermittelt, sie sei anders als die anderen. Fieber wird diagnostiziert und ein merkwürdiges Heilgebräu verabreicht.

Diese Leerstelle am Ende der Kindheit, die so anfällig oder aufnahmefähig für Magie und Hexerei macht, ist ein Universalmoment, der die Kinder offen und anfällig werden lässt für die Sprache der Tiere, von Katzen, Eulen und Chinchillas (so einen befreit sie in der Schule), Feuerechse, Rabe, Bär und Vogelschwärmen, für die Mystik und Symbolik der Natur und Lügen (von denen es offenbar in dieser Altersstufe wimmelt) können sie förmlich riechen. Hypersensibilität.

Die Filmemacher, das ist Kaspar Munk als Regisseur, der mit Poul Berg und Bo Hr. Hansen das Drehbuch nach den Bestsellern von Lene Kaaberbol geschrieben hat, ist in der dänischen Filmkultur verwurzelt. Das bedeutet auch exzellente Arbeit mit den Darstellern, die ihren Rollen mit nordischem Ernst Glaubwürdigkeit und Faszination verschaffen. Die Musik lässt auf ihre Weise die Doppelbödigkeit des Hexenzustandes manifest werden.

The Insult – L’Insulte

Der kaputte Abfluss

ist das Symbol für diesen heftigen Gerichtsfilm von Ziad Doueiri, der mit Joelle Touma auch das Drehbuch geschrieben hat. Das erinnert an den „Zerbrochenen Krug“ von Kleist, weniger von der Komödie, als vielmehr von der Konsequenz des Denkens her.

Ein banaler Alltagsgegenstand wird zum Auslöser einer Dramatik, die die Ausmaße einer Staatsaffäre annimmt und dabei ein Röntgenbild einer Gesellschaft zeichnet.

Der Abfluss noch dazu als Symbol dafür, wie mit Dingen umgegangen wird, die entsorgt gehören, und wenn es nur das Wasser vom Balkon ist. Und was passiert, wenn das nicht ordentlich geschieht.

Der Christ Toni Hanna (Adel Karam) hat den Abfluss vom Balkon seiner Wohnung in Beirut kaputt gemacht. Er gießt seine Balkonblumen in dem Moment, in dem unten auf der Straße der Unternehmer Talal (Talal el Jurdi) mit seinem zuverlässigen und vorbildlichen Vorarbeiter Yasser (Kamel el Basha) eine Ortsbesichtigung für Bauarbeiten unternimmt.

Das Abwasser vom Balkon trifft Yasser. Er schickt ein „Arschloch“ zu Toni auf dem Balkon. Toni verlangt eine Entschuldigung. Denn Toni ist Christ (er betreibt eine Autoreparaturwerkstätte und kann nur den Kopf schütteln über die Chinesen, die erstklassige Boschteile aus Deutschland kopieren und nicht mal das Wort „Bosch“ richtig abschreiben können, sie schreiben „Boch“) und Yasser ist Palästinenser.

Yasser lebt in einem abgeschlossenen Palästinenserlager und dürfte seinen Job überhaupt nicht ausüben. Er weigert sich, sich zu entschuldigen. Sein Chef Talal bedrängt ihn, es zu tun, denn er kann keinen Ärger gebrauchen; es geht um große Aufträge.

Yasser willigt ein und geht, begleitet von Talal, zur Garage von Toni. Die Begegnung endet statt mit einer Entschuldigung mit zwei gebrochenen Rippen von Toni. Zudem ist seine Frau schwanger. Jetzt hat das Drama schon den zweiten Gang eingelegt.

Hinzu kommt eine Fehlgeburt von Tonis Frau. Beide finden sich im Spital wieder. Jetzt mischt sich die Rechtsindustrie ein. Durch die Anwälte wird der Fall hochgeschaukelt. Er wird zur Staatsaffäre. Zuletzt mischt sich der Präsident ein. Denn auch Toni hat seine Vergangenheit, sieht sich als Opfer, nicht nur der Palästinenser.

Es kommt zum Disput zum Thema „Monopol der Opferrolle“ oder „Monopol des Leidens“, was auch als kleiner Seitenhieb auf die Juden gelesen werden kann, die aber in diesem Film nur an einer Stelle erscheinen, in Form von antisemitischen Schmierereien an der Garage von Toni, dem unterstellt wird, er würde für die Juden agieren.

