National Gallery

Frederick Wiseman, der unbestechliche Dokumentarist, setzt mit diesem, seinem neuesten Meisterwerk den Zuschauer einer Tour de Force durch Ausschnitte der abendländischen Malereigeschichte und der heutigen Bildbetrachtung aus, die Kondition erfordert und die intensiver und nahrhafter sein dürfte als jede lange Nacht der Museen. Wiseman macht aus dieser Museumsdokumentation ein Kulturevent, setzt den Zuschauer einer geballten Ladung europäischer Malereigeschichte aus.

Im Gegensatz zu seinem letzten Film, der bei uns in die Kinos gekommen ist, die meisterhafte Gesamtbetrachtung des Corps du Ballet der Pariser Oper „La Danse – Das Ballett der Pariser Oper“, bei dem die ganze ökonomische Konstruktion drum herum ein wichtige Rolle gespielt hat, bahnen sich hier Ikonen der abendländischen Malerei wie gewaltsam ihren Weg auf die Leinwand; der wirtschaftliche Hintergrund des Museums, Management und Organisation hinter den Kulissen treten zusehends zurück.

Nebst dem faszinierenden und für sich sprechenden Spiel, berühmten Portraits aus der Geschichte der Malerei die heutigen Zuschauer gegenüberzustellen, wird die bewusste Bildbetrachtung und Information über Hintergründe immer mehr zum Mittelpunkt dieses fast dreistündigen Filmes, der in keiner Minute abfällt, der vom Zuschauer Hochkonzentration abverlangt.

Das sind einerseits Einblicke in Museumsführungen für verschiedene Gruppen. In bestem und für unsere auf das Schulenglisch konditionierten Ohren gut verständlichem Englisch werden Geschichten um die Gemälde herum vermittelt. Aber auch die Restauration, die Reinigung von Gemälden mit hochwissenschaftlichen Methoden (Röntgenaufnahmen und Infrarot) werden verständlich und spannend erörtert.

Vom ökonomischen Standpunkt her ist zu erfahren, dass die Museumsleitung sehr vorsichtig kalkuliert, um für alle Eventualitäten gewappnet zu sein. Es gibt eine interessante Diskussion über die Vermarktung des Museums für Events. Ein nationales Sportereignis, dessen Zielpunkt der Trafalgar Square ist, an dem das Museum liegt, heizt die Debatte an. Soll man die Museumsaußenwand für Werbezwecke zur Verfügung stellen oder nicht? Wenn nicht, wie ist dann die Wirkung des Museums als Kulisse bei den 18 Millionen Fernsehzuschauern (der Museums-Chef: „haben wir Werbung nötig?“).

Überhaupt, der Film ist noch ganz jung, da setzt es von einer Dame einer Zuschauerorganisation heftige Kritik an der Museumsleitung, die diese mit britischer Noblesse über sich ergehen lässt. Denn der Mann von der Straße, der wisse überhaupt nicht, was das Museum zu bieten habe, moniert die heftig gestikulierende Dame. Den Boss kümmert das wenig, er will elitär sein, er will spektakuläre Ereignisse ins Haus holen. Den Beweis dafür liefert die Leonardo-Ausstellung, wie die Leute da stundenlang anstehen, um ein Ticket zu ergattern.

Leonardo ist auch gut für Erörterungen über das Restaurieren von Bildern. Denn wenn ein Bild fertig gemalt ist, fängt sogleich sein Alterungsprozess an, die Veränderung; eine Feststellung die zu denken gibt; haben wir doch bisher immer geglaubt, ein Bild sei etwas Ewiges, etwas Totes. Wobei auch die These Eingang in den Film findet, dass auf einem Gemälde versucht wird, Leben einzufrieren, eine ganze Geschichte in einem Bild zu erzählen, resp. der Maler sucht die Klimax der Geschichte als Bildtopos.

