Berlin ist so eine Schlafstadt, dass die Jugend, wenn sie nachts auf einem Hausdach Party macht, flüstert.
Verschiedene Komponente machen den Reiz, aber auch das Problem dieses sportlichen Hochleistungsfilmes von Sebastian Schipper aus, der, so der Untertitel, ein Mädchen in einer Stadt in einer Nacht und ohne Filmschnitt zeigen möchte, 2 Stunden und 20 Minuten lang bis zum Anbrechen des Morgens in Berlin.
Die Goldmedaille für diesen Hochleistungsfilm verdient Kameramann Sturla Brandth Grovle, der das gestemmt hat vom wildem Discoleben über Treppen und Stufen und Straßen und Lifte und indem er einem Fahrrad nachrrennt und in Autos mitfährt.
Das Prädikat für die logistische Leistung der Inszenierung verdient der Regisseur, Inszenierer Sebastian Schipper, der mit Olivia Neergaard-Holm und Eike Frederik Schulz auch das Drehbuch geschrieben hat.
Das One-Take-Prinzip ist einerseits ein Erzeuger von Atemlosigkeit und pausenloser Spannung, dem Live-Effekt des Theaters ähnlich; setzt aber andererseits die ganze Mannschaft gehörig unter Druck.
So braucht der Film lang und einige Leichen, bis er sich von diesem selbstgesetzten Stress befreit. Dann aber ist es eine Befreiung, wie sie im Kino vielleicht selten gelingt, dann fällt eine Strapaze von einem ab. Umso mehr, als die Geschichte doch nicht nur teils verquast ist, sondern anfangs Erwartungshaltungen schürt, die sie krass konterkariert.
Laia Costa, die titelgebende Victoria, ist eine junge Frau, spielt mit ihrem Haar, knüpft es auf und zu, vergnügt sich sorglos im Rausch der Disco. Sie ist neu in Berlin. Unschuldiges Wesen. Bald schon findet sie sich in einem Knäuel junger Männer: „Sonne“, „Fuß“, „Boxer“ und „Blinker“ heißen sie, sind in einem recht triebhaften Alter, auch wenn sie das nicht explizit andeuten. Aber wozu geht man in die Disco.
Der Zuschauer kann sich schnell einen ziemlichen Horror hochrechnen, der ihm möglicherweise bevorsteht. Denn es ist ja auch nicht die berühmte Liebe auf den ersten Blick zwischen Viktoria und „Sonne“, Frederick Lau. Nichts in der Richtung geschieht, weder zotige noch anmacherische Bemerkungen. Der Trieb liegt irgendwie nicht mal in der Berliner Nachtluft. Vielmehr findet sich die Gruppe plötzlich auf dem Dach, dem Lieblingsort der Männergruppe schon von Kindsbeinen an, was in der Darstellung allerdings auch nicht zum Ausdruck kommt.
Noch verblüffender wirkt, dass sie alle der Berliner Nachtruhe wegen nur flüstern. So hochwohlerzogene Nachtmenschen bringt Berlin hervor, eine Stadt, die offenbar doch manchmal schläft und dabei nicht gestört werden möchte. Zu dem Zeitpunkt wirkt der Film wie eine brave Konfirmandenveranstaltung, fehlt nur noch das Lagerfeuer und die Klampfenlieder.
Victoria hat einen Job und soll in aller Herrgottsfrühe in ihrem Café aufräumen und die Öffnung vorbereiten. Dorthin begleitet sie „Sonne“ auch. Jetzt folgt ein außerhalb jeder Erwartungshaltung liegendes Intermezzo am Klavier; Victoria spielt meisterlich. Da ist man baff. Und der Film offenbar ebenso. Es scheint, er weiß jetzt nicht mehr weiter. Es ist, als sei ihm der Schnauf ausgegangen. Er ist jetzt vielleicht etwa eine Stunde alt. Und muss sich was einfallen lass.
Dieser „Einfall“ allerdings stammt aus den schlimmsten Untiefen des subventionierten deutschen Fernseh-Förder-Kinos: es stellt sich heraus, und jetzt wird dieses Kino erklärerisch, dass einer aus der Gruppe eine kriminelle Vergangenheit hat und aus der Knastzeit einem Ganoven einen Gefallen schuldet. Was jetzt an Geschichte folgt, ist ödestes Papier. Hier wirkt der Film nur noch wie eine liebenswürdige Kinderei dem angestrebten Rekord zuliebe, der vermutlich sicher bald, vielleicht von einem Bela-Tarr-Epigonen, eingestellt werden dürfte. So ist das halt mit Rekorden.
Aber Victoria macht alles brav mit. Vielleicht aus diesem Grunde nimmt einen am Schluss die unerwartete Entwicklung oder das Zulassen des Dramas, dann doch noch mit, vielleicht auch dank der Ausdaueranstrengung des Schauens, des sich An-die-Figuren-Gewöhnens.
Das Prinzip der schnittlosen Live-Inszenierung ist ein Unique Selling Point für so einen Film. Es scheint sich dabei leider mehr um einen Akt selbstverliebter Ambition, denn um die aufregende Verpackung für eine aufregende Geschichte zu handeln bei allem Respekt für die sportlich-physische Leistung und auch der überzeugenden Schauspielerei, obwohl die gegen Ende oft arg hyperventiliert (im Sinne eines Kommentierens).
Formale Klassik: aristotelische Einheit von Handlung, Ort und Zeit, wobei die Handlung mit Abstrichen.
Was uns Sebastian Schipper jedoch über das Leben erzählen will, außer seiner Ambition „one night…. one take“, bleibt im Dunkeln der stillen Berliner Nacht verborgen.