Kommentar zu den Reviews vom 22. März 2018

Der schönste Film kommt aus Indien; „Hickl“ startet nur in ausgewählten Kinos (Hickl; Eine Lehrerin mit Macke). Sonst geht es um Loslösung und Nichtloslösung. Ein nordisches Mädchen am unsichtbaren Faden seiner Mutter. Ein Designer in Paris am Gängelband seiner Provinzherkunft. Sich von den dumpfen Vorschriften der Erwachsenen lösen. An Olympia zugrunde gehen. Von der eigenen Geschichte nicht loskommen in Vorpommern. Sich lösen vom autoritären Managerbild. In späten Jahren sportlich am Leben hängen. Vom Produkt losgelöstes grünes Etikett. Am Starnbergersee ratlos von der Vergangenheit gefesselt. In Blockbusterien kleines Menschenspektrum in großen Robotern. In Kalifornien reglos im Schatten eines berühmten Vaters. Schließlich erlaubte sich stefe einen Kommentar zum dümmsten Filmpreis der Welt.

HICKI
Mit Tourette-Syndrom und reformpädagogischem Ansatz gegen Ignoranz.

THELMA
Die Psychofesselung durch die Mutter ist stärker als jede rationale Freiheit.

DIE SCH’TIS IN PARIS – EINE FAMILIE AUF ABWEGEN
Dem Design in Sch’ti-Manier eingeschenkt.

PETER HASE
Die Gesetze der Erwachsenen sind nicht sakrosankt.

I, TONYA
Siegen macht das Leben nicht leichter.

ÜBER LEBEN IN DEMMIN
Wer Geschichte verdrängt, lässt den Rechten leichtsinnig den Vortritt.

DIE STILLE REVOLUTION
Miteinander ist erfolgreicher in einer Firma als abrichten und forcieren. Humaner Kapitalismus?

ES IST NIE ZU SPÄT
Der Mensch kann auch im Alter Beweglichkeit und Lebensfreude zurückgewinnen.

DIE GRÜNE LÜGE
Die Industrie hat den Begriff Nachhaltigkeit als etikettenwerbewirksam entdeckt.

ZWEI HERREN IM ANZUG
Da steh ich nun mit dem Elend der Welt und kann nichts machen.

PACIFIC RIM UPRISING
Zinnsoldatenroboterwelten.

MIDNIGHT SUN
Eim Promisohn aus Kalifornien hat sich eine Kinorolle mit wenig Futter ausgesucht.

Kommentar
DER DÜMMSTE FILMPREIS DER WELT
Ein Kommentar von stefe zum Deutschen Filmpreis.

Hicki – Was ist das Leben ohne ein bisschen Schluckauf

Lehrerin mit Macke.

Das Unmögliche wollen. Das kann ja nicht sein, dass eine Frau mit dem Tourette-Syndrom Lehrerin wird. Sie hat eine Macke, wie sie es nennt. Sie gibt unkontrolliert akustische Hicks-Äußerungen von sich, rhythmisch (das wird zu geilem Rap der Tamil-Boys verführen!) zuckt mit dem Kopf kurz nacheinander mehrmals zur Seite und stößt mit dem rechten Handrücken heftig gegen das Kind.

Ein Tick, eine Macke. Absolut unmöglich, so jemanden vor eine Klasse zu stellen. Gar vor eine Klasse an einer indischen Schule, in der nur der Abschaum aus den benachtbarten Slums gnädigerweise unterrichtet wird. Die 14 Kids aus armseligen Verhältnissen der Klasse 9f haben einen Ehrgeiz daraus entwickelt, wie lange es ein Lehrer oder eine Lehrerin mit ihnen aushält und schließen Wetten darauf ab.

Die Schule heißt Notker-Schule. Es gibt eine Widmungstafel, die an den Namensgeber erinnert, an den Mönch Notker aus St. Gallen. Im Beinamen nannte er sich selbst „balbulus“, der Stammler, wegen seiner mangelhaften Aussprache. Er war ein Geistesarbeiter in der Blütezeit des Klosters in der Nähe vom Bodensee.

Diese verrufene Klasse 9f wird zur einzigen Chance und zum elementaren pädagogischen Härtetest für Naina Mathur (die großartige Rani Mukerji). Sie hat das Tourette-Syndrom mit dem chronischen Hicks. Sie war selbst auf dieser Schule und verdankte dem Vorbildpädagogen Khan eine anrührende Erfahrung, die sie fortan die Hänseleien – wie kleinkariert sind doch die Menschen – ertragen oder ignorieren lässt.

Denn die Schule ist da, um zu lernen. Reden und Denken von Naina sind normal wie irgendwas, wenn nicht überdurchschnittlich; Tourette macht da keine Abstriche. Ihr Grundsatz ist der, dass es keine schlechten Schüler, sondern nur schlechte Lehrer gibt.