Das Massaker von Damur (bis dahin beschauliche Bananen-Plantagen) wird in die Verhandlung eingeführt. Jeder kann sich in Nahost in der Opferrolle sehen, selbst die Christen, von denen es an einer Stelle heißt, sie würden nur daliegen und das Leben genießen im Libanon.

Der Film zeigt, wie verwickelt und unlösbar die Situation im Nahen Osten ist. Wie in Taste of Cement (als poetisch-traurige Variante, dessen, was hier dramatisch passiert) gibt es Drohnenflüge über Beirut; das immerhin ein bisschen in einem Aufschwung zu sein scheint. Vergessen wir nicht, bis in die frühen Siebziger Jahre hinein galt der Libanon als die Schweiz des Nahen Ostens; die Saudis verbrachten dort als beliebte und viel Geld ausgebende Gäste ihre Sommerfrische.

Projekt: Antarktis

Dieser Film von Tim David Müller-Zitzke, Michael Ginzburg und Dennis Vogt, die von Bremerhaven als dem Tor zur Welt träumen, dokumentiert Mehrfaches.

Er ist ein Dokument über das Filmemachen in der Art eines Start-Ups, was also mehr umfasst als nur ein Drehbuchschreiben und dann zu verfilmen. Es ist, wie der Titel sagt: ein Projektbericht.

Die Jungs, die an ihren Masterarbeiten sitzen, haben sich ein Projekt vorgenommen, was sie mit Unbekanntem konfrontiert, was aber gleichwohl planbar scheint: eine Expedition in die Antarktis, um dabei Filmmaterial zu beschaffen – dieses Ziel war wohl anfangs nicht ganz eindeutig formuliert – aus dieser abgeschiedensten Weltregion, die anderthalb Mal so groß ist wie Europa und die durch die Antarktis-Konvention streng geschützt ist. Aus dem Material sollte ein Kinofilm werden. Das setzt eine beachtliche logistische Leistung voraus, Vorabklärungen, Beschaffung von Material, das antarktistauglich ist, dann die Sponsorensuche. Schließlich sollte die Expedition auch einen bestimmten Zeitrahmen nicht überschreiten.

Der Film ist aber auch ein Dokument darüber, wie eine vermutlich gut bürgerliche, deutsche Jugend sich eine Bildungs- und Abenteuerreise vorstellt, organisiert und finanziert. Es ist ein Film über einen Akt der Selbstverwirklichung, sich ein Ziel setzen und das auch durchziehen: das wird am Schluss explizit als die Moral des Filmes in direkter Ansprache an ein vermutet leicht jüngeres Publikum, das diese Bildungsreise noch vor sich hat.

Es ist ein Film der Art wie Egal was kommt, deutsch-technische Eroberung der Welt (das ist die nicht Aussage des Films, das bleibt unterschwellig).

Unfreiweillig ist es eine Dokumentation darüber, wie die Jungs damit umgehen, dass eben lange nicht alles planbar ist. Das zeigt die ellenlange Sequenz des Wartens in Buenos Aires, weil das mit dem Zoll und den vielen Kisten mit dem Kameraequippment alles andere als einfach ist und nicht nach deutschen Regeln funktioniert.

In Buenos Aires gibt es auch einiges an Footage mit versteckter Kamera, auf Kniehöhe getragen. Als Zuschauer wundert man sich, jetzt sind die schon so lange in einem fremden Land und bis jetzt haben sie – außer mit Taxifahrern und Beamten und vermutlich Hotelleuten – noch keine Menschenseele kennengelernt.

Es ist nämlich auch ein Film über eine Erkenntnis, die ihnen vermutlich erst beim Schneiden oder gar mit helfender Beratung gekommen ist: sie waren extrem fokussiert auf die Durchführung ihres Planes und wenn etwas nicht funktioniert hat, waren sie aufgeschmissen.

Erst nach etwa einer Filmstunde, da haben sie ihren ersten Antarktis-Vorstoß schon hinter sich, ist ihnen aufgefallen, dass allein auf so einem Expeditionsschiff sich ziemlich verrückte Figuren tummeln. Einige werden dem Zuschauer nicht vorenthalten: der Bergsteiger mit einer Beinprothese, der in aller Welt Berge besteigen will. Die Kapitänin ist ab und an zu sehen. Aber ein menschliches Interesse an ihr und den anderen Mitreisenden lassen die Jungs vermissen.

