Ich fühl mich Disco

Eine exzellente Milljöh-Studie liefert Axel Ranisch („Dicke Mädchen“), der mit Sönke Andresen auch das Buch geschrieben hat, mit einer kleinen, überschaubaren, melodramatischen Coming-of-Age-Geschichte.

Florian heißt der dicke Hauptdarsteller, der sich am Anfang der Pubertät befindet und sich nach dem gleichen Geschlecht sehnt, der Schlagersänger werden möchte und ein Fan des Schlagersängers Christian Steiffen ist, der im Film ebenfalls auftritt und Schlager wie „Sexualverkehr“, „Eine Flasche Bier“ beiträgt.

Florian wächst im Berliner Hochhaus-Milljöh auf; enge Verhältnisse, grandios ausgestattet mit einem sagenhaften Wandschrank, mit nicht totzukriegenden Pflanzen wie Gummibäumen und Philodendren. Sein Vater ist Schwimmmeister, trainiert den rumänisch-stämmigen Radu im Turmspringen, der in etwa so alt ist wie Florian.

Mit einer das Vater-Sohn-Verhältnis charakterisierenden Szene fängt der Film an. Florian soll das Rollerfahren lernen. Der Vater erklärt dem Sohn alles, der unter dem dicken Helm praktisch nichts versteht und der sagt, er hätte lieber ein Klavier. Bald schon kommt es auf dem weitgehend leeren Parkplatz, auf dem nur noch das Auto des Vater steht, zu einem herrlichen Rumms, herrlich, weil der Zuschauer ihn sich in seinem Kopf ausmalen kann.

Die Mutter hat mehr Verständnis für Florians Träumerei von der Discokugel, die er in seinem Zimmer angebracht hat. Die Mutter erleidet bald schon einen Schlaganfall. Der Arzt klärt Vater und Sohn über einen Gehirnschlag, eine Gehirnblutung auf, die große Teile des Gehirns zerstört hätten und die Chancen, dass Mutter aus dem Koma nochmal aufwacht, minimiert.

Exemplarisch kann die Szene dieser Nachricht an die nächsten Betroffenen genommen werden, als Beispiel für den präzisen, ganz genau die Menschen beobachtenden, sie ernst nehmenden Regiestil von Axel Ranisch. Damit steht er im eingezäunten Areal des deutschen subventionierten Filmes ziemlich allein auf weiter Flur, der doch hauptsächlich thematisch arbeitet, insofern es vorwiegend mit theoretischen Menschen zu tun hat und nie die Menschen beobachtet, schon gar nicht milieugerecht beobachtet.

Der Vater muss sich damit anfreunden, dass sein Sohn anders sei, aber das ist für den Vater Terra inkognita. So erhält er vom Schlagersänger Steiffen, den er im Suff trifft, ein Videoband. Auf diesem klärt Rosa von Praunheim über schwule Sexualität auf, empfiehlt zum Test sich selbst mal einen Dildo reinzuschieben.

Vater Hanno, prima dargestellt von Heiko Pinkowski, schaut sich nun im Fernseher dieses Video an, wo er sich selbst als gelehrigen Schüler von Rosa von Praunheim anschauen muss. Eine Figur korrespondiert mit sich selbst und zeigt ihre Spanne auf.

Vielleicht noch ein Beispiel für die Milljöh-Studie: wie Monika, die Mutter, wie sie noch lebt, ihrem Mann die Haare schneidet. Er sitzt nackt auf einem Hocker vor ihr, ein Badetuch über die Schultern. Nach dem Schneiden saugt sie hinuntergefallene Haare mit einem Staubsauger vom nackten Körper ihres Mannes. Solche Details lenken nun aber nicht ab vom zentralen Punkt des Filmes, sie untermalen ihn extrem gut: vom Erwachen einer Gefühlswelt in einem Jugendlichen, für die in so einer Umgebung kein Platz ist. Vorboten eines neuen deutschen Kinos, das seine Erzählungen in genaue Studien der Menschen, ihres Verhaltens, ihrer Beengungen und Träume packt und dazu noch mit exzellent ausgesuchter Musik ganz unkitschig mitten in den Gefühlsnerv trifft?

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