Formal einfach und streng konzipierte, inhaltlich dichte, hochkonzentierte, an der lustfeindlichen und immer mit dem Teuflischen drohenden Moral der fiktiven Priesterbruderschaft St. Paulus orientierte Erkundung der Pubertät als eines Passionsweges mit tödlichem Ausgang.
Mit dem Passionsweg haben sich Künstler aller Zeiten immer wieder beschäftigt. Sie haben ihn bebildert oder er gibt den Stoff für die Oberammergauer Passionsfestspiele her. Bilder- und Skulpturenzyklen aller Jahrhunderte schmücken Kirchen und Kloster, Museen, Bildbände und Kreuzwege. Und die Kunstgeschichte befasst sich mit ihnen.
Auch die Filmgeschichte kommt um den Topos nicht herum. Die Geschwister Anna und Dietrich Brüggemann fügen dieser Geschichte ein weiteres Kapitel hinzu mit ihrer Realisierung von „Kreuzweg“, zum dem sie das Drehbuch gemeinsam geschrieben haben. Dietrich Brüggemann hat auch die Regie geführt, während Anna Brüggemann vor der Kamera als Ärztin agiert.
Es ist die Leidensgeschichte von Maria Göttler (für die Kinobewussten hierzulande dürfte dieser Familienname kein Zufall sein, deckt er sich doch mit dem Familiennamen eines renommierten Filmkritikers, für den Kino eine radikale Passion ist).
Maria wird in der ersten Szene mit anderen Jungs und Mädels vom Pfarrer in einer einzigen, langen Einstellung für die Firmung unterrichtet. Die Filmemacher setzen das mit der ersten Station des Kreuzweges gleich, mit der Verurteilung Jesu zum Tode. Was ist die Eucharistie?, über den Übergang ins Erwachsenenleben, über die Versuchung, das Teuflische, zum Beispiel die Zeitschrift Bravo, der Gläubige als Soldat Christi, der Seelen retten und Opfer bringen soll. Diese Verurteilung oder diese streng moralkatholischen Lehren (die Interpretation dieser ersten Kreuzwegstation durch die Brüggemanns ist gewiss nicht ohne Schalk zu lesen) fallen bei Maria auf ein offenes Ohr, einen offenen Geist, ein offenes Herz. Denn sie ist wenig geformt, voller unartikulierter Erwartung, Hoffnung, wie es so ist in der Pubertät, in welche die Eltern sie hineinlaufen lassen wie in ein offenes Messer.
Zuhause ist man streng gläubig, es herrscht vor allem von der Mutter, die immer noch alles über ihr Kind wissen willen, ein strenger Ton, der kaum Zuneigung zulässt, Mutterschaft als besorgte Besitzerschaft, als ob die Nabelschnur nie durchgetrennt worden wäre. Besonders der Opfergedanke trifft Maria tief. Sie möchte nicht nur auf Lustbarkeiten verzichten, sie möchte sich ganz Christus opfern. Kann man Landschaft opfern, fragt sie bei einem Spaziergang ihre Vertraute Bernadette, die als Au-Pair-Mädchen aus dem französischen Sprachraum bei Göttlers lebt. Aber schon bei diesem Familienspaziergang stellt Bernadette fest, dass Maria nicht gut aussieht. Kann sie denn nicht mal fürs Familienfoto lächeln? Nein, denn auf ihrer weißen Bluse ist ein Flecken, das widerspricht ihrem inzwischen gefassten (religionseitlen?) Ziel, eine Heilige zu werden. Die Ideen, die der Pfarrer in ihr gesät hat, arbeiten heftig in ihr. Sie ist zum großen Opfer bereit. Sie möchte sich nicht mit Oberflächlichem beschäftigen. Das kann man auch von diesem extraordinären deutschen Film sagen, dass er mit dem Vokabular einer so extrem katholischen Theologie in medias res des Pubertierens geht.
In der Bibliothek sucht Christian, ein netter Jungen aus der Parallelklasse, das Gespräch mit Maria über die mathematischen Hausaufgaben. Versuchung. Er singt in einem Chor. Die singen sündige Sachen. Aber auch Bach. Das wäre ein Weg, Glauben und Begegnung mit dem Jungen in Einklang zu bringe. Und auch die Aufgabe in der Familie, das Hüten des vierjährigen, behinderten Bruders Johannes, denn den könnte sie sogar mitnehmen in den Chor, meint Christian. Später wird er ihr, um sie zu ködern, sogar vorschlagen, sie könnten gregorianische Gesänge üben. In ihrem Kopf entwickeln sich Vorstellungen. Diese führen zu Lügen der Mutter gegenüber und zu eine eindrücklichen Beichtszene.
