Salman Rushdie der britisch-indische Dichter besingt in diesem dichten, vielschichtigen Epos als die Erzählerfigur Saleem sich als den arm geborenen, durch Babytausch reich aufgewachsenen urindischen Visionär, dessen wahrer Reichtum aber seine Visionen von Indien und von einem gerechten Leben sind. Die Regie in diesem verzwickten sowohl indisch-fühligen als auch indisch-klarsichtigen Werk hat Deepa Mehta geführt. Das Drehbuch hat Salman Rushdie geschrieben und er spricht auch das Voice-Over zu seiner ersten Alter-Ego-Figur, Saleem Sinai.
Der Visionär als telepathiebegabter Autist von den Fährnissen von Schicksal und Krieg, von Liebe und Gerechtigkeitssinn umgetrieben, mal reich, mal zerlumpt. Immer aber die Mitternachtskinder im Kopf, immer in Auseinandersetzung mit ihnen; das sind in seiner Vorstellung jene über 1000 Kinder, die am 15. August 1947, Clock null Uhr null in Indien das Licht der Welt erblickt haben, just in dem Moment, als die bisherige britische Kronkolonie in die Unabhängigkeit entlassen wurde.
Rational-revolutionär-mystisch und am Schluss doch pragmatisch, behaglich zufrieden. Zwischen Fabulieren und die geschichtlichen Entwicklungen besorgt miteinbeziehend. Sein wichtigstes Mitternachtskind, was ihm immer wieder erscheint ist der reich geborene, arm beim Musiker aufgewachsene (die Mutter verstarb im Kindbett) Shiva (der Name des Gottes der Zerstörung). Parvati ist einige Sekunden nach Mitternacht geboren, dadurch mehr Hexe und mit gewaltigen Kräften ausgestattet: sie kann in einem leeren Korb spielend leicht einen ganzen Menschen, den sie vorher unsichtbar gemacht hat, über eine Grenze schmuggeln und die Zöllner können sich ein Loch in den Korb starren.
Die Mitternachtskinder sind in diesem patriotisch-politischen Traum von einem besseren Indien die Visionäre, die Stimmen hören können, es sind aber auch die Einsamen, bis autistisch Einsamen; es sind die Alter Egos des Dichters, die ihn durch sein Klagelied führen an wichtige politischen Stationen Indiens ab der Unabhängigkeit mit einem Vorspiel 30 Jahre von diesem Tag zurück. Denn jede Geschichte wurzelt in einer anderen Geschichte.
Tief im Kolonialismus, 1917, fängt der Film an in Kaschmir. Das war noch Teil Indiens damals. Der Großvater von Saleem ist ein englischer Arzt. Er sieht sich mit den indischen Sitten konfrontiert und hat eine überaus große Nase. Er heißt Dr. Aziz. Er wird zu einem Provinzherrscher gerufen und soll dessen erwachsene Tochter untersuchen. Ein filmisch dankbar-undankbarer Vorgang, indem nämlich zwei Angestellte ein großes Tuch vor die Tochter halten mit nur einem kleinen Durchblick. Vor den hält die Tochter den zu untersuchenden Körperteil. Und durch dieses Loch soll der Arzt die vorgeblich schmerzenden Körperteile anschauen, abtasten, untersuchen. Nach mehreren solchen Visiten läuft die Fantasie des ledigen Doktor Aziz schon heiß mit der Person hinter dem Tuch. Endlich hat sie auch mal Kopfweh…
Die Heirat ist nur noch eine Frage von wenigen Filmschnitten. Thats the juicy part of the story, heißt es an einer Stelle. Und es stört wenig, dass die Schauspieler relativ „dezidiert“ spielen.
Dieser Ehe ist eine Tochter entsprungen. Diese Tochter wiederum zieht, volljährig, mit ihrem Mann 1947 nach Bombay. Dort kaufen sie die Villa von Mr. Methwold. Dieser ist der letzte Vertreter Englands vor der Unabhängigkeit. Dies alles jetzt sehr verkürzt zusammengezogen unter Verzicht auf die ausladenden Schilderungen des Lebens in der Kolonialzeit in Agra, auch von aufkommenden Unruhen, der Forderung nach Gerechtigkeit und Ausgleich zwischen Reich und Arm.
