Kommentar zur den Reviews vom 14. Juni 2018

Ins Gedächtnis gebrannt. Die erste Liebe bis ins hohe Alter. Eine irisch-deutsche Liebe: einseitig. Wenn Richter nach Ärztebefunden Zwangseinweisungen verlängern. Auch wenn sie tot ist, Oma lässt nicht locker. Von eingefleischtem Professoren-Rassismus. Würdiger Rahmen für eine unsterbliche Sängerin. Die Worte von Papst Franziskus. Der Sternenhimmel, den es nur einmal gibt. Und im TV ist jemand sehr alt geworden.

Kino
VOM ENDE EINER GESCHICHTE
Was, wenn die große Jugendliebe nie zustande gekommen ist?

LOST IN THE LIVING
Was, wenn die schicksalshafte Liebe einseitig ist?

12 TAGE
Hier prallen die Ansichten der Psychiatrie-Patienten und ihrer Zwangseinweiser aufeinander.

HEREDITARY
Horrormacht einer toten Oma.

DIE BRILLANTE MADEMOISELLE NEILA – LE BRIO
Professoralem Rassismus einen Nasenstüber versetzt.

AUF DER SUCHE NACH OUM KULTHUM
Bio mit erzählerischem Trick: es soll ein Film über die unvergessliche ägyptische Sängerin gedreht werden.

PAPST FRANZISKUS – EIN MANN SEINES WORTES
Als Imagefilmer verzichtet Wenders auf kirchlichen Pomp und Liturgie und als geschulter Jesuit zitiert der Papst Dostojewski.

STERNENJÄGER – ABENTEUER NACHTHIMMEL
Der eine und einzige Nachthimmel mit viel irdischem Streulicht als Beifang.

TV
LEBENSLINIEN: WIE ICH 107 JAHRE WURDE
Große Leidensfähigkeit, sich treu bleiben und die letzten Jahre wie im Paradies finden.

Vom Ende einer Geschichte – The Sense of Ending

Als noch der Postbote klingelte.

Das kann nur das Kino. Und mit diesem beiläufigen Humor kann es nur das britische Kino. Ein attraktives Porträt zu zeichnen von einem zum Griesgram prädestinierten Alterling, der sein vermeintlich nicht gelebtes Leben doch noch leben, eine unvollendete (Liebes)Geschichte zu einem Ende bringen möchte, wie der Titel andeutet.

Bei all seinen unangenehmen Eigenschaften und seiner nicht gerade explodierenden Altersattraktivität gibt er nicht auf. Das macht ihn schon mal sehr menschlich. Und bietet keine Chance für ein Klischee. Auch wenn er nervt.

Durch einen Brief kommt die Story in Gang, durch Briefe wird sie vorwärtsgetrieben und am Laufen gehalten. Der Postillon klingelt in diesem Film noch und er verlangt die Unterschrift auf so ein komisches Gerät; er ist noch der postillon d‘ amour. Aber: einer vergangenen Liebe.

Insofern hat der alt gewordene Liebhaber Tony Webstern (Jim Broadbent) ein Ersatzleben geführt. Er hat seiner großen, nie realisierten Liebe Veronica (als jung: Freya Mavor) „einen Schrein“ gebaut, indem er einen kleinen Handel mit gebrauchten Leicas betreibt. Mit so einer hat sie ihn fotografiert, als sie als Studenten miteinander zugange waren, nie aber intim zueinander fanden.

Realisiert hat die Liebe mit dieser Frau stattdessen sein bester Studienfreund, der philosophische Adrian (Joe Alwyn). Worauf Tony unfreundlich reagiert hat – die Post spielt eine Rolle dabei. Daraufhin hat Adrian sich umgebracht.

Inszeniert hat den Film Ritesh Batra (Lunchbox) nach dem Drehbuch von Nick Payne nach dem Roman von Julian Barnes.

Eine Facette des Humors des Filmes zeigt sich in einer Szene, die hinter einem Computerbildschirm aufgenommen ist, wie Tony und zwei weitere ältere Herren, die damals mit ihm Studenten waren, den Internetverächter Tony in das Aufspüren ehemaliger Klassenkameraden einführen: ein Theater für sich, die drei ergrauten Köpfe und darin ihre Erinnerungen und Kommentare und Vermutungen zu damals.