Viel ist auch über Hintergründe von Bildern zu erfahren: Heinrich IV. hat, nachdem er verwitwet war, von Hans Holbein, dem damals bedeutendsten und teuersten Maler in England, das Portrait einer potentiellen Nachfolgerin seiner Gattin aus Holland bestellt, als Erstkontakt quasi. Die beiden Geschäftsleute, bei denen gerätselt werden darf, was der Totenkopf („der anamorphe Schädel“), der von einem bestimmten Betrachtungspunkt aus auf eines Messers Scheide identifiziert werden kann, bedeutet (meine Vermutung: die beiden Freunde fühlen sich bis in den Tod verbunden; offizielle Interpretationen: die beiden hätten vielleicht eine gemeinsame Leiche im Keller oder schlicht der Hinweis auf die Sterblichkeit). Ein Gemälde von Rembrandt, von einem Reiter, ein Auftragsgemälde, dem offenbar der erste Entwurf nicht gefallen hat, und dann hat Rembrandt, das lässt die Infrarot-Untersuchung erkennen, das Bild um 90 Grad gekippt und ohne weitere Grundierung das Bild nochmal drüber gemalt. Zwei Rembrandts auf einem. Die Funktion früherer Kirchenbilder, das Leuchten des vielen Goldes und die Beziehung zu den Gläubigen unten im Kirchenschiff.

Wiseman bringt die Bilder aufregend zur Geltung in diesem seinem Intensivkurs, in diesem seinem Malereigeschichts-Power-Workshop.

Es gibt auch Skurriles: sowieso die Experten als Figuren, die der Kunst und der Malerei allein durch ihre Existenz und ihre Standfestigkeit und Detailversessenheit Legitimation verschaffen. Der Experte, der vor einem Fernsehteam über das Turner-Gemälde „die letzte Fahrt der Temeraire“ sprechen soll; da hat doch glatt einer seine Brille verlegt. Auch der Boss beklagt an einer Stelle, seine Sonnebrille vergessen zu haben.

Der Film ist zu sehen auch als ein Schnell-Einführungskurs in die Kunst der Bildbetrachtung und Bildbeschreibung als auch als ein Schnelldurchlauf durch Leonardos Werk (ein Schlüssel zur Entschlüsselung von Leonardo: die „Felsgrottenmadonna“) oder anhand von Beispielen von Caravaggio, Pussin und Mantegna, Velasquez, Rembrandt, Rubens, Turner und Lorrain, Vermeer und seiner realen Idealwelt, aber auch in das diffizile Thema Reinigung und Restauration von Bildern: Retouche oder rissiger Firnis? Außerdem gibt es Beispiele zu den Themen Hängung und Einleuchtung von Ausstellungen, auch historisch ausgeweitet oder eine Expertendiskussion, irgendwie in sich komisch bis skurril, über eine Partitur auf einem Watteau-Gemälde, dabei spielt als kleines Wortbegeisterungs-Happening eine Rolle das Kupferstichkabinett des Dr. Altcappenberg aus Berlin.

Was ist eine Krakelüre? Was sind Pentimenti? Wie können Blinde Bilder sehen? Das alles ist auch im Film zu erfahren.

Dunkler Unterton zur ganzen Geschichte, schwerer Makel dieser Galerie: diese fantastische Sammlung ist der Sklaverei zu verdanken. Man solle nicht vergessen, die schändliche Rolle der Briten in der Sklaverei.

In dieser Museumswelt und unter Experten kann man lachen über einen Moses-Scherz. Moses kam vom Berg zurück mit den Gesetzestafeln mit einer guten und einer schlechten Nachricht. Die gute Nachricht: Er habe sie auf zehn runterhandeln können. Die schlechte Nachricht: Der Ehebruch sei drin geblieben. Das rückt die hohe, unberührbare Kunst doch wieder auf eine sehr menschliche und verständliche Ebene herunter.

Kino als Kulturpflichtartikel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert