Bolschoi Babylon (Filmfest München 2016)

Der russische Hochkultur- und Exportartikel „Bolschoi Ballett“, 500 Meter vom Kreml entfernt, als eine gnadenlose Maschinerie, die nicht vor Säureattentaten noch davor zurückschreckt, ein Kind in einem Ofen zu garen, letzteres in einer modernen Tanzchoreographie, die jedoch die Ausnahme darstellt im zum Teil recht zopfigen Repertoire des Bolschoi, das allerdings, wie immer wieder behauptet wird, auf welthöchstem Niveau und als eine Geheimwaffe, eine Sprache, die in London, Paris und New York verstanden werde, im Gegensatz zum berühmten Exportartikel Kalashnikov, die inzwischen von moderneren Waffen überholt sei.

Im Gegensatz zur Dokumentation von Frederik Wisemans „La Danse – Das Ballett der Pariser Oper“, der seinen Gegenstand wie einen Forscher ausgehend vom Baupland des Operngebäudes aus allen Richtungen betrachtet und dreht und wendet und untersucht und ein einprägsames Gesamtbild herstellt, das bis in Details von Vertragsverhandlungen hineinreicht, zeigen Nick Read und Mark Franchetti dieses russische Pendant impressionistisch als eine gnadenlose Maschinerie, die pausenlos Opfer und Martyrium fordert zum höheren Genusse eines feinen Publikums bis in die obersten Schichten der Gesellschaft und des Staates, Prestigekultur, hochtraditionell, die vor allem den Ruf, das beste Ballett der Welt zu sein, zu verteidigen hat.

Als Thrill zu dieser Schilderung kommt ein Kriminalfall hinzu, der sich hinter den Kulissen abspielt, ohne dass auch nur eine Vorstellung der Compagnie darunter gelitten hätte, das Säureattentat auf den Choreographen und Ballettchef Sergej Filin.

Das schneiden die beiden Filmemacher teils atemberaubend ineinander; indem sie gleich zu Beginn Aufführungs- und Probenimpressionen zeigen, die Show die wie eine Maschine läuft und dazu düster Töne setzen und Statements von Beteiligten und Betoffenen zum Säureattentat, das ein Konkurrent und Neider, der selbst Ambitionen auf diesen Posten hatte, Pavel Dimitrischenko, in Auftrag gegeben haben soll und der dafür rechtskräftig verurteilt worden ist.

Pavels Frust rührt von Filins Castingpolitik her, denn Pavels Freundin gehört zu den Verlierern. Gegen dieses Argument lässt Filin verlauten, seine Frau, mit der er seit sieben Jahren Sex habe, tanze immer noch in der Gruppe.

Damit kehrt kein Frieden für Filin ein im Bolschoi. Vom Säureattenat hat er sich durch die Behandlung deutscher Ärzte einigermaßen erholt, die befürchtete Blindheit ist nicht vollumfänglich eingetreten.

Aber Filin wird von der Politik ein nachtragender Mann als Theatermanager vorgesetzt, Wladimir Urin, der vom Stanislavsky-Theater kommt. Der trägt Filin immer noch seinen einstigen Wechsel vom Stanislavsky-Theater ans Bolschoi nach. Und wartet nur auf die Möglichkeit, ihn, der Verletzten, abzusetzen. Man sieht sich immer zwei Mal.

Geschichten von Neid, Mobbing einerseits, von glänzendem Erfolg andererseits, so wie sie allerorten vorkommen, wie sie jedem Zuschauer aus seinem Lebensmilieu bestimmt bekannt sein dürften, hier allerdings im aufregenden Milieu weltberühmter Kunst.

Ozeandampfer, der, egal, was an Bord passiert, auf Kurs bleibt und vorwärts stampft, andererseits ein Minenfeld, für eine Kunst, die in äußerster Perfektion Geschichten vom Menschen und seinen Unzulänglichkeiten erzählt. So ein klein bisschen pervers scheint mir das alles auch zu sein; die Gedanken kann sich der Zuschauer selber machen – und reizen würde es ihn schon, jetzt vor Ort sich so eine Vorstellung anzuschauen, unterm Strich also positiver Werbeeffekt – oder Wecken von Neugier im Sinne des Katastrophentourismus?

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