Die Schüler geben ihr manche Nuss zu knacken. Aber sie holt sie da ab, wo sie sich auskennen: beim Kartenspiel, beim Kochen, beim Reparieren von Fahrradreifen, bei Schülerstreichen (Die brauchen Planung und Einsicht!); hat alles mit Mathematik, Chemie und Physik zu tun. Aber das Leben wird ihr nicht leicht gemacht an der Schule. Sie stößt auf erheblichen Widerstand etablierter Lehrkräfte, allen voran Mr. Wadia. Und auch ihre Schüler bieten manche Angriffsfläche. Wobei die Gegenseite nicht weniger vor unlauteren Mitteln zurückschreckt.

Siddharth Malhotra, der mit Anckur Chaudhry auch das Drehbuch geschrieben hat, inszeniert diese spannenden Auseinandersetzungen und Konflikte in großem, schwungvollem Erzählduktus mit Köpfchen, Herz und Gefühl als ein perfektes indisches Kinogericht, musikalisch mit Rap, Bollywood-Songs und gut anheizenden Rhythem unterfüttert und Hoffnung nährend, dass eine Gerechtigkeit und Chancengleichheit auf Erden möglich sei. Letzteres ist vielleicht in unserer zusehends zynischen, sich spaltenden Gesellschaft eher nicht schick.

Dass es sich um eine wahre Geschichte handelt, erzählen die Bilder am Schluss, wie die originale Mrs. Mathur ihr 25 jähriges Lehrerjubiläum feiert und die Darsteller des Filmes für sie Spalier stehen auf dem Weg zum Treffen mit der 9f von damals, von der dieser Film so anrührend und anregend erzählt. Wobei dem Film gewiss leichter Flügel wachsen als dem wahren Leben (Wer die Ängste los wird, bekommt Flügel. – Vom Kartenspieler zum Investmentbanker).

Pacific Rim Uprising

Jake Pentecost (John Boyega) ist nicht sein (eigener) Vater. Das verkündet er gleich zu Beginn. Damit können wir leben, das ist irgendwie einleuchtend, denn sein Vater ist schon tot. Der war der Held im Voläuferfilm Pacific Rim und hat die Welt vor den Monstern gerettet.

Mit dem Satz, dass er nicht sein Vater sei, will der Sohn kundtun, dass er kein Held sei. Er tendiert zu Lebensgenuss in einer halb zerstörten Welt, zur Kriminalität und zum Knast.

Vorm Knast bewahren kann ihn ein Job bei der Kadettenausbildung. Dorthin nimmt er Amara Namani (Callee Spaeny) mit, die er in Gefilden der Roboterschrottausschlachtung kennengelernt hat. Sie hat sich aus Schrott ihren eigenen „Jäger“ gebaut hat. Das behauptet sie jedenfalls, auch wenn man das schwer nachvollziehen kann angesichts der gewaltigen Proportionsunterschiede. Er nennt sie „Schrottplatzbaby“.

Ein „Jäger“ ist ein Roboterriese, in dessen Kopf Menschen sind, die ihn steuern müssen. Damit der Mensch nicht so einsam sei, gibt es Roboter, die zwei oder gar mehrere Menschen als „Piloten“ brauchen. Für diese ist es wie ein Geschicklichkeitsspiel. Sie geben die Bewegungen vor, die der „Jäger“ ausführen soll. Die Steuerung wird en detail nicht erklärt.

Die „Jäger“ sollen für die Sicherheit auf der Welt sorgen. Für den zweiten Film der Reihe haben sich die Macher zur Bedrohung der Welt ein noch viel größeres Ungeheuer ausgedacht – auch menschengesteuert? – gegen das die Jägerpiloten-Kadetten antreten, sich bewähren, zu einem Team werden müssen; von ihnen wird Entschlossenheit, Geschlossenheit und Einsatzfreude gefordert – doktrinär.

Der Spielraum von „Menschen“ in so einem Film ist eng. Sie stehen in disziplinierenden Hierarchien, die Unbotmäßigkeiten nicht ertragen. Sie müssen sich anpassen, funktionieren, sie müssen kämpfen und womöglich siegen. Wobei solche Kämpfe nicht ohne Verluste abgehen.

Das Presseheft zum Film schreibt von einer „innovativen Vision“, die hier geschaffen worden ist. Mir sind mehr die Milchgesichter der jungen Darsteller aufgefallen und die Konstruktion des Produktes mit Blick auf den chinesischen Markt mit einer chinesischen Antagonistin, die peinlich auf korrekt gesprochenes Mandarin achtet. Wobei die Chinesen in der technischen Entwicklung mit ferngesteuerten Robotern die Amerikaner überholt haben.

