Mit Schweizer Präzisions-Logistik gegen Ideologie oder Kino, das verändern will.
Dieser Film von Milo Rau ist im besten Sinne ein Dokument. Wobei das Verwunderlichste daran ist, dass es so überhaupt entstehen konnte, grenzt die Veranstaltung doch bereits an Subversion gegen das immer extremistischere Putin-Absolutismus-Regime.
Milo Rau ist ein Schweizer und ein Theatermacher, der sich den demokratischen Idealen der Schweiz verpflichtet fühlt, die auch die Freiheit der Kunst postulieren. Er greift dort ein, wo er diese gefährdet sieht. Beispiel Russland. Seine hier initiierte und dokumentierte Theateraktion stellt 3 Prozesse gegen Künstler nach, die seit 2003 in Moskau stattgefunden haben. Es geht immer darum, ob Kunst die Religion beleidige und deshalb verurteilt gehört. Denn, das wird auch sichtbar, Putins Politik und Kyrills orthodoxe Kirchenpolitik gehen eine verhängnisvolle Symbiose ein, die jede freie Meinungsäußerung, jede kritische Kunstäußerung ersticken und verbieten will. Oder wie ein Priester es formuliert, der Prozess lege offen, dass Putin Kyrill heiraten will.
Die Stimmung bei diesem Thema scheint jedenfalls aufgeladen zu sein in Russland, die Nerven liegen blank; die Rationalität scheint verlorengegangen zu sein. Umso erstaunlicher ist es, oder ist unser Bild doch zu negativ von Russland?, dass der neutrale Schweizer Milo Rau es geschafft hat, lauter Originaldarsteller, also Künstler, Kunstexperten, eine Richterin, Geschworene, Anwälte, Staatsanwalt, Kirchenvertreter, Gläubige, Wissenschaftler dazu zu bringen, an einer einmaligen Nachstellung der drei Prozesse über die Ausstellungen „Vorsicht Religion“ und „Verbotene Kunst“ sowie den berühmten Kirchenauftritt von Pussy Riot in Moskau teilzunehmen, wobei manche Teilnehmer sich geweigert haben sollen, ihre Gegner, vor dem Prozess überhaupt zu sehen und zu begrüßen.
Umso erstaunlicher ist, dass der Prozess, der wie eine Theateraufführung mit Publikum und mehreren dokumentierenden live Kameras stattfand, so relativ demokratisch ordentlich und ohne Handgreiflichkeiten, kaum Beleidigungen durchgeführt worden ist. Es ist spannend zu verfolgen, wie Ankläger und Verteidiger versuchen, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass die diskutierten Kunstaktionen bewusst die Gläubigen beleidigen, respektive nicht beleidigen wollten, und wo überhaupt so eine Beleidigung anfange und was denn mit den Ikonenverbrennungen im Rahmen der Revolution gewesen sei.
Das Urteil der Geschworenen erstaunt, konterkariert etwas das Bild von einem totalitären Russland. Andererseits stand die böse Realität einmal bedrohlich nah. 40 orthodoxe Kosaken hatten von dem Prozess gehört, der öffentlich so gut wie nicht angekündigt war, hatten gerüchteweise gehört, dass hier die Religion beleidigt werden soll und ließen, obwohl vorurteilshaft voller Animosität sich nach einiger Argumentation darauf ein, dem Prozess zu folgen, den sie allerdings bald wieder wortlos verlassen haben sollen.
Schon tags zuvor meldet sich die Einwanderungsbehörde und erreicht eine Zwangsunterbrechung der Aufführung durch minutiöse Kontrolle der Papiere des Regisseurs und anderer. Aber auch das kann die Fortführung des Prozesses nicht stoppen.
Die Künstler werden von einem Orthodoxen als Vorboten eines liberal-totalitären, liberal-faschistischen Staates bezeichnet. So prallen die Welten aufeinander.
Wunderschön die Stelle im Prozess, wo die Kunstkritikerin einen den autoritären Staat unterstützenden und von ihm profitierenden Künstler fragt, ob das von ihm als eine Kunstaktion zu verstehen sei, dass er sich dieses faschistoide Kostüm anziehe; worauf er Drohungen ausstößt und die Richterin den Künstler ermahnt, solches zu unterlassen. Der Film macht an verschiedenen Statements deutlich den Geist des heraufziehenden Putin-Kirchen-Totalitarismus, mit dem sich zu unterhalten außerordentlich schwierig ist, weil er nur Gut und Böse und keine Zwischentöne kennt.
Kino als Bericht über eine demokratische Lehrstunde mittels des Versuchs einer Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Totalitarismus, hochaktuell angesichts der Krim-Krise.