Jetzt, Jahre später, erhält Tony einen Brief aus dem Nachlass der Mutter von Veronica, von Sarah (Emily Mortimer), auch sie war damals eine selbst für Studenten höcht attraktive Frau. Da Tonys Ex Margaret (Harriet Walter) Anwältin ist, konsultiert Tony sie für die Recherche, denn die Absenderin Veronica bleibt vorerst unauffindbar.

So spannen sich die Fäden, Fährten und Entwicklungen, verfolgte und nicht verfolgte und entwerfen dabei ein vielschichtiges Bild von Tony und seinem ungelebten Leben, seiner nie vollendeten Geschichte, was nachzuholen in ihm plötzlich die Hoffnung – und den Jagd- und Stalkingtrieb – weckt.

Als kurioser Ablenker und Bewahrer vor tierischem Ernst funkt immer wieder ein Seitenstrang in die Geschichte hinein. Tonys lesbische Tochter Susie (Michelle Dockery) ist schwanger. Und da ihre Mutter nicht abkömmlich ist (Gips am Bein), soll Tony sie zum Geburtsvorbereitungskurs in einen Kreis lesbischer, werdender Mütter begleiten.

So wird Tony bald schon die Chance erhalten, wie bisher am Leben vorbei, Opa zu werden, allerdings wird er dieser vertanen Möglichkeit kaum je nachtrauern können, weil es dann einfach zu spät ist.

Weiteres Beispiel für den leichten Umgang damit, wie das Leben Szenen erleichtern, anreichern oder davor bewahren kann, todernst zu werden: bei einem Gespräch mit der alten Veronica in einem Lokal spielen an einem Nebentisch Kinder, indem sie rhythmisch nervend auf den Tisch hauen und Tony ganz erbost ruft: der Zoo ist dort drüben! — das Leben spielt am Nebentisch….

Der Film zum Brexit? Das ist ja auch der Ausstieg aus einer Geschichte.
Literarische Referenz (und Verortung) Dichter Dylan Thomas
Für allfällige Stalker: Veronica steigt an der Highgate Station aus.
Oder: freie Seniorenradikale?
Tragédie humaine: ist er nie richtig Mensch geworden?
Unerbaulicher Typ, der sich immerhin entschuldigt.

12 Tage

Dieser Film von Raymon Depardon dokumentiert im direkten Sinne ein rechtsstaatliches Verfahren, das in Frankreich im Zusammenhang mit Zwangseinweisungen in die Psychiatrie zur Anwendung kommt. Das Verfahren muss alle 12 Tage wiederholt werden.

Es geht um die Prüfung der Ordentlichkeit der Begründung zur Aufrechterhaltung des Zwangsaufenthaltes. Depardon dokumentiert eine ganze Reihe solcher Termine in einer psychiatrischen Anstalt in Lyon.

Anwesend ist immer ein Richter oder eine Richterin, der Patient oder die Patientin mit einem Anwalt oder einer Anwältin, dazu kommen allenfalls noch betreuende Personen, Pfleger oder Aufsichtspersonal.

Zwischen den Verhandlungen schneidet Depardon Impressionen aus dieser geschlossenen Anstalt, er fährt mit der Kamera in Horrorfilmposition langsam durch die Flure, er beobachtet einen Patienten beim Hofgang, der wie ein Raubtier im Zoo im Käfig auf und ab geht, er zeigt Bilder der Beruhigungsstation, ein Bett mit den Bändern zur Fixierung, Gitter um die Anstalt und am Ende Impressionen aus der Umgebung der Anstalt, dem Eingang, den Schranken und eine symbolhafte Allee leicht im Nebel.

Durch die neutrale Beobachterposition des Dokumentaristen, er nimmt die Verhandlungen mit zwei Kameras auf, eine ist auf den Richter oder die Richterin gerichtet, die andere auf deren Gegenüber, also den Patienten, Anwalt, Pfleger, und auch durch das ruhige Kinobreitformat, kommt deutlich zur Geltung das Problematische an zwangsweiser Unterbringung in der Psychiatrie und auch das Delikate an den Verfahren, die Verlängerung aufgrund von Ärztebefunden zu entscheiden. Mögliches Argument: Gefahr für andere und für sich selbst. (Da denkt man sogleich an den Begriff der „drohenden“ Gefahr, mit dem der neue bayerische Ministerpräsident Bayern in Richtung Polizeistaat entwickeln will).