Die Darsteller kommen mir vor, als hätten sie nicht mehr Eigenleben als Zinnfiguren. Es sind Stereotypen mit kleinem Horizont in einer Welt, die nur aus Groß und Klein besteht, aus Gut und Böse; mehr Differenzierungen in Denken, Handeln und Weltempfindung sind nicht vorgesehen. Die computeranimierte Action soll’s richten. Dazu ein Schuss Kadettenschulromantik (diese laue Geborgenheit in einem System aus Befehl und Law und Order und getränkt mit Weltrettungsideologie).

Die Hologrammtechnik ist in so einem Film allüberall anwesend. Und statt Storyentwicklung gibt es Erklärerei. Das deutet daraufhin, dass diese Bilderwelt näher beim Comicbuch als beim Kino zu verorten wäre. Ein Faszinosum der „Jäger“ ist die golden rotierende Solarplexusturbine. Am Ende wird es nach einigem Jubel doch noch ganz irdisch: „Ich seh zum ersten Mal Schnee“.

Über Leben in Demmin

Die Hansestadt Demmin ist sich ihrer eigenen Geschichte und der Traditionen bewusst und pflegt diese. Dadurch wird die Identifikation der Bürger mit ihrer Stadt gesteigert. Zum Erhalt lan

  • gjähriger Traditionen sollen hanseatische Bräuche, Peenefeste, Fischerinsel, das Museum, Aktivitäten in der Kriegsgräbefürsorge, traditionelle Sportveranstaltungen gefördert werden. Die Bürger Demmins sollen die Traditionen und Werte ihrer Stadt erleben und zu ihrer Erhaltung beitragen.“ Aus dem Leitbild der Website der Hansestadt Demmin.

    Kein Wort von der Aufarbeitung eines grauenhaften Ereignisses, das um die letzten Kriegstage in der damaligen Fachwerkstadt stattgefunden hat: ein kollektiver Massenselbstmord von Müttern mit Kindern. Eine öffentliche Erinnerungslücke, die jährlich von den Rechten mit einem Trauermarsch zum Gedenken an diese Hunderten von Toten für ihre Propagandazwecke genutzt wird.

    Darauf macht diese umsichtige Dokumentation von Martin Farkas aufmerksam. Sie ist eine Ährenleserdokumentation im Hinblick auf das kinematographische Abgrasen der Nazizeit. Er findet noch wenige Zeitzeugen, die als Kinder das Inferno erlebt und überlebt haben. Und die jahrelang geschwiegen haben und auch jetzt nicht leicht in den Erinnerungen kramen (keine schönen Erinnerungen, keine lustigen Erinnerungen, man hat sie begraben).

    Farkas legt damit einen demminkritischen Film vor: er macht schmerzhaft auf diese Aufarbeitungslücke aufmerksam; auf die Inaktivität des Bürgertums, der geistigen Elite des Ortes, falls eine solche vorhanden ist und wie hilflos die Stadt mit einem Polizeiaufgebot von 700 Hundertschaften Polizisten und 500 Gegendemonstranten versucht, dem Trauermarsch von 200 Rechten, die die deutschen Opfer beklagen, zu begegnen und meint, sonst nichts unternehmen zu können.

    Warum, das ist mein Schluss aus dem Film, erinnert die Stadt nicht mit viel größerer Aktivität selbst an die Katastrophe. Tagelang soll die Stadt gebrannt haben. Die Nazis waren abgezogen in Richtung Berlin, haben alle Brücken gesprengt, die Russen, die nachrückten, waren blockiert.

    Dies löste die Panik aus, die zu den Massenselbstmorden führte. Im Wikipedia-Artikel werden die Gräuel der Russen als Ursache angegeben. Aus Zeugenmund hört es sich unentschieden an, es seien Gerüchte gewesen oder auch Propaganda.

    Farkas nähert sich Demmin sachte. Er schaut sich das Leben an, befragt Menschen unterschiedlicher Ansichten. Die Stadt sei tot, hört er, schuld seien die Einkaufszentren an der Peripherie, es gebe enorme Arbeitslosigkeit. Er findet aber auch neu gepflanzte Baumreihen, die als zarte Pflänzchen Hoffnung versprechen.

    Er findet ältere Bürger und Bürgerinnen, die als Kinder das Inferno überlebt haben. Sie sind nicht leicht zum Sprechen zu bringen. Wie ein Mädchen sich mit Bruder und Mutter und vielen anderen Müttern und Kindern in einen Raum unterm Dach zwängten, dann seien Rasierklingen ausgeteilt worden und sie sollten sich die Adern aufschlitzen. Zum Glück hätten es die meisten falsch gemacht, nicht die Arterien getroffen, aber Blut sei trotzdem viel geflossen.

    Wie der Bruder des Mädchens wegwollte und Mutter und Schwester ihm folgten, wie sie einem russischen Soldaten begegneten, der die Mutter erschießen wollte und wie der Bruder sich tapfer vor die beiden gestellt habe, worauf der Soldat den Buben gestreichelt und von seinem Vorhaben abgelassen habe.