Sie sollten sich den Film Weit anschauen, der läuft seit über einem Jahr, jetzt in München noch als Sonntagsmatinee, in den Kinos. Und warum? Vielleicht weil dieses Filmemacherpaar sich primär für die Menschen und nicht für die Umsetzung eines Planes interessiert hat und so auch etwas zu erzählen hat, was mehr ist als nur über die Gründung eines Startups.

Immerhin, ein paar Königspinguine, Robben und Buckelwale sind dann doch noch für den Film abgefallen.
Ein Stück weit auch: ein Film im Sinne eines Projektes und einer Selbsterfahrung wie Drei von Sinnen.

Moritz Daniel Oppenheim

Bunte Mischung kulturhistorischer Fundstücke rund um den Maler Moritz Daniel Oppenheim.

Isabel Gathof hat sich auf die Suche gemacht. Oppenheim war zu seiner Zeit wohl einer der erfolgreichsten Genremaler mit malerischen Topoi wie Frömmigkeit, Bildung, Familiensinn, jüdische Rituale. Er lebte in Hanau und etablierte sich bald als eine Art Hofmaler der über ganz Europa verteilten Rothschilds.

Bemerkenswert an ihm war, dass er vom religiösen Standpunkt aus überzeugter Jude war und blieb, im Gegensatz zu Zeitgenossen, die zum Christentum konvertierten, dass er aber nicht nur jüdische Motive malte, sondern auch christliche und eben auch das Bürgertum, das Familienleben (die Katze als Symbol der Gemütlichkeit), über Gewissensthemen und religiöse Rituale.

Isabel Gathof geht es nicht primär um kinematographischen Ehrgeiz aber auch nicht um eine umfassende Präsentation des Werkes von Oppenheim, eine solche würde einen allerdings nach diesen vielen Appetizern schon interessieren.

Gasthof befragt die Ur-Ur-Ur-Großenkelin des Malers, diese gibt Auskunft über familiäre Angelegenheiten. Sie befragt Nachfahren, einen jüdischen Genealogen, Historiker, Kunsthistoriker, Kuratoren, die viel Wissenswertes auch über die Zeit, über die Entwicklungen des Judentums und der allmählichen Erlangung aller bürgerlichen Rechte im 19. Jahrhundert vermitteln oder über den jüdischen Friedhof in Hanau mit seinen informativen Grabsteinen.

Die Filmemacherin schneidet parallel die Entwicklung und Herstellung einer Skulptur des Malers und einer abstrakten Skulptur, die die Malerskulptur betrachten wird und die in Hanau eingeweiht und prominent aufgestellt werden. Diese konkreten, künstlerischen Herstellungsprozesse werfen bisweilen fast groteske Bilder ab: der Oppenheim als Skulptur im Herstellungsprozess und in Ketten gebunden am Kran hängend.

Die musikalische Untermalung besorgen heiter klassische Streicher.

Mutafukaz

Französisch-Japanische Freundschaft

Gemeinsam mit Shōjirō Nishimi legt der französische Künstler Guillaume „Run“ Renard die Spielfilm-Fassung seines Comics „Mutafukaz“ vor. Die rotzfreche Geschichte vom Loser aus der dystopischen Hood, der nach einem Unfall eine weltweite Verschwörung aufdeckt, verhehlt nie die Lust am Spiel mit sämtlichen Popkultur-Referenzen, derer die Macher habhaft werden können. Auch wenn der ganz große Wurf ausbleibt, lohnt sich der Gang ins Kino. Genüsslich zelebriert der visuell überbordende Animationsfilm die Kunst des Mash-up.