Denn es wird nach Aktenlage der Ärzte entschieden. Die Patienten müssen nachher ein Blatt unterzeichen, nicht dass sie einverstanden sind, sie können ein kompliziertes Berufunsverfahren in Gang setzen, sondern dass ihnen das Protokoll überreicht wurde.

Dramatik, ungeahnte, gewinnt der Film durch den häufigen Gegensatz zwischen den Aussagen der Patienten selber und den ärztlichen Befunden. Die machen deutlich, wie schwierig und heikel doch eine Zwangsunterbringung eines Menschen in der Psychiatrie ist und wie delikat auch die Entlassung, zum Beispiel in ambulante Behandlung.

Denn die Patienten in diesem Film, die wollen alle raus aus der Zwangsunterbringung. Aber sie sprechen auch in sich selbst wiedersprüchlich. Einer bittet den Richter, den Vater zu informieren. Der Richter bemerkt nach Ende der Verhandlung, der Patient habe seinen Vater vor Jahren getötet.

Paranoide Schizophrenie ist auf der Leinwand ergiebig, ob von echten Patienten oder auch für Schauspieler. Diese Wahnwelten, die mit apodiktischer Gewissheit vorgetragen werden und keinen Widerspruch dulden.

Oder die junge Mutter, die an der Zwangsunterbringung leidet und die unbedingt ihr zwei Jahre altes Töchterchen regelmäßig sehen möchte. Auch sie weiß über ihre Situation erstaunlich präzise Bescheid. Das erinnert an den Film Eleanor und Colette.

Filmisch wird das Thema immer wieder behandelt. Dokumentarisch in Deutschland zuletzt im Film Der SPK-Komplex, früher im Fall Mollath, Mollath – Und plötzlich bist du verrückt, der hier Schlagzeilen gemacht hat. Als Spielfilm zuletzt in einer Handykamera-Fingerübung von Soderbergh mit Unsane – Ausgeliefert.

Und die Kinogeschichte spielt hinein: in zwei Verhandlungen wird das Lumière-Festival von Lyon erwähnt.

Sternenjäger – Abenteuer Nachthimmel

Es gibt nur einen Sternenhimmel.

Über diesen einen und einzigen Sternenhimmel wollte Kawe Vakil (Konzept und Schnitt) einen Dokumentarfilm machen.

Nur diesen einen Sternenhimmel in einem Film zu zeigen, befürchtete er wohl, könnte bald fad werden, da es ja – und das wird im Film mehrfach betont – eben nur diesen einen Sternenhimmel gibt; und keinen anderen.

Wobei Sommercamper nächtens sehr wohl stundenlang unterm Sternenhimmel liegen und über das Universum, Gott, die Welt und den Menschen schlechthin philosophieren können. Diesen einen denkanregenden Himmel als solchen in seiner ganzen Erhabenheit und Unerschütterlichkeit in einem Film zu präsentieren, das hat sich Vakil dann wohl doch nicht getraut.

Es scheint, dass er von einer kosmisch-kosmologischen Entfremdung des modernen Kinogängers – und mehr noch: Fernsehzuschauers ausgeht, der die Ruhe und Musse zum Schauen nicht mehr hat.

So betraute er, um Dramaturgie und Text in den Film hineinzuwirken, Mathias von der Heide und Uli Veith damit, dem Film Struktur und Abwechslung zu verleihen. Die haben mit dafür gesorgt, dass aus dem Film ein Produkt modernen Schwarmintelligenz-Verzopf-Dokumentarismus geworden ist mit Drehorten an verschiedenen Enden der Welt, an denen Astrofotografen auf den Zeitraffer gegen den Nachthimmel drücken.