    Wie andere Kinder mit einem Messer die Gürtel und Stricke, mit denen Mütter sie an sich gebunden haben, durchschnitten, wie sie in die Peene gehen wollte und so überlebten. Es habe Wochen gedauert, bis all die Leichen von überall in der Stadt weggeräumt waren; monatelang hing dieser Geruch in der Stadt.

    Ein engagierter Lokalhistoriker, der sich des Themas annimmt und es den Rechten entreißt, scheint es in dem Mittelzentrum Demmin nicht zu geben. Vielleicht kann der Film auf diese Lücke aufmerksam machen.

  • Die stille Revolution

    Schnee auf dem Kilimandscharo.

    Fortbildungskino für Führungskräfte und nicht weniger spannend für Mitarbeiter.

    Ein zentraler Begriff in diesem Weiterbildungsfilm von Kristian Gründling ist Upstalsboom. Das ist der Name einer ostfriesischen Versammlungsstätte. Und es ist der Name eines Konzerns, der Hotels und Ferienwohnungen an der Nordsee, Ostsee und in Berlin anbietet. Der Chef dieser Firma ist Mitinitiator dieses Filmes, also ganz klar ein PR-Movie.

    Der „Chef“ dieser Firma ist Bodo Janssen. Der hatte den Betrieb nach allen Richtlinien angelernten Managertums geleitet (der Begriff stammt aus der Zirkuszeit: Dressur der Mitarbeiter; Belohnung und Bestrafung als Instrumente zur Abrichtung). Zahlen waren ihm wichtig, Erfolgszahlen, nicht aber die Menschen.

    Irgendwann spürte Bodo (der ideenmäßig am Drehbuch beteiligt ist), dass von der Stimmung her etwas nicht mehr stimmte im Haus. Er ließ den Laden von einer neutralen Instanz durchchecken. Alle Mitarbeiter wurden befragt. Die Ergebnisse sind offen präsentiert worden. Ein heilsamer Schock für Bodo, der uns aus einem Film derselben Kategorie bekannt vorkommt. Das war 2010.

    Daraufhin fängt er an, den Begriff Management und Führung neu zu definieren. Dabei greift er auf jede Menge Berater zurück, verreist mit seinem Personal, machte Meditationen.

    So ist der Film voll von Tipps und Statements (und Merksätzen) zu dem Thema von Wirtschaftsphilosophen, Wirtschaftsjournalisten, Theologen, Benediktinerpatern, Vorständen, Trainern, Autoren, Direktoren, Professoren für Wirtschafts- und Unternehmensethik, Ideenhistorikern, Sportwissenschaftlern und Mitarbeitern von Upstalsboom aller Ebenen.

    Fünf Jahre später scheint sich der Erfolg abzuzeichnen. Umsatz verdoppelt und die Krankheitsrate tendiert gegen Null. Ohne den Schnee in Afrika und andere Abenteuerunternehmungen auf Kosten der Firma zum Teambuilding wäre Bodo wahrscheinlich nicht so weit gekommen. Jetzt sei die Firma in eine Stiftung überführt worden.

    Der Film gipfelt einerseits in einer Besteigung des Kilimandscharo (und Bekanntschaft mit dem Schnee dort) mit den Lehrlingen, als auch in Statements von Frithjof Bergman, dem Guru der New Work Bewegung bei einer Xing-Konferenz. Dem sind wir neulich schon begegnet in der BR-Sendung Megatrends des BR.

    Die letzte Definition von Erfolg durch Bodo lautet: Wirtschaftlichkeit ist nicht der Sinn unseres Handelns, sondern die Basis unserer Existenz.

    Christof Oefelein hat nebst den Portraitaufnahmen für die Interviews ruhige Landschafts- und Stadtimpressionen für Zwischenschnitte bereitgestellt und Philipp Fabian Kölmer legt einen meditativen Klangteppich darunter.

    Die grüne Lüge

    Kathrin Hartmann ist Journalistin und Autorin. Sie ist argumentenstark beschlagen zum Thema Nachhaltigkeit und wie die Industrie es lügenhaft zu Werbezwecken einsetzt.

    Mit Karthrin Hartmann jettet der Dokumentarist Werner Boote – mit unvermeidlichem ökologischem Fußabdruck – um die Welt auf der Suche nach den Katastrophen, die hinter dem von der Industrie verwendeten Begriff der Nachhaltigkeit und dem Label „grün“ stehen.

    Hartmann und Boote treffen sich in Wien, schauen bei der Verleihung des Sea-Award vorbei; starten dann zu einem Langstreckenflug nach Sumatra und Bali. Dort gibt es Brandrodungen zu besichtigen und die Nachfrage beim Palmölproduzenten, wie das mit der Nachhaltigkeit zu vereinbaren sei. Solches Nachbohren verläuft meist so ab, dass die Sprecher der Firmen sich in Floskeln vernuscheln.

