Lebenslinien: Wie ich 107 wurde (BR, Montag, 11. Juni 2018, 22.00 Uhr)

Banane mit süßem Senf.

Die alten Bäume, die könnten was verzellen, da sind hundert Jahr gar nix, meint die Augsburgerin Anna mit 107 Jahren beim Rudern.

Zufriedenheit, Dankbarkeit, Demut, Glücklichsein sind wahrlich keine Trendeigenschaften in unserer emanzipierten, antidiskriminatorischen, turbokapitalistischen Wohlastandsgesellschaft. Dabei hat Anna viel Leid erlebt in ihrem langen Leben, Ausbeutung, Erniedrigung, häusliche Gewalt, Missachtung, Ausnutzung.

Es ist die Geschichte einer langwierigen Befreiung und eines hartnäckigen Sich-Treubleibens, die Susanne Brantl gefunden hat und unter der Redaktion von Christian Baudissin als Lebenslinie berichtet.

Der Titel könnte auch sein, „wie ich erst spät zu einem Glücklichsein gefunden habe“. Mehr als einmal wollte sie ins Wasser gehen. Sie hat von früh an das Gefühl von Rechtlosigkeit vermittelt bekommen, kein herzliches Feedback von der Mutter, vom Stiefvater noch weniger, der hat seinen Lohn lieber versoffen. Und die Mutter musste arbeiten.

Einzig die Großmutter hat das Kind liebenswürdig aufgenommen, so dass es oft Kilometer weiter marschiert ist, um sie zu besuchen.

Der leibliche Vater und seine Familie wollten nichts von ihr wissen. Das hat sich erst mit 80 geändert, wie ihr Mann gestorben ist. Dieser hat sie als Sklavin gehalten, die den Haushalt für ihn macht, er selbst hat seine Freiheit mit seinen Freunden verbracht.

Leid über Leid prägen die ersten Jahrzehnte dieses Lebens. Dabei war sie eine gute Schülerin gewesen, aber es fehlte das Geld für eine Ausbildung.

Ihr Verantwortungsbewusstsein – sie musste zuhause den Haushalt machen und auch noch für den jüngeren Bruder sorgen, als sie bereits in einer großen Weberei arbeteitete und ein halbes Dutzend Webstühle zu besorgen hatte. Wenn einer wegen eines Fehlers stillstand, lief auch die bezahlte Arbeitszeit nicht weiter.

Als die Fabrik in der Nazizeit verlangte, dass die Arbeiter eine Stunde zusätzlich arbeiten sollten und das Geld dem Führer spenden, da war sie die einzige (von 4000!), die zur Direktion ging und sagte, sie könne das nicht verantworten, sie arbeite so schon viel.

Nicht verwunderlich, dass ihr daraufhin ein hochkomplizierter, fehleranfälliger Webstuhl anvertraut wurde. Aber man dürfe sich nicht gehen lassen, meint sie.

Sie geht heute noch zur Gymnastik und ist vif und lebendig, wenn sie aus diesem langen, leidvollen Leben erzählt, das für sie das Paradiesische, wie sie ihr Leben jetzt empfindet, so lange aufgespart hat. Eher selten dürte ein Mensch zu finden sein, der diese, unsere Welt so schön sieht.

Sich treu bleiben: sie ist Vegetarierin: deshalb bestellt sie zum Weißwurstfrühstück eine Banane; diese bestreicht sie mit süßem Senf.

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