Viel Beifang mit wenig Sternenhimmel drängelt sich um die Himmelsbilder. Wie die Fotografen an ihre Arbeitsorte fahren, mit Camperbus durch Indonesien oder mit dem Jeep in Richtung Nordlicht. Wie die Fotografen ihre Kameras aufstellen oder wie sie mit speziellen Teleskopen uniformierten Schulkindern in Indonesien das Phänomen der Gerhana Matahari total, der Sonnenfinsternis erklären; der Gromo-Vulkan, der Polarkreis, indonesische Teepflücker, Pinnacles, Petroglyphen, Salzseen, Höhlenmalereien, Radioteleskope in der Atacama-Wüste, die sich rhythmisch drehen und jede Menge Drohnenflüge über die weltabgeschiedenen Wirkgebiete der Astrofotografen sowie der Lichtmüll der Industriewelt.

Rufus Beck liest mit Märchenonkelstimme Informationen zu den Bildern und gelegentlich auch Legenden und Mythen von Ureinwohnern aus Australien, Alaska oder Chile.

Die Machart des Filmes lässt bei aller Faszination durch großartige Sternenhimmelbilder eher auf Zweifel an der Größe des Universums deuten; aber auch das Universum ist ja nur endlich, haben wir eben gehört.

Von einer ganz eigenen Faszination sind die Dunkelsternbilder: Lama in Chile und Emu in Australien.

Papst Franziskus – Ein Mann seines Wortes

Apostel des Schönen.

Wim Wenders, der mit David Rosier auch das Drehbuch geschrieben hat, ist, insofern er zweifellos ein Künstler ist, in den Worten des Papstes ein „Apostel des Schönen“.

Dieses Kompliment verdient er sich zweifelsfrei mit diesem Image- oder Messagefilm für den sich dem Kampf gegen die Armut verschrieben habenden Papst aus Argentinien.

Großartig und reine Romantik und Verklärung sind die Schwarz-Weiß eingeschobenen Reenactments aus dem Leben des Franz von Assisi, dem Namensgeber und Vorbild für den Papst.

Wenders bietet ihm eine feine Plattform für die Verbreitung seiner Botschaft. Er begleitet ihn auf jeder Menge Reisen in die ganze Welt hinaus, beim Fahren durch die Massen, nie beim Zelebrieren einer Messe immer nur mit ganz unverdächtigen Ansprachen, die jeder Mensch, der guten Willens ist, bejahen und befürworten kann, ja muss.

Franziskus, ein geschulter Jesuit, ist clever genug, die religiöse Botschaft so zu verkaufen, dass sie von jedem Kirchenverdacht frei ist. So zitiert er lieber Dostojewski und Thomas Morus oder eine populäre Variante des Kantschen Imperativs. Er verzichtet auf Kirchenväter, Kodizes, Kirchenbüchenbücher, Liturgisches, Exhortationen, Sünde und Beichte, auf kirchliche Vorschriften aller Arten und auch auf die Bibel, auf Rosenkranz, Zölibat und Marienverehrung, auf Liturgie und Sakrament.

Franziskus definiert den Menschen als frei im dem Sinne, dass er frei sei, zu lieben oder nicht zu lieben oder zu hassen. Wo aber die Kirche Zugriff auf den Menschen nehmen will, darüber kein Wort (zB das verschnarchte, männlich-zölibatäre Priesterbild). Oder ist die Kirche gar nicht mehr nötig, da sie eh auf allen Prunk verzichten soll?

Nein, der Papst will die Kirche nicht abschaffen, er will sie nur erneuern, das heißt, er will auf die kirchlichen Schafe und wie die Theologie sie sich gefügig macht, nicht verzichten. Kirchenerneuerung: so wie er den bedröppelten Kardinälen eine Gardinenpredigt gegen den kirchlichen Prunkt hält.

Die Botschaft von Franziskus ist großartig: Brücken zu bauen statt Mauern, den desaströsen Nebeneffekten des Turbokapitalismus den Kampf ansagen, die Naturzerstörung stoppen, da seien wir alle mitverantwortlich, innerkirchlich Pädophilie hart zu bestrafen, Missbrauch ebenso, Pomp nicht minder, gegen die Geldgier zu sein, gegen die immer krassere Ungleichverteilung des Reichtums, der gemeinschaftsgefährdend wirkt, dem Menschen die Würde mittels Arbeit geben.