    Die beiden Weltreisenden haben sich für ein günstiges Round-the-World-Ticket entschieden, in dem noch eine freiwillige Klimaspende dabei sei; was den Treibstoffausstoß ihrer Flugzeuge nicht mindert.

    In Bali gilt es, einer Konferenz von Palmöl-Produzenten beizuwohnen. Dann machen sie rüber in die USA nach Louisiana am Golf von Mexiko. Dort spült das Meer täglich giftige Teerklumpen an den Strand. BP behauptet, es hätte sein Teil zur Reinigung beigetragen. Boote jedenfalls tankt nie mehr bei BP. Er vergiftet wohl inzwischen die Luft mit Benzin von anderen Herstellern.

    In Boston gibt’s ein Picknick mit einem geistesschnellen Professor aus Indien und als touristisches Schmankerl kommt ein Besuch bei einem Künstler, dem König des Schrotts, hinzu.

    Es folgen Kohletagabbau in Garzweiler in Deutschland. RWE macht damit seinen Profit und der Feinstaub ist bis Skandinavien nachweisbar. In der RWE-Werbung dominiert das Grün. Nach Garzweiler fahren sie im Tesla, dem dort prompt der Strom ausgeht; Kathrin Hartmann nutzt das, um die mit dem E-Auto verbundenen ökologischen Lügen aufzudecken.

    In Brasilien schließlich suchen die beiden Dokumentarreisenden Kontakt zur indigenen Bevölkerung, die dabei ist, sich Farm um Farm von Rinderzüchtern zurückzuhohlen, die sie illegal auf ihrem Stammesgebiet errichtet hatten.

    In Boston fordert Noam Chomsky den Dokumentaristien auf, wenn er etwas verändern wolle, selbst eine NGO zu gründen (dieser bleibt aber lieber beim Filmen; ist wohl angenehmer). Chomsky verweist historisch auf die nachhaltigen Folgen solchen Vorgehens, das bei der jetzigen dominierenden Struktur der kapitalistischen Konzerne diese ablösen werde.

    Dabei könnte Boote viel Zeit, Geld und vor allem ökologischen Fußabdruck sparen, wenn er seinen Film am Computer zusammenstellte und die Interviews über Skype führte und das Bildmaterial sich übers Internet schicken ließe. Der Infogehalt samt Bildmaterial zur Belegung seiner Thesen wäre bei der heutigen Technik nicht weniger kinoreif herzustellen und er hätte mehr Zeit für gründlichere Recherche für die Kausalzusammenhänge inklusive unser Verbraucherverhalten.

    Aber wir brauchen diese Filme, solange wir s & m kaufen und lutschen, solange wir Produkte von Unilever, die mit Palmöl verarbeitet sind (hier gibt es keine Nachhaltigkeit) im Supermarkt einkaufen, solange wir automobil unterwegs sind oder Strom von RWE benutzen oder Öl von PB tanken oder Rindersteaks aus Brasilien verzehren. Gesucht wird eine neue Lebensweise, die Macht der Konzerne muss gebrochen werden. Aber solange wir uns gierig auf deren Produkte stürzen, so lange geben wir ihnen die Macht. Bilder von der Macht von Demos zieren den Abspann diese kurzweiligen Öko-PR-Filmes.

    Zwei Herren im Anzug

    Josef Bierbichler, Schauspieler, Autor und Regisseur in einem, wirft hier seinem Publikum schwere Brocken, Knochen vor, an denen er nagt und schwer nagt. Und das Publikum soll mitnagen, friss oder stirb.

    Es sind Knochen des letzten Jahrhunderts, von denen er nicht loskommt, von denen er möchte, dass auch wir davon erfahren, dass es sie gibt und dass sie ihn nicht loslassen. Die Knochen sind – es handelt sich um autobiographisch familiengeschichtliche Elemente vom Starnbergersee – der Erste Weltkrieg, die aufkommende Nazizeit, der Zweite Weltkrieg, das Wirtschaftswunder, der Missbrauch in einem katholischen Internat und – irgendwie auch – das unausweichliche Brauchtum.

    Der heftigste Knochen ist Bierbichler selbst als selbstmitleidiger Materialist angesichts eines heftigen Sturmes, der in seiner Wirtschaft am Starnbergersee das Dach abdeckt. Es ist gerade Faschingsball und Maskenprämierung. Die muss abgebrochen werden. Nach dem lauten Knall, mit welchem das Dach abgedeckt wurde, interessiert ihn zuerst das Schadensregelungsproblem.

