The Master

Eine Ansicht könnte sein:
Das ist alles nur ein Traum, vielleicht ein Halbwachtraum, die Formulierung einer Sehnsucht nicht nur nach Erlösung, auch nach Führung, nach Orientierung eines kriegstraumatisierten Menschen. Eines Mannes, den Krieg und Alkohol und der Mangel an Liebe und Zuneigung vollkommen fertig und desorientiert und unberechenbar gemacht haben. Hier wäre das der Traum eines Marinesoldaten, Joaquin Phoenix als Freddie Quell, der im Zweiten Weltkrieg eine hart sich gebende Männerwelt kennengelernt und erlebt hat, in der einerseits getötet worden ist und genauso die Gefahr des Getötetwerdens bestand, andererseits die Gedankenwelt nur um Frauen und Ficken und die Herstellung von Hochprozentigem kreiste. Der Traum, der Halbwachtraum eines auf einem Sandstrand dösenden Marinesoldaten, der ab und an mal kurz in die Sonne blinzelt.

Mit einem Strandbild fängt Paul Thomas Anderson seinen Film an. Männerwelten am Strand. Gestählte Körper. Sie haben aus dem Sand die Silhouette einer engelhaft zarten Frauenfigur künstlerisch geformt und geilen sich nun daran auf. Jeder darf mal ran.

Wir sehen unseren Protagonisten. Anschließend holt er sich im Stehen dem Meer zugewandt einen runter. Die Soldaten kehren aus dem Krieg zurück. An Deck sonnen sie sich. Jede Geste, jede Bewegung von Freddie verrät seine Kaputtheit, seine Unberechenbarkeit, seine Desorientiertheit, seine Alkoholabhängigkeit. Welchen Fusel er sich aus Utensilien im Schiffsbau zusammenbraut, da kann einem leicht übel werden. Gelegentlich hält einer der Konsumenten das auch nicht aus.

Der Spannungspunkt, der sich anfänglich aufbaut ist der, dass Freddie in der zivilisierten Welt nicht mehr zurecht kommt. Erst arbeitet er als Fotograf. Sein Gang, seine Haltung, kurze Absenzen geben klar zu erkennen, dass in ihm unverarbeitete Dinge kochen. Erst geht alles noch gut. Er arbeitet in einem mondänen Warenhaus der frühen fünfziger Jahre. Models flanieren statt auf einem Laufsteg mitten unter den Kundinnen, sprechen sie an, machen sie auf die kostbaren Klamotten aufmerksam.

In einer Ecke hat Freddie seine Kamera aufgebaut. Nach einigen geglückten Aufnahmen hat er einen etwas korpulenteren Herren vor dem Objektiv, der leicht ins Schwitzen gerät. Der wird gewiss nicht sein titelgebender Master, den er offenbar sucht, indem er solche Herren testet. Die Session mit diesem Herrn läuft erst normal. Plötzlich hält Freddie inne, wie suchend, wie ferne im Geist suchend. Dann dreht er den Fotoapparat vom Objekt weg. Nähert sich dem Mann. Bedrohlich. Stellt ihm eine Scheinwerferlampe immer näher, immer näher. Der Herr fängt immer mehr an zu schwitzen. Fühlt sich beengt. Nein, gewiss kein Master. Jetzt fängt er an zu reklamieren. Da dringt fast schon das wilde Tier in Freddie durch. Er greift die Krawatte des irritierten Herrn und zieht diese immer fester zu. Einen irritierten Master kann Freddie nicht brauchen. Insofern hat sich auch der Job erübrigt.

Ein weiterer Versuch bei der Gemüseernte endet bereits nach dem ersten selbstgebrauten Alkohol, den ein älterer Kollege nicht verträgt; also auch kein Master.