Er kommt glaubwürdig rüber, wenn er direkt in die Kamera von Wim Wenders spricht, sei es in Innenräumen des Vatikans, die in diesem Moment ganz diskret bleiben oder im Garten mit Bäumen und der Petersdomkuppel im Hintergrund und über seiner Schulter immer nur das obere Teil von reich verzierten Herrrschaftsstuhlrückenlehnen.

Aber was nützt das alles. Vor dem amerikanischen Kongress verurteilt er die Rüstungsausgaben. Jetzt unter Trump werden diese massiv erhöht. Er sollte auch nach Deutschland kommen und dem Kabinett Merkel einen Vortrag halten, es fragen, ob das gscheit sei, dass Frau von der Leyen unter wohlwollender Duldung von Frau Merkel sich gleich 12 zusätzliche Milliarden vom überquellenden Bundesbudget unter den Nagel reißt für Hochrüstung. Er sollte die Minister fragen, ob sie das fair finden, dass ein HartzIVler und untere bis mittlere Einkommen im Jahr gerade mal so viel Entlastung oder Erhöhung des Satzes erhalten, was sie als Minister an Diätenerhöhung monatlich kassieren. Die aktuelle deutsche Regierung könnte dringend eine päpstliche Standpauke gebrauchen und vielleicht die Frage beantworten, warum es bei diesen ständig steigenden Steuereinnahmen immer mehr Flaschensammler im Lande gibt.

Aber – es nützt wohl nichts. Der Papst scheint ein Rufer in der Wüste zu sein und im Klerus provoziert er den Aufstand der Pfründenplünderer.

Anfangs ist dem Film gut zu folgen, vor allem der Armutsargumentation vor dem Hintergrund des Lebens von Franz von Assisi. Allerdings nehmen im Film von Wenders zusehends die Reisen, die öffentlichen Auftritte, die Segnungen und Besuche bei Kranken, Armen, Schiffbrüchigen, Heliflüge, Händeschütteln und Klagemauer, Vad Yasehm und Ground Zero, Auftritt vor der UN mit der Umweltenzyklika Laudatio Si, überhand, so dass man sich fragt, ob so ein Leben noch im Sinne von Gottes Wohlgefallen sei, das nicht mehr zur Ruhe kommt, das selbst im Flugzeug noch Presskonferenzen geben muss und nebenbei den Vatikan als Milliardenfirma – wovon kein Wort fällt – im Griff behalten muss. Ob, was er selber verurteilt, dieser Overdrive, dieses Leben auf der Überholspur (als Geisel der Terminplanung) noch gut ist für einen Seelsorger und Theologen? Denn diesen Eindruck von immer mehr Betrieb und Aktivität erweckt Wenders mit dem Schnitt.

Andererseits stellt sich die Frage, ob den Politikern so ein Papst gerade recht kommt, der sich als Stimme der Armen (sein Schock über den ersten Anblick einer Gated Community), Unterdrückten, Kranken, Benachteiligten, Flüchtlingen vor Krieg und Armut oder von Naturkatastrophen, gibt, damit diese das Gefühl bekommen, sie hätten auch eine Stimme in dem immer mörderischeren Wettkampf der Globalisierung und der immer schneller sich weitenden Drift zwischen Arm und Reich, die destabilisierend wirkt und gegen die die Politik kein Mittel hat.

Als Seelsorger kennt er die Nöte der Menschen auch aus der Beichte und kann so verständlich zu ihnen sprechen, auch mal mit einem Lachen. Er gewinnt Sympathie mit Fußwaschungen von Gefangenen. Zum Thema Frauen hingegen möchte man mehr hören, wenn sie schon so wichtig sind, wie er sagt, warum sind sie nicht im Klerus? Und was ist mit dem Zölibat, das Thema hat er sich wohl von Wenders verbeten. Solcherlei könnte die schöne Stimmung diese Image-Filmes rasch bedenklich trüben.

Lost in the Living

Ein Liebesfilm.

Ein irisch-deutcher Liebesfilm. Ein wunderschöner Liebesfilm von Robert Manson (Drehbuch und Regie; sein erster Langfilm nach einer ganzen Reihe von Kurzfilm).