    Es sind heftige Knochen (ob nahrhaft oder nicht, ist eine andere Frage) und zwar nicht kulinarisch serviert, sondern so, dass der Zuschauer mitleiden soll an den Sachverhalten als auch am Leiden des Protagonisten. So dass der Schluss, Bierbichler habe sich mit diesem Film befreit von seiner Geschichte, nicht zwingend ist; es wirkt eher so, als könne er nicht loslassen von seinen Knochen.

    Es sind Dinge passiert, die fassungslos machen – oder ist das ein bayerischer Fatalismus, sie so zu präsentieren, müssen sie wirklich fassungslos machen, oder sind das weltfremde Träumer, die die Menschen für so gut halten, dass die hier geschilderten Dinge fassungslos machen? Ist es für einen Künstler, der doch die Abgründe der Menschen kennen sollte, nicht etwas naiv, so zu tun, als entdecke er diese Abgreünde im Menschen eben, als sei er schockiert und ihm falle weiter nichts dazu ein, als seine Schockiertheit uns mitzuteilen?

    Der sinnlose Tod von Soldaten im ersten Weltkrieg, die noch aufgebrochen sind, als ginge es um eine 6-wöchige Sommerfrische. Dann kommt der ältere Bruder, der erst als verschollen gilt, nicht körperlich, sondern auch seelisch versehrt zurück.

    Der jüngere Bruder, Pankraz, der kann nicht in der Stadt Gesang studieren, obwohl er begabt ist.

    Zur Musikkultur: von der wird nicht klar, ob sie Heilung gegen die vorgetragenen Schauderhaftigkeiten geben könne. Ein Knabenchor bietet eine der Musikeinlagen, die das kulturmusikalische Umfeld charakterisiern. Dazu kriegsbegeisterte Soldatenlieder der Burschen, die in den Krieg ziehen, als ob es eine Gaudi wäre, tradtionelle Musik, Kirchenmusik und auch die Oper darf nicht fehlen, die Begeisterung für Richard Wagner.

    Leicht macht es sich der Bierbichler nicht. Er will der Herr über seinen Film sein, weshalb dieser eine eingenwillige Mischung wird, die sich an keinem Mainstream orientiert, die Elemente des Bauerntheaters nicht fürchtet, die dem Dialekt frönt, die Szenen wie die Missbrauchsszene durch den Priester oder eine Kindervergasungsszene in der Nazizeit dreht und wendet und nicht für den schnellen Konsum oder die wohlfeile Empörung herrichtet.

    Ein Kino, was versucht ein ehrlich-bodenständig(archaisch?) bayerisches Kino zu sein, jedem Volkstümeln abhold, aber die Figuren und die Musik und die Trachten und die Bräuche, das Brauchtum, das ist auch so ein Knochen, die sind nun mal da und Bierbichler möchte und kann auf sie nicht verzichten.

    Bierbichler will allen zeigen, wie sehr er an der Arschigkeit der Menschen leidet, als überrasche ihn die Erkenntnis, dass der Mensch dem Menschen ein Wolf sei und zu immer neuen Untaten fähig. Er zeigt sich ratlos anhand dieser Erkenntnis. So verbreitet der Film die Atmosphäre eines Bedröppelungskinos, wenn auch eigenwillig-maunzig. Die Idee, dass Kultur das Mittel sei, um mit diesen abgründigen Eigenschaften der Menschen umzugehen, wird nicht virulent.

    Thelma

    Verhängnisvolle Familienbande.

    Die Abnabelung der Kinder, das Loslassenkönnen, wenn sie erwachsen und flügge werden, das wird in diesem Film von Joachim Trier (Louder than Bombs), der auch hier mit Eskil Vogt das Drehbuch geschrieben hat, in dieser nüchtern, klaren, skandinavischen Betrachtungsweise geschildert, die keinen Gefühlshauch auslassen will, der keine düstere Seelenregung entgeht, als ein höchst verzwickter Prozess, der sich extreme Begründungen zur Verhinderung der Loslösung einfallen lässt, um so zu tun, als handle es sich um einen ganz ungewöhnlichen Einzelfall: um seelisch bedingte, nicht-epileptische Anfälle.

    Joachim Trier erzählt diese Coming-of-Age Geschichte von Thelma (Eili Harboe ist einmalig, schön, sinnlich und abgründig!) im Kern realistisch, umrandet diesen Modus ständig mit souverän herbeigezogenen, durchaus konventionellen und gängigen Horrorbildern (plus dem Element des Flackerlichts) und auch dem entsprechenden Score, brilliert durch feine Dosierung und indiziert damit immer wieder den Seelenzustand von Thelma, der durch die Wahrnehmung bald der Boden unter den Füßen entzogen wird.

    Wobei sich der konkrete Verdacht auf Epilepise nicht bestätigt, wie schulmedizinische Untersuchungen beweisen, womit der Film sich selbst direkt im psycho- bis parapsychologischen Segment verordnet.