In der Villa in Bombay spielt immer ein Paar von leicht abgerissenen Musikern, „Wee Willi Winkie“ mit dem Akkordeon gegen einen Obulus. Das Schicksal oder das raffinierte Kalkül des Autors will es, dass just um Mitternacht im Moment der Unabhängigkeit sowohl die Herrin des Hauses als auch die Frau des Musikers in derselben Klinik ein Kind gebären. Und dass die Hebamme Mary ein bisschen ein politisch denkender Mensch ist dank ihrem Freund, einem Revolutionär, der ihren bescheidenen Geist mit den richtigen Ideen füttert. Etwas juckt Mary in dem Moment wie sie die beiden frischgeborenen Mitternachtskinder allein vor sich hat, die Namensbändchen der beiden auszutauschen. Ein politischer Akt. Aus Arm mach Reich. Aus Reich mach Arm.
Der Arme soll reich, der Reiche arm aufwachsen. Spiel mit der Gerechtigkeit. Lohn oder Hohn des Schicksals. Spiel mit dem Schicksal. Dieses Geheimnis wird Mary noch Jahrzehnte lang für sich behalten. Aber es treibt sie um. Kurz nach der Geburt bewirbt sie sich als Kindermädchen bei den Reichen. So kann sie die Entwicklung der beiden vertauschten Kinder beobachten. Denn die Musiker mit ihrem Kind sind auf die Spenden der Reichen angewiesen, sind in ihrer Nähe.
Bei einem Unfall stellen die Ärzte fest, dass der Bub der Reichen eine Blutgruppe hat, die nicht von seinen vorgeblich leiblichen Eltern stammen kann. So wird er nach Rawalpindi in Pakistan zu Verwandten verschickt. Zu reichen Verwandten versteht sich. Zu Tante Emerald. Der Bub ist zehn Jahre alt. Das ist 1957. Er wird Zeuge eines Staatsstreiches, in dessen Gefolge Kaschmir sich als islamische Republik Pakistan von Indien abspaltet. Die Folge sind kriegerische Auseinandersetzungen. 1964 trifft er seine vermeintlichen Eltern wieder in Karachi. Durch eine Verletzung verbringt er 6 Jahre im Koma.
1971 finden wir ihn in Ost-Pakistan, Kriegsfeld, das ist jetzt Bangladesh. Da zieht man besser etwas Landesübliches an. Der Onkel, General Zufira, hat eine Niederlage erlitten. Es sind, das ist das Traurige, Kriege unter Freunden. Das bedauert der Dichter. Rückkehr nach Indien in einem leeren Korb als Unsichtbarer.
Pressezensur und Notstand in Indien. Dagegen wird eine schöne Hochzeitszeremonie gesetzt. Das ist am 12. Juni 1975. Die Farben werden jetzt sehr direktes Rot und Grün und gefühlsheiß. Indira Gandhi verlor die Wahlen. Damit konnten von den 1000 Mitternachtskindern die 420, die noch lebten, wieder in die Sonne und in die Freiheit blinzeln.
Shiva aber hat den Krieg verlottert, zerlumpt nur überlebt, sein Haar ist lang wie das auf Jesus-Bildern. Und wie es eine gute Geschichte will, kommen die Figuren auch wieder zusammen. Der Sachverhalt wird aufgeklärt.
Des Dichters Wort zum Schluss ist in einer Stimmung zwischen traurig und hoffnungsvoll. Auch wenn die großen Träume weit davon entfernt sind, erfüllt worden zu sein, dass das Leben weit weniger rühmlich war, aber dass er es überstanden hat. Dass es acts of love gegeben habe. Und dafür hat der Zuschauer zum Schluss eine schöne Musiknummer verdient.