Die kurze Liebe zwischen dem Iren Oisin (Tadhg Murphy) und der Deutschen Sabine (Aylin Tezel). Die beiden spielen das, als sei es die einzige Rolle, als seien es die Rollen ihres Lebens, das Spiel einer radikalen Liebe; einer Liebe, die mit Naturgewalt ihren Weg geht, einer Liebe, die keiner der beiden gesucht hat; der Zusammenprall zweier Elemente wie von Schiksalshand; aber auch gar nicht als etwas Hervorgehobenes, etwas Ungewöhnliches, etwas Besonderes, etwas Romantisches.

Die Liebe als ein alternativloser Vorgang, als Lauf der Dinge von einem Gewicht mit Begleiterscheinungen, dass für Oisin der Tod der Mutter schon passiert ist und der Tod des Vaters während dieser Liebe passiert; und wenn sie auseinanderbricht, zeigen die Kompensationen von Oisin deren Wucht: das geht nur mit Absturzszenarien, mit Drogen und Disco, mit auf der Straße landen, mit Verlust der Freunde von der Band.

Oisin ist mit seiner Band nach Berlin gekommen. An einem lustigen Ausgehabend ist er in einer Disco auf Sabine gestoßen. Da gibt’s keine Tändelei. Sie macht ihn zwar darauf aufmerksam, dass die Herrentoilette woanders sei. Es hilft nichts. Sie stoßen aufeinander wie zwei Gestirne.

Bald schon nimmt sie ihn nach Hause, zu einem Häuschen etwas außerhalb von Berlin, stellt ihn der Mutter vor. Die ist mäßig begeistert. Frank (Stephen Patrick Hanna) nimmt sie bei sich auf. Eine Selbstverständlichkeit so selbstverständlich, wie die beiden sich lieben.

Wobei Sabine doch bürgerlicher eingestellt ist und über den Liebestaumel hinausdenkt; ihr Gewissen und ihr Freund Felix geben zu verstehen, dass es für sie nur eine Eskapade sein kann. Oisin aber hat seine Bandmitglieder sitzen lassen.

Robert Manson erzählt das mit einem physikalischen Sog, wie ihn nur eine deutsch-irische Liebe erzeugen kann. Zu Deutschland hat Oisin aber die Beziehung, dass seine Mutter aus Berlin stammt. Was durchaus Bestandteil der Charakteristik der eruptiven Liebesbeziehung zu Sabine ist. Während sie zu Irland so eine nicht behaupten kann. Lost in loving, lost im Park, in der U-Bahn, am Bahnhof. Eine Liebe, die keine Grenzen kennt – zu kennen scheint.

Die Band von Oisin spielt keltisch-mystische Musik, postmodern, irgendwie David Guetta, Grance, Trans, Step, Cyborg, Interdiemsnional, mehrstufig pulsierenden Beat – in der Eigenaussage.

Hereditary

Das Horrorgenre tummelt sich gerne in Räumen jenseits der Realität und vergnügt sich dabei, jagt sich einen Schrecken ein oder wie hier bei Ari Aster, suhlt sich erst ausgiebig in ausgetüftelten Lichtstimmungen (meist indirekt und gerne über Lampenschirmen, aber auch nicht weiter erklärbaren Birkenstämmen, hell hinterm Haus in dunkler Nacht leuchtend) und in ebensolchem Soundesign, dass man sich manchmal fragt, ob in den Räumen neben dem Kino etwas passiert.

Mit diesen feinen Mitteln und einem prima ausgewählten Ensemble, mit einer Story, die sich gelegentlich etwas im Horror verläuft, aber am Schluss schalkhaft zu grinsen versteht, komponiert Ari Aster eine Art Oma’s Symphonie des erblichen Seins zum Horror.

Symphonie, weil es sich um große Komposition handelt, das Zusammenspiel von Bild, Text, Tönen und auch die Spiegelung der Realität in den von der Hauptdarstellerin Toni Collette (die auch mitproduziert hat) als Annie Graham gebauten kleinen Puppenhäusern mit Möblierung und Darstellung des Lebens und Sterbens der Menschen mit kleinen Figurinen.

Mit so einem Zweifel an der Realität fängt der Film im Atelier von Annie an, – wie er überhaupt jene Kamerapositionen liebt, die dem Horrorgenre förderlich sind und gerne von einem Winkel wie unter der Decke auf den ganzen Raum und das Geschehen blicken, zoomt auf das Haus zu, das ein Modell des Hauses der Familie Graham ist, fokussiert sich auf ein Schlafzimmer und schwups ist es nicht mehr das Modell, sondern das reale Schlafzimmer. Solche kleinen Zweifel an der Realität streut der Film gern und subtil.