    Thelma ist die Tochter von Trond (Henrik Rafaelsen), einem bärigen Landarzt in Norwegen und von Unni (Ellen Dorrit Petersen). Die Mutter sitzt im Rollstuhl. Es gab noch einen kleinen Bruder Mathis. Der ist offenbar früh verstorben.

    So bleibt Thelma Einzelkind. Sie will in der Stadt Biologie studieren. Das behütete Kind allein in der Stadt. Täglich hält sie über Handy Kontakt mit den Eltern. Die sind dargestellt als christlich, als wissend, aber dem Kind nicht alles sagend, als verständnisvoll und tolerant (das zeigt ein Vater-Tochter-Telefongespräch über Alkohol – Fesselung durch Vertrauen: Du kannst mir alles sagen), auf eine Weise, die ein Bremsklotz von der Gewalt eines Autochthons sein kann.

    An sich wäre Thelma frei in ihrem Studentenleben, sie könnte sich der Liebe von Anja (Kaya Wilkins) hingeben, könnte trinken und rauchen, ihre eigenen Lebensmaximen ausprobieren und festlegen. Aber sie kann nicht. Sie wird wie an unsichtbaren Fäden gehindert, wirkt wie gefangen.

    Und das in einer aufgeklärten Zeit wie heute. Das macht die Macht dieses Filmes aus, dass er spannend untersucht, wie individuelle Freiheit eine Sache ist, die von vielen Faktoren abhängt und durch eine liberalen Gesetzgebung oder eine moderne Lebenswelt längst nicht garantiert ist, sondern auch – wohl besonders stark – von der Familie abhängt. Familiengeschichte und Freiheit, wäre auch eine mögliche Übertitelung.

    Joachim Trier umkreist sein Thema filmisch so intensiv, dass es an das Zuschauen eines Ingmar-Bergman-Filmes erinnert.

    Der ablenkende und einen Einzelfall suggerierende Krankheitsbefund: Psychogenic non-epileptic seizure. So frösteln die Einblicke in die Seelen-Abgründe nur noch mehr; exzellentes, skandinavisches Seelenabgrundkino.

    Midnight Sun

    Schwarzenegger-Nachwuchsmarketing mittels schlicht gestrickter RomCom.

    Vielleicht inspiriert von jenem Film, in dem ein Mädchen das Haus nicht verlassen durfte, weil es eine seltene Krankheit habe, und die Probleme, die sich mit dem erwachenden Erwachsenenleben und der Liebessehnsucht ergeben, hat Eric Kirsten dieses Drehbuch geschrieben über eine junge Frau mit der seltenen Krankheit Xeroderma Pigmentosum.

    Katie (Bella Thorne) darf kein Sonnenlicht sehen, die Folgen wären tödlich. Sie lebt mit ihrem Vater Jack (Rob Riggle) in einem Einfamilienhaus und wird vom Vater im Heimunterricht durch die Schulzeit gebracht.

    Tagsüber kann sie das Haus nicht verlassen. Die Mutter ist früh nach einem Autounfall verstorben. Katie klimpert auf der Gitarre und singt dazu. Vom Fenster aus hat sie sich schon in Charlie verliebt, wie der als Bub täglich auf dem Skate-Board an ihrem Haus vorbeigedüst ist.

    Als Erwachsene spielt Katie nachts auf der Bahnstation Gitarre. Am Bahnhof kommt eine romantische Dampflock an und die Leute geben Geld. Es folgt die Begegnung mit dem erwachsenen Charlie. Er hat ein süßes Lächeln, ist gut gebaut und im wahren Leben der Sohn des Megastars Arnold Schwarzenegger. Das wird auch im Presseheft deutlich hervorgehoben. Insofern fällt es schwer, davon zu abstrahieren.

    Aber man fragt sich, ob der Schwarzenegger-Sprößling schlechte Berater hat oder doch zu wenig Gespür für die Schauspielerei – es wirkt oft so, als lasse er sich, was er als Promikind ja gewohnt sein dürfte, einfach abfotografieren – warum er so ein dürftiges Drehbuch ohne Konflikte, erst recht nicht für ihn, angenommen hat. Bloss weil er auf seinen superberühmten Namen vertraut?

    Das einzige Problem im Film ist, dass Katie lange nicht herausrückt mit ihrem Problem. Und der Vater ermahnt sie, das ist schön amerikanische Moral, es Charlie zu sagen, denn er verdiene es.

    Zur Krankheits- und Liebesgeschichte wird noch ein Strang naiver Erfolgsstory eingebaut. Charlie organisiert für Katie eine Studioaufnahme eines Songes, setzt den auf Youtube und es kann nicht ausbleiben, dass in kürzester Zeit Millionen Zugriffe zu verzeichnen sind und der Song auch am Radio gespielt wird. Wenn das Leben und erst recht das Showleben so leicht wären.

