Winterschlaf

Ein alter Mann in intellektueller Internet-Mission und zwei einsame Frauen im grandiosen Setting eines entfernten Anatoliens, wo die Häuser zum Teil noch in Fels gehauen sind und Formen haben wir parodierte Doktorhüte.

Aydin, Haluk Bilginer, residiert hier im Hotel Othello, das er auch betreibt. Er schreibt eine Kolumne, seinen täglichen Blog „Stimme der Steppe“. Er ist wohlhabend, ein lokaler Fürst sozusagen. Er hat eine bildhübsche Frau, die sich langweilt und vor lauter Langeweile soziale Aktionen zur Instandhaltung von Schulen unterstützt. Auch seine Schwester wohnt hier. Auch sie langweilt sich. Sie kann sich selber nicht erklären, warum sie von Istanbul hierher zurückgekehrt ist. Tschechowsche Ausgangslage. Auf Kurzgeschichten von Tschechow berufen sich Ebru Ceylan und Nuri Bilge Ceylan bei ihren Drehbuch auch. Nuri Bilge Ceylan (Once Upon a Time in Anatolia) hat auch die Regie geführt bei diesem Film, den man ruhig eine schwarze Komödie nennen kann, die sich kaputt lacht über intellektuell-männliches Sendungsbewusstsein (im fernen Anatolien), durchaus auch zu sehen als Kritik an der türkischen Intelligenzia.

Der einzige, der rundum zufrieden mit sich selbst und der Welt ist, die sich nur um ihn dreht, ist Aydan. In seinem orangenen Range Rover lässt er sich rumkutschieren in seinem Reich, schaut nach diesem und jenem. Eine Auto-Scheibe wird ihm eingeworfen. Das ist der erste größere Vorfall, der ein paar Sprünge in der Geschichte sichtbar werden lässt. Der Steinwerfer ist ein Schulbub, Ilyas, er ist der Sohn des verkommenen Bruders des ewig breit grinsenden Immams, Hamdi Ismail. Denn der Gutsverwalter von Aydan, Hidayet, hat wegen Mietrückständen den Gerichtsvollzieher vorbeigeschickt. So trägt der Nachwuchs die Wut auf den Groß(grund)besitzer weiter, dieser selbst erzählt an einer Stelle, was ihm hier in der Gegend alles gehöre.

Die Storyline trägt viel dazu bei, einiges über die Lebensweise in diesem Anatolien zu erzählen. Was mich an diesem Film am meisten fasziniert, ist das Missionarische von Aydan, der überzeugt ist, dass sein Blog wichtig sei, wenn auch nicht so viele Reaktionen drauf kommen, und der ihm wichtiger ist als die menschlichen Beziehungen. Intellektuelle Abgehobenheit. Wenn es aber um konkrete Hilfe für Schulen in seiner realen Umgebung geht, worauf ihn seine Frau aufmerksam macht, dann ist er taub und blind oder beides zugleich. Das ist nicht der Bereich seiner höheren Sphären.

Aydan war einmal Schauspieler. Er will eine Geschichte über das türkische Theater schreiben. Über diese seine Mission kommt es nach einem guten Warm-up für die Geschichte zu heftigen Auseinandersetzungen mit seiner Frau und auch mit seiner Schwester, die sich beide fragen, was sie hier eigentlich sollen. Es kommt zu einer erniedrigenden Szene zwischen ihm und seiner Frau, in der er ihr aus intellektuellem Dünkel heraus die schlimmsten Vorwürfe macht. Die Folge dieser Diskussion, die sehr spät im Film ist, wird sein, dass er sich spontan entschließt, den Winter in Istanbul zu verbringen.

Es kommt anders als man denkt. Es folgen Szenen, die wieder an Tschechow denken lassen, wie einsame Männer in abgelegenem Haus im Winter sich mit Alkohol zudröhnen und mit ihrer Einsamkeit und Sinnlosigkeit kämpfen.

Mit Kleinkram wie Mietrückständen und Gerichtsvollzieher will der große Intellektuelle nichts zu tun haben, das erledigt sein Verwalter. Wie Aydin die Auseinandersetzung mit dem Imam hat, die ihn gewaltig stört, schreibt er aus persönlicher Gehässigkeit einige Kolumnen zum Thema Islam, ein, wie er selber sagt, sehr schwieriges Thema. Islamkritik. Islamlob: Islam sei die Zivilisation und die hohe Kultur. Das vor allem in einer Türkei, die von ihrem jetzigen Präsidenten Erdogan systematisch in einen islamische Republik verwandelt werden soll. Der große Intellekt nährt sich von kleinlichen Gefühlen.

Symbolischerweise kommt ein eingefangenes Wildpferd vor im Film, bloß weil ein Gast fragt, ob man hier auch reiten könne. Es gibt noch einen japanischen Gast im Hotel. Auch der wird abreisen, nach dem anderen, dem Crossfahrer.

Die Ilyas-Story. Der Tenor ist, er sei ins Wasser gefallen. Aber der Grund dazu wird nicht erwähnt. Denn er ist ins Wasser gefallen, weil er vor den Verfolgern geflohen ist.

Die zerbrochene Landrover-Scheibe erinnert an das Requisit des zerbrochenen Kruges von Kleist, was sich um so ein Teil doch für eine Komödie ranken kann.

Vorwurf Aydans Gattin: es gelinge ihm immer wieder wie Olivenöl zu sein und an der Oberfläche zu schwimmen. Oder: ich wollte, bei mir wäre die Schwelle zum Selbstbetrug so niedrig wie bei dir.

Sie hat einen Verein gegründet, der sich um die zerfallenden Schulen kümmern soll. Er will Kontrolle über ihren Verein. Sie will nicht, dass er dabei ist, bei der Versammlung, weil er alles kaputt machen würde mit seinem Zynismus.
Er verachtet ihre dilettantische Begeisterung, wobei er nicht zögert, einer Lehrerin und Leserbriefschreiberin seiner Kolumne aus einem entfernten Kaff helfen zu wollen.

Winterschlaf: die Intellektuellen schlafen ihren Winterschlaf (in der Türkei, aber sicher auch anderswo).

Bissiges Bild des Intellektuellen als eines egomanen Maniacs, ein unterhaltsames und lehrreiches Beispiel für einen der alten Männer, die für das Unglück der Welt veranwortlich sind.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert