Schlafe, mein Prinzchen (München, Sendlinger Tor Kino, Dienstag, 1. März 2016, 20.30 Uhr; Regensburg, Kino Ostentor, Samstag, 5. März, 15.00 Uhr und Samstag, 6. März, 2016 13.00 Uhr)

Andreas Lechner, der selber mitspielt, hat den musikalischen Abend von Franz Wittenbrink, „Schlafe, mein Prinzchen“ am Berliner Ensemble mit seiner Produktionsfirma Bergfilm sachdienlich fürs Kino aufgezeichnet und zubereitet.

Theater im Kino, eine Kinosonderform, die den Vorteil hat, dass der Zuschauer hier nicht nach Berlin reisen muss, dass er kräftig am Eintrittspreis spart, dass er sich normalerweise nicht so schick machen muss wie für das Theater und dass er auf den Gebrauch des Opernglases verzichten kann; dass er wie in diesem Fall mit einem anregenden Kulturerlebnis rechnen kann.

In zwei Teilen lässt Wittenbrink mit einem höchst spiel- und sangesfreudigen Ensemble Brennpunkte von Kindsmissbrauch Revue passieren ganz ohne die hässlichen Töne, von denen dieser in den Medien meist begleitet wird. Er lässt auch den pädagogischen Eros, der auf die alten Griechen zurückzuführen ist, zu Wort kommen und konfrontiert den Zuschauer besonders im zweiten Teil, der der Odenwald-Reformpädagogik gewidmet ist, mit der Tätersicht: wenn der todkranke Reformpädagoge im Rollstuhl sitzend sein früheres Opfer Ferdinand, der inzwischen ein erwachsener Mann ist, um Verzeihung bittet, dass er ihn im zarten Alter von 12, 13 Jahren missbraucht habe. Der Lehrer wirkt in diesem Moment nicht wie ein Scheusal oder Monster, als welche solche Pädagogen in den Medien allzugerne dargestellt werden.

Ferdinand hatte vorher in einem Monolog von sich berichtet. Er scheint die Missbrauchszuneigung überlebt zu haben, erzählt aber auch von einem Mitschüler, der sich umgebracht habe (wobei die Suizidrate unter Teenagern generell eine der höchsten ist und nicht gesagt ist, dass Missbrauch zwingend der Grund ist. Hat unsere Gesellschaft überhaupt ein sicheres Rezept, wie ein Mensch die oft schwierige Zeit der Pubertät selbstbewusst und unbeschadet überstehen kann?).

Im ersten Teil geht es um den beliebten Missbrauchsort „Kirche“. Die Regensburger Domspatzen haben in ihrem von Geistlichen betreuten Internat einen solchen Skandal erlebt. Eine Lebens- und Wohnsituation wie gemacht für derlei Dinge, wie sie im Theaterstück gezeigt werden. Dass die Lehrkräfte Intimsituationen dank ihrer Autoritätsfunktion leicht ausnützen können. Hier wirkt das irgendwie normal, die Nähe ergibt sich aus den Abläufen und den Räumlichkeiten wie von selbst – und keine Öffentlichkeit weit und breit.

Das Prinzip dieses Liederabends besteht aus einer Aneinanderreihung von Szenen aus Schule, Internat, Kirche, Beichstuhl, Schlafsaal, Camping, Reden an Honoratioren und Freunde der Schulen und Internate und wird immer wieder aufgelöst in Songs. Wobei im ersten Teil die Musik geistlich, der Bühnenraum ein grauer Kirchenraum mit schönem Rosettenfenster im Hintergrund ist, während im Odenwaldteil eine freizügige Ausstattung von Sofa oder Zelt und Lagerfeuer einen lockeren Eindruck entstehen lässt; hier geht der musikalische Bär ab, hier tanzen und singen die Kids von den Beatles übern RocknRoll und bekannte Musicals, das geht bis zum abgeknappten „I did it my way“ des rollstuhlgebundenen Lehrers.

Großartig ist die Figurführung durch Wittenbrink. Oft ist es am Theater ein Problem, wenn Erwachsene Kinder darstellen. So perfekt und platzend vor Lebendigkeit dürften Kids selten dargestellt worden sein, wozu die Proportionen der Kostüme, die Perücken und Masken und speziell die spillerige Spelastik der Darsteller zielbewusst beitragen. Eine wilde Truppe wie schwer erziehbarer Buben. Dabei werden die meisten Buben von Frauen dargestellt.

Der Liederabend heult nicht im Chor der fingerzeigig Empörten, er gibt auch den Übeltätern eine Chance, selbst wenn die Pfaffen schmierig daher kommen; aber werden Lehrkräfte und Geistliche nicht seit ewig mit einem Hang zur Karikatur dargestellt; wenn auch nicht immer so pointiert wie Erich Pontos Professor Crey in der Feuerzangenbowle?

Musik und Gesang hören sich für den musikalischen Laien prima an, werden mit oft überbordendem Elan präsentiert.

Wittenbrink hockt sich skrupellos und lustvoll auf den Missbrauchsskandal, betreibt kulinarisches bis nachdenklich machendes Skandalexploitation-Theater.

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