Aber der träumende Geist gibt nicht auf, wenn er sucht. Und er findet, Freddy findet, stößt auf einen eigentümlichen Master und Weltverbesserer, Philip Seymour Hoffman als Lancaster Dodd. Eine wie es scheint intakte, in sich ruhende Persönlichkeit, der sofort von Freddy angetan ist und offenbar totales Verständnis für ihn und seine Situation hat. Er interessiert sich für ihn im Rahmen seiner Aktivitäten. Er veranstaltet Sitzungen zur Erinnerungsarbeit. Ein Guru. Ein Menschenverbesserer. Ein Menschenfreund. Ein Menschenmanipulator.

Freddy ist im tiefsten Alkoholrausch auf das Schiff aufgesprungen, dass Lancaster Dodd für eine feine Gesellschaftsreise gechartert hatte. Wie Freddy entdeckt wird, wird er nicht etwa als Eindringling behandelt, sondern als willkommener Gast des Gurus, des Sektengründers. Dodd persönlich kümmert sich nun um Freddy. Darnach scheint sich unser Träumer zu sehnen. Nach einem Menschen, der sich für ihn interessiert, der ihm hilft, ja der nach langem, langem Traum, ihn ganz allein auf einem Schiff nach China mitnehmen will. Oder aber ihn gar nicht mehr sehen will. Oder dann erst im nächsten Leben, dann aber als Feind.

Merkwürdig an diesem Traum von Freddy, was also praktisch unser Film hier ist, dem wir beiwohnen dürfen, ist auch das Milieu, in dem er seine Geborgenheit sieht. Eine herrschaftliche Villa in Philadelphia, in der der Master seine Sitzungen abhält. Einem Menschen gegenüber sitzen, ihm in die Augen schauen und alles sagen oder alles Gesagte regungslos ertragen. Fassung bewahren. Dann der merkwürdige Schlusssong: never change partners again. Ähnliche Übungen im Beisein der Gruppe. Mit geschlossenen Augen im Raum gehen. Die Wand berühren. Interessant auch, dass der Master sein erstes Buch nicht veröffentlicht hat. Verwunderlich auch, dass offenbar die Gefahr der Explosion, der Unberechenbarkeit von Freddy abzunehmen scheint. Auch wenn Heftigkeit und Handgreiflichkeit nur ab und an zum Ausdruck kommen, verfügbar wären sie immer.

Ziemlich crazy, der Gegensatz zwischen dem äußeren Soldatengetue und der doch weichen Seele, die sich in so einem Traum, in dem es auch noch Ausflüge in Wüsteneien und rasende Fahrten mit dem Motorrad auf einen Salzsee, gibt, artikulieren.
Verzwicktes Seelengemälde eines „harten“ und doch seelisch zerstörten Mannes.

Eine andere Ansicht könnte sein:
Hier geht es um Asymmetrie. Asymmetrie von Krieg und Frieden, von Mann und Frau, von Abenteuer und Familie, von Ordnung und Chaos, von Society und Outsidern, zwischen Ernstnehmen und Lachen. Freddie hat eine fast kindische Lache, mit der er praktisch einen jeden seiner Texte relativiert und in Frage stellt; weil er kein Weltgebäude mehr hat, das alles zusammenhält, keinen Master; andererseits: je mehr der Master in ihm Raum gewinnt, desto seltener die asymmetrische Lache. Asymmetrie zwischen Vereinzelung und Sozialisierung, zwischen Gut und Böse, zwischen Heil und Unheil. Das einzige, was diese Asymmetrien verträglich machen kann, das ist die Liebe. Aber es ist ein langer Weg dahin. Diese Asymmetrien werden grandios symbolisiert oder gespiegelt in der Figur von Joaquin Phoenix als Freddie Quell. Im Gesicht die Hasenscharte. Der asymmetrische Bewegungsablauf, begründet durch Kriegsverletzungen, eine zerfetzte Niere. Eine schräge Haltung in der Welt, die bei Unscharf-Sicht dem Gang von Jacques Tati in seiner Welt nicht unähnlich ist. Vielleicht auch die Asymmetrie zwischen Freddie und dem Sektenguru Lancaster Dodd.