Die Mutter von Colette ist gestorben. Eine große Trauergemeinde findet sich im Abdankungsraum ein, ihr Mann Steve (Gabriel Byrne), ihr Sohn Peter (Alex Wolff), ihre noch kleine Tochter Charlie.

In der ersten Phase des Filmes scheint es, dass er einen Zugang zu dieser Oma sucht. In der Trauerrede von Annie, die auf die Widersprüchlichkeit der Person zu reden kommt, in Zeichnungen der kleinen Tochter, die die Welt nicht besonders positiv darstellen, in einer Gruppentherapie für Ersttrauernde, in welcher Annie einen längern Monolog über ihre Mutter hält.

Am meisten horroraffin gezeichnet ist die Figur des kleinen Töchterchens Charlie (köpft gerne Tiere), sie hat einen entsetzten Gesichtsausdruck, fertigt diese unerfreulichen Zeichnungen an, sieht geheimnisvolle Lichtzeichen und kommt bald schon ums Leben.

Mit Joan (Ann Dowd) tritt eine Figur ins Spiel, die den Grundstein für die weiteren Entwicklungen legt, in denen der Horror zum Selbstzweck zu werden scheint, in welcher Medien gefragt sind, die Beschwörung Verstorbener, die ein Zeichen geben sollen – die kommen heftig, diese Zeichen und die schließlich den Grundstein für den doch ziemlich schalkhaften Schlussakt im von innen rot erleuchteten Baumhaus legen, einer Apotheose des Horrors, in der Paimon das Zepter übernimmt.

Nicht auszuschließen, dass es sich bei diesem Film um eine augenzwinkernde Hommage an David Lynchs Kurzfilm „The Grandmother“ handelt.

Die brillante Mademoiselle Neili – Le Brio

Haben Sie Couscous im Hirn?

Professor Pierre Mazard von der Universität von Paris ist ein zynischer Drecksack und mit allen rhethorischen Finessen und Gemeinheiten gewaschen.

In der grandiosen Darstellung von Daniel Auteuil erinnert der Professor momentweise an den jetzigen deutschen Bundespräsidenten, der als Außenimister zynisch genug war, einen Bundesbürger mit Migrationshintergrund im amerikanischen Folterknast schmoren zu lassen, um sich ebenso zynisch bis heute nicht zu entschuldigen dafür. Soviel zum Figurtypus und zur Figuraktualität.

Um Rassismus geht es in der brillant gedachten, intelligent skizzierten und ordentlich inszenierten Komödie von Yvan Attal nach dem Drehbuch von Victor Saint Macary, Yael Langmann + 12.

Neila Salah (Camélia Jordana) stammt aus dem Einwanderer-Milieu der Banlieu. Da sie intelligent ist, will sie studieren. Gleich zur ersten Vorlesung kommt sie zu spät. Professor Mazard unterbricht seine Vorlesung, macht die junge Frau aggressiv-rassistisch an.

Im riesigen Hörsaal versucht er, sie fertig zu machen. Es geht heftig und gnadenlos vorurteilshaft zur Sache unter Pfiffen und Bravos der Hunderten von Studenten.

Dadurch, dass Mademoisell Neila sich nicht einschüchtern lässt, wittert Mazard eine Chance. Ihm stehen ungangenehme Befragungen vor der Universitätsleitung bevor zu seinem rassistischen Verhalten. Wenn er Neila dazu bringen könnten, den nationalen Rhethorik-Wettbewerb unter den Studenten für die Pariser Universität zu entscheiden, so wäre er wohl auch gerettet.

So nimmt er denn Neila unter seine durchtriebenen Fittiche. Macht – für den Zuschauer unterhaltsames – Sprachtraining mit ihr, will ihr alle Gemeinheiten und Finten der Redekunst im leeren Hörsaal oder in der Öffentlichkeit, in der U-Bahn, im Restaurant beibringen.

Sein Programm sind dabei die 38 rhetorischen Strategeme der eristischen Dialektik von Schopenhauer. Auch die Präteritio ist in diesem Film kennenzulernen.