Die Geschwister Brüggemann bleiben in ihrem Drehbuch, das bei der Berlinale mit einem silbernen Bären ausgezeichnet worden ist, was für Deutschland, mit seiner kränkelnden Drehbuchkultur eine Sensation ist, immer hart am geistigen Prozess. Sie konzentrieren sich auf die Performance desselben durch die Darsteller, wobei die Auswahl zweitrangig ist; denn die Hauptherausforderung an die Schauspieler war, die Szenen ohne Unterbrechung durchzuspielen; allein dadurch entsteht eine Spannung von hoher Konzentration auf den Text und den roten gedanklichen Faden; method-acting-Elemente sind dabei zweitrangig, für die ist bei den meisten gar kein Platz mehr – und der Zuschauer ist genauso gefordert. Sie trauen den Zuschauern was zu, die Brüggemanns.
Es gibt nur wenige Kamerabewegungen in diesem Film mit seinen 14 Stationen (im Moment scheinen Filme, die in Kapitel eingeteilt werden, in zu sein, Lars von Triers „Nymphomaniac“ und Philip Grönings „die Frau des Polizisten“). Wenn die Kamera bei der Firmung plötzlich eine Fahrt mit den Firmlingen zum Altar beginnt und Maria, die vorher unauffällig in der Gruppe war, so gar nicht protagonistinnenhaft herausgehoben, und jetzt in der Schärfe begleitet wird, so bewirkt das im Zuschauer den Eindruck, als ob er jetzt im Sessel mitbewegt wird. Oder im 12. Kapitel „Jesus stirbt am Kreuz“, wie die Kamera sich plötzlich von Maria, die sich an der Hostie, die der Priester ihr zur Heiligen Kommunion in den Mund gesteckt hat, erstickt, wie sie, grob gesagt, den Geist aufgibt, da weiß die Kamera, wo das Wunder passieren wird und dreht sich mit Priester, Mutter und behindertem Buben auf dem Arm mit auf die andere Bettseite und der Zuschauer darf erleben, wie Marias Opfer sofort als Wunder auf ihren kleinen Bruder übertragen wird und Johannes seinen ersten Satz spricht. Auch an dieser Stelle lässt Brüggemann galligen Humor durchblicken. Worauf es allerdings die nächste Szene „Jesus wird vom Kreuz genommen und seiner Mutter in den Schoß gelegt“ etwas schwieriger hat, es ist die Szene im Bestattungsinstitut und es ist fraglich, ob die strenggläubige Mutter wirklich etwas kapiert hat. Bei der prosaischen Szene zur letzten Station „Der heilige Leichnam Jesu wird in das Grab gelegt“ ist der Vorgang schon passiert, die Erdaushubmaschine füllt die Erde über den Sarg in das Grab. Christian kommt vorbei und geht weg. Jetzt mag die Kamera auch nicht mehr beim Irdischen bleiben, folgt aus einigen Metern Höhe noch ein Stück Christian und schwenkt dann gen Himmel.
So direkt hat mich schon lange kein deutscher Film mehr angesprochen und beschäftigt. Weil er meiner Ansicht nach weit über die formale Begrenzung auf den Rahmen Kirche-Schule hinausgeht (die kommt auch vor bei einer Turnstunde, das Mobbing, richtig lebensnah und humorvoll, wie die anderen Kinder auch plötzlich eine Religion haben wollen, die ihnen dies und das nicht erlaubt). Vielleicht ist die Pubertät als tödliches Thema eher randständig in unserer Gesellschaft, obwohl sich in Deutschland alle ein, zwei Tage ein Teen umbringt.
Der Film fesselt, weil das Thema Toleranz und Recht des Menschen auf eine Entwicklung und auf Eigenleben im Zentrum stehen, weil das Thema einer konflikthaften Pubertät ernst genommen und nicht wie so oft oberflächlich verblödet wird.
Mit den beiden Hauptdarstellerinnen Lea van Acken als Maria und Lucie Aron als Bernadette, arrondiert von Franziska Weisz als Mutter und Moritz Knapp als Christian ist darstellerisch bereits viel gewonnen.