Ihr sozialpolitisches Statement zur Bedrohung der Gesundheitsversorgung in Deutschland geben Linus de Paoli (Buch und Regie) und Anna de Paoli (Buch) sehenswert in einen Mystery-Noir-Thriller-Mix verpackt deutlich ab, ein kleines Leckerstück für den Kinofreund.
Statt der Schatten von Neukölln, könnte man auch sagen, ein Schatten liegt über Neukölln. Wie ein Schatten auf der Lunge. Es ist nicht weit von hier in die Zukunft hochgerechnet der Schatten des Gesundheitswesens, welches in einer immer weiter auseinanderdriftenden Gesellschaft längst nicht mehr alle Menschen erfasst (es gibt ja heute schon, trotz Krankenkassenpflicht, diskrete Hilfsorganisationen, die Menschen ohne Krankenkasse kostenlos behandeln).
Dr. Ketel kümmert sich als hilfsbereiter Arzt im nicht allzu florierenden Neukölln um die Gesundheit von Außenseitern, Armen, Drogenabhängigen, Immigranten, Obdachlosen, um Menschen ohne Krankenversicherung und wenns an Mitteln mangelt auch mit unkonventionellen Methoden: Wundbehandlung am Bein mit Wodka und gegen den Schmerzensschrei steckt er dem Patienten einen Knüppel im Mund.
Die Rolle ist dem Hauptdarsteller Ketel Weber auf den Leib geschrieben. Er ist eine Figur, um die herum man einen Film bauen kann. Er ist ein Kopf größer als alle anderen, und wenn man ihn noch in einer Art geheimer Mission kontinuierlich in einen Mantel steckt und durch das triste, in schwarz-weiß gedreht noch tristere Film-Noir-Neukölln gehen lässt, so wirkt er wie ein Geheimnisträger, einer der ein geheimes Ziel, einen geheimen Auftrag hat – den Zuschauer mit der Frage beschäftigend, was treibt diesen Mann?
Dr. Ketel bricht in Apotheken ein und besorgt sich Medikamente. Er ist befreundet mit der Apothekerin Karo, Franziska Rummel, die ihm bald auf die Schliche kommt und ihn diskret unterstützt. Ganz so sauber ist das Tun von Dr. Ketel nicht. Denn er ist gar nicht Arzt, er gibt sich nur als solcher aus. Er war Krankenpfleger. Das ist er nicht mehr. Er lebt als Hausmeister in einem heruntergekommenen Haus, das er weiter verkommen lässt, worauf der Hausbesitzer die Nerven verliert und ihn rausschmeißt. So wird Dr. Ketel selbst zum Obdachlosen, was ihn allerdings von seinem Tun nicht abhält.
Lou Castel als Dr. Wissmann ist eine weitere, eindrückliche Figur in diesem Film, dem Paoli mit gutem Feeling und großartiger Schauspielerführung zu interessierter Aufmerksamkeit verhilft. Wissmann kennt die Geschichte von Ketel und will nichts mehr mit ihm zu tun haben, kann aber einem Türkenjungen, den der falsche Arzt mit einem Info-Zettel vor der Klinik ablegt, die Hilfe nicht versagen.
Ein Bericht darüber, was das Tun des Dr. Ketel ist, das ist die eine Seite in diesem Film. Genau dieses geheime Tun von Dr. Ketel wird aber auch beobachtet, das zeigt das zweite Kapitel. Das ist überschrieben mit „Louise“. Sie wird dargestellt vom internationalen Star Amanda Plummer. Wie die Filmemacher sie gewinnen konnten, das kann man im Kommentar der Filmemacher auf der DVD erfahren. Da diese sich gerne von ihren Schauspielern inspirieren lassen, wächst also die Ermittlungs-, die Beobachtungsseite des Tuns von Dr. Ketel zu einer eigenen Geschichte. Hier wird Dr. Louise Llewellyn, Armanda Plummer, vorgestellt, wie sie auf raffinierte und diskrete Weise Ketel beobachtet und beobachten lässt durch die Teilnehmer eines Security-Seminars. Einem davon, Ercan, Burak Ygit, ist Dr. Ketel längst schon aufgefallen, wie er um die Apotheken schleicht. Kleines Apercu: in Berlin Tegel wartet ein Fahrer auf Mr. Llewellyn, obwohl es sich doch um eine Frau handelt, das leichtfertige, vorurteilsbehaftete Denken der Security-Branche? Überraschenderweise zieht sie das Fahren in der Rikscha dem Eingesperrtsein in einer deutschen Blechlimousine vor. Was dem Film den Reiz eines attraktiven Rikschafahrer beschert, der später noch für eine überraschende Wendung gut sein wird. Außerdem bietet dieses Kapitel die Möglichkeit eines philosophischen Exkurses im Referat von Dr. Llewlyn über Connectedness der Materie und das Wasser (über die Beeinflussung gefrorenen Wasser durch Musik) und die Position eines japanischen Forschers zum Thema und überhaupt über Selbstfindung und damit letztlich über das rechte Handeln des Menschen.
Dabei schreckt der Film nicht vor Horror- und Fantasy-Elementen zurück. Um den schwarzen Klumpen aus einem lava-basalt-ähnlichen Material, den der Protagonist an einer Stelle aus seinem Mund herauswürgt, lassen sich Fantasien und Mysterien ranken. Auch der Werdegang von Dr. Llewellyn ist nicht stromlinienförmig, dabei spielen Ausbruch aus dem Karrieredenken, Backpacking, Hokaido, Meditieren und eine gute Freundin wesentliche Rollen für dieses Beispiel der Entwicklung einer Persönlichkeit.
Felix Raffale akzentuiert die Handlung im Film musikalisch messerscharf.
Für den Film vereinnahmt mich ferner die exzellente Schauspielerführung und beachtliche Figurentwicklung. Gute Inszenierung auch von Reaktionen, von kleinen Reaktionen des Zuhörens, des Beobachtens.
Ein Film aus einer gesellschaftlichen Grauzone, angereichert mit fiktiven Zukunftselemente, Horrorelementen, Film-Noir-Elementen und aktuellem Berliner Grauzonenmix.
Wobei, die Schildkrötensymbolik, hats die wirklich noch gebraucht?