Mit erstaunlicher Hartnäckigkeit verfolgt der französische Künstler Run sein Herzensprojekt „Mutafukaz“. Schon vor der Jahrtausendwende, auf seinem Werdegang vom Webdesigner zum Comic-Künstler, startete Guillaume Renard, wie Run bürgerlich heißt, das Projekt und entwarf dafür einige Flash-Clips. 2002 legte er den 8-minütigen Animationskurzfilm „Mutafukaz : Operation Blackhead“ vor, der die Grundlage für die erfolgreiche Comic-Reihe ab 2006 bildete, die jenseits des Rheins längst Kultstatus besitzt.
Auch wenn er zwischenzeitlich mit “DoggyBags“ (ab 2011) eine zweite erfolgreiche Reihe lancierte, kann er die Finger von „Mutafukaz“ bis heute nicht lassen. Seit 2017 gibt es eine Spin-Off-Comicreihe („Mutafukaz: Puta Madre“), und gemeinsam mit dem Japaner Shōjirō Nishimi hat Renard nun eine Langfilmversion des Stoffes geschaffen, die auf dem Annecy Animationsfilmfestival 2017 ihre Weltpremiere feierte.
Dank des Anime-Spezialisten Peppermint findet „Mutafukaz“ nun den Weg in unsere Kinos. Der Verleih setzt dabei weniger auf die französischen Wurzeln des Stoffes als vielmehr auf die Zugkraft der japanischen Produktionspartner. Dabei verfügt Shōjirō Nishimi keineswegs über den Ruhm eines Katsuhiro Ôtomo („Akira“, 1988), auch wenn er sich ausgerechnet dort seinen ersten Credit im Animation Department erarbeitet hat. Aber die deutsche Manga/Anime-Fangemeinde ist so stattlich wie umtriebig – und „Mutafukaz“ zelebriert die Liebe zur japanischen Comic-Kultur nicht nur hinter den Kulissen, sondern auch stilistisch auf der Leinwand.
Tatsächlich ist das spannendste Merkmal des Streifens weniger die Handlung selbst, als vielmehr dieses rotzfreche, interkulturelle Mash-Up aus Zeichenstilen, Erzählmustern, Leinwand-Konventionen, Referenzen und winzigen Anspielungen auf alle möglichen popkulturellen Medienangebote wie Games, Comics, Film und Musik. Die Einflüsse der Neo-Ligne Claire eines Yves Chaland („Bob Fish“) oder Ted Benoit („Ray Banana“) sind überall zu finden. Luc Bessons visuelle Ästhetik war wohl prägender als Tarantinos Erzählkraft, aber wohl nicht so stark wie die Gewaltexzessen einschlägiger Egoshooter.
Im urbanen Ghetto-Alltag von Dark Meat City mischen sich Hispano-Gangsta-Style („Sin Nombre“, 2009) mit hyperästhetisierten Shootouts in Slowmo à la „Matrix“. Das Alter Ego von Los Angeles entpuppt sich als eine überhitzte Megapolis aus dem Prospekt für Genre-Visionen – einschließlich allerhand schriller Figuren, wie man sie auf Cosplay-Conventions findet.
Hier schlägt sich der 22-jährige schwarze Hänfling Angelino mit Gelegenheitsjobs durchs Leben und bewohnt mit seinem besten Freund Vinz, einem skelettierten Feuerkopf, sowie einer Kakerlakenarmee ein siffiges Apartment im Mietshaus-Dschungel. Gemeinsam mit dem notorisch Verschwörungen witternden Willy bilden sie ein scheues Trio, das sich aalglatt durch den brutalen Alltag mogelt. Doch eines Tages hat Angelino in seinem Job als Pizza-Lieferant einen folgenschweren Unfall: er kann die Augen nicht von dem schönen Sailormoon-Klon auf dem Gehweg nehmen und prallt mit seinem Moped geradewegs in eine Citroën-Cammionette – japanisch-französische Freundschaft in ihrer Reinform.
Danach plagen Angelino gewaltige Kopfschmerzen und offensichtlicher Liebeskummer. Nur bleibt für letzteres keine Zeit, denn seltsame Visionen suchen ihn heim, wenn er Passanten auf der Straße plötzlich als obskure Monster wahrnimmt (ein Schelm, wer hier an John Carpenters „Sie leben!“ denkt). Schon stürmt ein schwerbewaffnetes Einsatzkommando das Apartment und zwingt die Kumpels zur Flucht. In Willys Wohnwagen finden Angelino und Vinz zunächst Unterschlupf, doch liegt der am Kreuzpunkt diverser Gangs des urbanen Ghettos. Und der skrupellose Bruce Maccahabee und seine „Men in Black“ haben sie natürlich längst lokalisiert. Bleihaltige „Diskussionen“ werden unausweichlich…
Nicht immer gelingt der Transfer von der Vorlage auf die Leinwand, und Geduld ist nicht gerade die Sache des französisch-japanischen Regie-Duos. Atemlos jagt die Erzählung durch die prototypische Genre-Handlung. Wie im Rausch werfen die Macher mit kleinen und großen Referenzen um sich, irritieren mit obskuren Erinnerungsfetzen als Verweise auf die tiefere Hintergrundhandlung. Und natürlich dürfen Visionen aus Gewalt und Waffenfetisch nicht fehlen, das Heroic Bloodshed der End-Achtziger eines John Woo und eines Wong Kar-wai haben auch in Frankreich tiefen Eindruck hinterlassen.
Der fiebrige Wahnsinn hat Methode, denn Nishimi und Renard lenken mit dieser selbstironischen Reizüberflutung locker davon ab, dass hier mit altbekannten Handlungsmustern hantiert wird. Das mutige Neben- und Miteinander unterschiedlichster Einflüsse aus Fernost, dem frankophilen Europa und Hollywood strahlt eine ganz eigene, eine verführerische Faszination aus, die sich dem Schicksal der „Mutafukaz“ gerade noch so unterordnet. Nishimi und Renard gelingt es, die 90 Minuten so stringent zu halten, dass das Finale wie bei einem guten Game irgendwie unerwünscht – weil auf jeden Fall zu früh – kommt. Unwillkürlich hofft man auf eine Fortsetzung, oder zumindest auf eine deutsche Veröffentlichung der Comics.