    Durch die prominente Besetzung dürfte dem Film allerdings eine gewisse Klatschspaltenrelevanz sicher sein. Für Filmkritikerrlevanz oder für Markttauglichkeit müssten sich die Macher mehr einfallen lassen.

    Es ist nie zu spät

    Als ob’s den Tod nicht gäbe.

    Diese Dokumentation von Manuel Schweizer ist ein enthusiastisch-optimistisches Statement zur Lebensbejahung ohngeachtet der Jahrringe. Es gibt kein Alter, in dem der Mensch nicht noch seinen Körper umbauen könnte, etwas Neues anfangen könnte, meint einer der Protagonisten (der fing mit 96 an, auf Medaillenjagd zu gehen).

    Ausdruck der optimistischen Sichtweise auf das Leben und das Altern sind die Bilder: es gibt nur Schönwetterbilder, Sonnenschein, blühende, grüne Wiesen, Hitze oder Schönwetterwolken, eine lichte, freundlich-strahlende Atmosphäre.

    Ausdruck des spielerischen Zugangs zu Leben und Sport sind Kameraspielereien und Zeitrafferaufnahmen zwischen den dokumentarischen Szenen.

    Ausdruck des Wunsches, Positives zu vermitteln, ist die Auswahl der Protagonisten. Es sind dies Menschen aus dem östlichen Teil der Schweiz, die in hohem Alter noch Sport treiben oder erst anfangen damit, sich gar neuen Sportarten zuwenden, die das, wie es scheint, nicht verbissen betreiben.

    Sie finden es für sich sinnvoll, wobei der Devise: Bewegegung, Bewegung, Bewegung wenig entgegenzusetzen sein dürfte. Man wundert sich direkt, im Abspann zu lesen, dass zwei der über 100 jährigen Protagonisten inzwischen verstorben sind. Es gab doch gar keinen Grund dafür.

    Die 102-jährige Korrepetitorin an der Ballettschule des Opernhauses Zürich, die in diesem Alter noch im Ballettsaal Klavier spielt und exakt kleine Fehler der Elevinnen bemerkt oder Charles, der im biblischen Alter ganz wild auf Rekordjag geht und enttäuscht ist in London, dass er in seiner Kategorie des 60-Meter-Laufes nur den Britischen, nicht aber den Weltrekord geknackt hat. Drum kauft er sich erst mal bessere Laufschuhe.

    Sigi, der mit 80 noch den halben Ironman sich zutraut. Allerdings muss er im Jahr der Dokumentation zweimal abbrechen. Einmal will er es noch wissen oder er muss sich kleinere Ziele setzen.

    Die unterhaltsamste und abenteuerlichste Figur von allen ist Peter, der spät erst Gleitschirmfliegen lernt und dem Fluglehrer mit seinem Draufgängertum und seiner Unbelehrbarkeit beachtliche Magenschmerzen verursacht, allein schon, weil er der einzige Gleitschirmflieger weltweit sein dürfte, der prinzipiell mit Sandalen fliegt. Waghalsige Wasserspringerei betreibt er auch, inzwischen sogar als brennende Fackel vom 10-Meter-Brett bei Festivals. Er beherrscht die Kunst des Sichfallenlassens.

    Unterhaltsam kann auch Peter sein, der noch Barren-, Reck- und Ringübungen absolviert, und nicht nur das, der sogar clowneske Showauftritte mit einer Gruppe mitmacht. Verena aus St. Gallen holt sich mit 86 in Tallin bei der Weltmeisterschaft im Orientierungslauf eine Goldmedaille.

    Das Alter und das Altern und auch der Sport dringen immer mehr ins Kino. Eher von Fragen aus der Perspektive des Todes ausgehend die Münchner Doku Ü 100, die Schweizer Doku aus Luzern Falten über legere Meisterung und Erhalt von Herausforderungen, dann der Spielfilm Sein letztes Rennen über Marathonlauf im Alter und schließlich die Doku über Wettkampfsportler im Alter Herbstgold, die das erhgeizig angehen. Dagegen präsentiert Manuel Schweizer den Sport als erfrischendes Lebenselixier.

    Wer sich den Eintritt für diesen Film leistet und sich zu mehr Bewegung animieren lässt, der wird in kürzester Zeit den Eintrittspreis amortisiert haben im Sinne von Einsparungen an Medikamenten.

    Damit die Zielgruppe auch die Untertitel lesen kann, sind diese besonders deutlich hervorgehoben. Schweizer bleibt immer lange bei den einzelnen Geschichten ohne die fernsehbedingt hektische Ineinanderverzopferei. Die Musik versteht sich als vergnügliche Aufmunterin. In der Postpro sind ab und an Markierungen eingeblendet.

    Die Website zum Film.