Neilas Nachbar Mounir (Yasin Houicha) steuert einen Ansatz von Liebesgechichte bei, damit der Film nicht zur reinen Rhethorik-Lektion verkommt. Und die Rede von Marc Anton aus dem Julius Cäsar von Shakespeare leistet ebenfalls ihren Tribut.

Auf der Suche nach Oum Kultuhm

Aparte Annäherung an eine große Sängerin.

Die ägyptische Sängerin Oum Kulthum hat auch über 40 Jahre nach ihrem Tod ihre Strahlkraft im arabischen Raum und drüber hinaus nicht verloren. Zu einmalig waren ihre Stimme und ihr Gesang.

Shirin Neshat probiert jetzt (in Zusammenarbeit mit Shoja Azari) eine ganz besondere Annäherung an diese Übergröße von Künstlerin und Frau, an dieses Monument, ohne an der Monumentalität zu kratzen noch sich davon erschlagen zu lassen.

Sie erfindet die Geschichte der Regisseurin Mitra (Neda Rahmanian), die einen Film über Oum Kulthum drehen will. Ihre behutsame Annäherung an die Künstlerin zeigt sie im Film anfangs mit Szenen, die an eine Kunstinstallation erinnern. In einem herrschaftlich ägyptischen Haus sehen wir die Regisseurin durch die Räume gehen; sie sucht die Vorstellung von Oum Kulthum als erfolgreicher Künstlerin wie auch als Kind. Die Figuren begegnen ihr leibhaftig oder mit modernistischen Mitteln würde man sie als Hologramme einspielen. Auf solchen Firlefanz verzichtet Shirin Neshat. Sie arbeitet konzentriert mit der Imagination, der sie aber physisches Futter unterlegt, wenn die Figuren auch rein statuarisch wie in einem Wachsfigurenkabinett gezeigt werden.

Mitra sucht die Darstellerin. Sie entscheidet sich (in der erwachsenen Variante) für Ghada (Yasmin Raeis), eine Lehrerin mit guter Stimme, die aber zweifelt, ob sie darstellerisch der Herausforderung gewachsen ist.

Vor dem Dreh schaut sich das Team Archivmaterial aus der ägyptischen Geschichte an, dokumentarische Filme mit Nasser und Oum Kultuhm.

Wie nach fallengelassenen Brotkrumen, mit denen Hänsel und Gretel ihren Weg rückverfolgbar machen wollten, führt Neshat auch das Thema, ihr ureigenes Thema ein, das des Frauseins sowohl als Künstlerin (und hier lässt sie die Regisseurin im Film ein Konkurrenzgefühl zur Sängerin aufkommen, die in ihrer Großartigkeit immer ganz oben war) als auch als Mutter. Denn während des Drehs verschwindet ihr Sohn. Das stürzt die Regisseurin im Film in eine Krise.

Da der Film gut geplant ist, schreiten die Drehbarbeiten, die mit ruhiger, statuarischer Kamera in der feinen, ägyptischen Gesellschaft und in Konzertsälen spielen, ungebremst fort. Ihr Assistent Amir (Mehdi Moinzadeh) übernimmt die Leitung. Die Figur Ahmad/Latif /Kais Nashif), die für das soziale Gewissen steht, ist längst ins Team integriert.

Am letzten Drehtag erscheint Mitra wieder am Set. Sie will den Schluss ändern. Und obwohl das eine ganz unprofessionelle Sache ist, aus persönlichen Gründen und Krisen so ein Projekt, das mit Geldgebern und den Künstler abgesprochen ist, eigenwillig umzupolen, macht sie es.

Interessanterweise ergibt das in diesem Film ein zusätzliches Moment von einer Vibration zum Thema Frau und Künstler und lässt sie überhaupt nicht, also auch Shirin Neshat nicht, in einem dilettantischen Licht erscheinen. Es scheint, als sei das genau das Salzkorn, das eine Biographie über eine so überragende Künstlerin braucht.

Die Kronjuwelen des Films sind die Lieder von Oum Kulthum, die passend in die Geschichte vom Biopic eingebaut sind. Eine Stimme mit glasklarer Artikulation und Intonation aus einer kaum erreichten Tiefe.