D-Start: 25.10.2018
http://www.mutafukaz.com/
http://www.777run.com/

Mein Stottern

Dass Stottern fürs Kino ergiebig sein kann, hat 2010 der Film The King’s Speech über den britischen König George gezeigt, der diese Behinderung überwinden muss und dann eine ganz wichtige Rede hält. Dieser erfolgreiche Spielfilm war direkt der Anlass für Petra Nickel und Birgit Gohlke, einen filmischen Erkundungsbericht zu dem Thema in Angriff zu nehmen.

Sie haben das Projekt über mehrere Jahre verfolgt. Protagonistin und Sucherin ist Brigit Gohlke, die selbst vom Stottern betroffen ist – auch sie wird am Ende, da schließt sich der Kreis zum Spielfilmvorbild, im Tonstudio mit Bravour einen Text (zum Thema) sprechen.

Es fängt mit familiären Problemen an. Birigt ist schwanger und überlegt mit ihrem Mann, wie sie das Kind nennen sollen. Denn es muss ein Name sein, bei dem eine Mutter oder ein Vater nicht steckenbleiben, wenn sie ihn rufen.

Nickel und Gohlke machen einen weiten Tour d‘ Horizon zu Menschen, die vom Stottern betroffen sind und befragen sie, wie sie damit umgehen, wie sie die Diskriminierung in der Jugend erlebt und bewältigt haben, mit welchen Methoden, sie versuchen, das Leiden, das eine Gehirngeschichte sei, zu vertuschen.

Das sind Tricks des Nichtssagens, des Benutzens von weniger schwierigen Wörtern, der Prolongation.

Es gibt Stottertherapeuten. Beim Singen im Chor oder Solo passiert es praktisch nicht. Es gibt berühmte Leute, die betroffen sind, Bruce Willis wird erwähnt und Marilyn Monroe. Es ist etwas zu erfahren über das Gefühl der Entblößung, was solche Menschen erleben, wenn sie in der Öffentlichkeit vor einem Plenum direkt angesprochen werden.

Dann gibt es den Schauspieler, der für eine Szene das Stottern üben muss.

Der Haupttenor im Umgang mit diesem Defekt ist der, dass man dazu stehen soll, dass das Offenlegen des Stotterns der beste Weg sei, das Ablegen der Vertuschungspraktiken.

Wer bis zur Pubertät das Stottern nicht abgelegt hat, der wird es nie; aber er kann eine deutliche Reduktion der Stotterereignisse erreichen durch Üben, durch Training.

Interessant ist die Statistik, die sagt, von den erwachsenen Stotterern seien fünfmal so viele Männer wie Frauen, insgesamt etwa ein Prozent der Bevölkerung. Das wären in einem Land wie der Bundesrepublik mit etwa 80 Millionen Einwohnern immerhin 800′ 000 Menschen. Vielen davon kann dieser unaufgeregte, sehr persönliche Film Support, Tipps, moralische Unterstützung geben, denn ein Kampf ist es immer. Andererseits kann er auch ein erhellendes Beiprogramm zu „The Kings Speech“ sein.

Text mit Nettostottern lesen, also ohne kompensatorische Lösungen und dann nacherzählen.
Nettostottern, da muss man ganz schön mutig sein, stottern ohne Drumherum. Abflauen von Stotterereignissen.