Es ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Soldaten kehren aus dem Krieg zurück. Erleben die Asymmetrie zum Frieden. Sind schwer in die zivilisierte Gesellschaft integrierbar. Ein Film, der auch bald in die Kinos kommt, erzählt von einer anderen radikalen Lösung: Thor Heyderdahl unternimmt die Wahnsinnsfloßfahrt mit der „Kon-Tiki“, obwohl er nicht schwimmen kann und seine Mannschaft keine Seeleute sind. Freddie hat im Krieg gelernt, aus schier allem, was flüssig ist, Fusel zu brauen. Nach dem offiziellen Kriegsende, sie sind noch auf ihrem Schiff, bohren sie sogar Schiffsmunition an und verwenden flüssigen Treibstoff zur Herstellung von Alkoholika.

Das imponiert Lancaster am meisten. Wie er sich vermutlich als Gegenstück zu seiner Gemeinde und seine Frau Peggy, gespielt von Amy Adams, die ihn strikt im Griff haben möchte, um Freddie kümmert. Wie seine Frau Freddie wegen dessen Alkoholsucht rausschmeißen will, kann Lancaster das verhindern mit dem Argument, dann hätten sie ja mit ihren Therapieversuchen keinen Erfolg gehabt.

Die Geschichte vom Eliminieren der Filzläuse auf den Eiern. Erst eines abrasieren. Dann Brutal-Radikal-Methode für die Läuse, die sich auf das andere Ei geflüchtet haben.
Rorschach-Test. Immer nur, monoton, Schwanz und Möse.

Sekten- und Evangelisationsbewegungen als Neubaugebiete für Hoffnungen und Sinngebung nach dem grauenhafte Zweiten Weltkrieg.

Immerhin erzeugt die Reibung mit Freddie eine Veränderung in Lancasters Denkweise. Vorher hieß es, man solle sich erinnern. Es ging in den Sitzungen darum, Vergangenheit hervorzuholen, Erinnertes zu vergegenwärtigen. Am Schluss des Filmes wird festgestellt, dass die Fragestellung jetzt plötzlich die nach der Vorstellung ist: können Sie sich vorstellen? Was einem gewissen Prozess der Loslösung von der Vergangenheit entspricht, die jetzt Platz für Utopie ließe.

Die Gefängnis-Szene, in der Freddie und Lancaster in zwei benachbarten Zellen weggesperrt sind, nur durch Gitter getrennt. Freddie schlägt mit dem Kopf von unten an das obere Bett wie ein Wahnsinniger, erinnert an „Warheads“ von Romuald Karmakar, in dem französische Soldaten ihre Köpfe wie irrsinnig an die Spindwand schlagen, eins übers andere Mal. Höhepunkt der Gefängnisschreierei: I am the only one who likes you, schreit Lancaster, brüllt seinen Schützling nieder.
Titel des Buches von Lancaster: der gebrochene Säbel. Über den Menschen. Befreien Sie sich von vergangenen Traumata.

Wie Lancaster Freddie in London freistellt, sich von ihm zu lösen, aber dann bitte auf Nimmerwiedersehen, und dabei immer das Lied, dass er ihn allein haben möchte in einem Boot nach China, und wie Freddie von dannen zieht, da endlich ist er frei für eine Frau. Will aber mitten im Geschlechtsakt wieder mit den Erinnerungsspielen und -tests anfangen (schau mich an, antworte mir, aber ohne zu blinzeln). Es ist Winn Manchester, ein etwas pummelige, nicht allzu helle Frau, wie sie über ihn gebeugt ist (Sailor on the sea, du kannst hingehen, wo du willst).

Was die beiden Männer auch verbindet, das sind die minzaromatisierten Zigaretten der Marke „Kool“. Cool, kann man auch von diesem Film sagen.

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