Schilf – Alles, was denkbar ist, existiert

Um den Titelzusatz „Alles, was denkbar ist, existiert“ beim Wort zu nehmen, müssen wir akzeptieren, dass auch dieses Kino existiert, was uns Claudia Lehmann, die Regisseurin, zeigt, die zusammen mit Leonie Terfort auch das Buch nach dem Bestseller von Julia Zeh geschrieben hat.

Dieses Kino existiert nun sogar, obwohl ich es vorher nicht einmal unbedingt für denkbar oder für nötig gehalten hätte. Es ist ein Kino, oder präziser ausgedrückt ein Film, der vielleicht zwei grundsätzliche Betrachtungsweisen zulässt.

Die eine wäre die, und wer sich für diese entscheidet, wird gewiss eine wundervolle Erfahrung mit diesem Film machen: auszugehen von der Behauptung, dass Claudia Lehman hier versucht mit den Mitteln des Kinos eine Parallelwelt zu erfinden, die nämlich auch das Thema des ihm zugrundeliegenden Romanes ist. Wobei das Schöne, das Freiheit gebende einer jeglichen Parallelwelt ist, dass sie mit anderen Parallelwelten nie über Kreuz kommen wird, so wie sich Parallelen laut mathematischer Definition erst in der Unendlichkeit, das heißt nach menschlichem Ermessen: nie schneiden werden.

Vorausgesetzt, Claudia Lehmann hat sich dafür entschieden, eine solche Parallelwelt aufzuzeigen, so kann der Zuschauer darin wundervolle Dinge entdecken: viel Atmosphäre wie in Zwischenwelten, das sind Unschärfen der Optik, Wechsel zwischen Schärfe und Unschärfe, das Wabern in der Unschärfe, es gibt sehr dezente Schauspielerstimmen, die zwar im Bühnenduktus sprechen, aber angenehm reduziert. Es gibt eine musikalische Untermalung, die exquisit ist, die nicht das Gefühl vermittelt, sie müsse dünnen Content mit einem dauernden, penetranten Geräuschpegel aufmotzen, die sich sehr viel Freiheit nimmt allerdings mit einem latenten Hang zu Trauer und Melancholie, Streicher-Trauermusik. Jedoch nie kontinuierlich, immer nur punktuell, so dass man sie jedes Mal aufs Neue registrieren und genießen kann und sie nie einschläfernd wirkt. Manchmal versucht sie sogar suggestive Steigerung.

Die Darsteller arbeiten mit hoher Konzentration. Das hat momentweise fast etwas Verschwörerisches. Eine Welt die einen nicht unnötig auf die Folter spannt, eine Welt, die nicht eine Sekunde lang bedrohlich wirkt, weil sie von unserer Welt zu sehr entkoppelt ist, eben in einem Paralleluniversum, eine Welt die viel Gefühl in die Akteure hineinzeichnet, eine Welt, die auf das Ätzende rationaler Handlungszusammenhänge verzichtet, die sich vielleicht, was dann aber nicht mehr konsequent ein Paralleluniversum wäre, von der Romanfigur Sebastian Wittich inspirieren lässt und dann möglicherweise in den Lesern und Leserinnen des Romans Bilder trifft, die das Buch in ihnen auch ausgelöst hat.

Die andere, die bodenständigere Betrachtungsweise, die sich nicht prämissenlos in ein Paralleluniversum entführen lassen will, die andocken will an eigene Erfahrungen, die Anknüpfpunkte sucht zur eigenen empirischen Realität, die kann allerdings in Schwierigkeiten geraten bei diesem Film.

Denn von Anfang an wird eine für unsere Rationalität unglaubwürdige Realität behauptet. Der Professor, der Wittich ist und der sich mit Paralleluniversen beschäftigt oder möglicherweise selber in einem solchen steckt, kommt nicht eine Sekunde als glaubwürdiger Wissenschaftler unserer empirischen Welt rüber, es fehlt ihm der Habitus genauso wie seinem wissenschaftlichen Freund Oskar, der in Genf lebt. Die übrige Handlung, mit Ausnahme eines Besuches von Wittlich im CERN am Genfersee spielt in Thüringen, wie Zeitungsausschnitte über Mordtaten in einem Spital vermuten lassen. Wer eine nachvollziehbare Handlung, eine Konfliktstruktur, eine Charakteriesierung der Hauptperson erwartet, der wird sich hier schwer tun. Der wird den Eindruck nicht los, hier sei konsequent gegen die Kinoglaubwürdigkeit von Schauspielern besetzt worden. Im filmischen Paralleluniversum von Claudia Lehmann, gibt es eine Aneinanderreihung von Szenen ohne großen Handlungszusammenhang, ohne Spannungsbogen; aber wer sagt, dass jedes Universum einen Spannungsbogen brauche. Da es denkbar ist, dass es solche Universen gibt, so gibt es sie wohl auch. Ob sie denn in unserem Universum ankommen und Resonanz auslösen können, das ist eine andere Frage.

Im hier vorgeführten Paralleluniversum hält der Professor Vorträge an der Uni, begrüßt seinen Studienfreund, der noch weniger von einem wissenschaftlichem Habitus hat, wobei eben langjähriges intensives Studium Menschen schon sehr prägt; aber im Paralleluniversum von Claudia Lehmann muss das nicht gezeigt werden. Hier begrüßen sich die Studienfreunde, der Studienfreund kommt zur Familie Wittich, der Bub bringt dem Vater einen Karton auf den Schreibtisch. Auch wie der Professor sich mit seinem Schreibkram auseinandersetzt, hat nun so gar nichts Professorales, hat was rein Schauspielerhaftes. Es kommt das Thema Mengele auf. Der Bub will das wissen. Dann wird in Professors Küche Gemüse gerüstet. Die beiden Profs wirken mehr wie Yuppies. Der Besucher beobachtet durch ein Fenster eine züchtige Liebesszene seiner Gastgeber. Die Zeitschrift Focus wird zitiert mit einem Text über Mengele. Dann sind die beiden Freunde in einer Talkshow. Auch hier wird konsequent darauf verzichtet, diese realistisch und unserem Universum gemäss glaubwürdig darzustellen.

Denn das Paralleluniversum will keinen Anker auswerfen zum Anknüpfen des Zuschauers an die eigene Erfahrung, will ihm nicht die Hand zu einem Einstieg bieten in eine neue Welt, ausgehend von der eigenen Welt, die diese möglicherweise in Frage stellen könnte.

Der Vater will seinen Sohn mit dem Auto ins Pfadfinderlager fahren. Die Mutter wird an der Bahn verabschiedet. Auch das alles ohne jegliche haushalts- oder verfahrenstechnische Stringenz, alles mit einer leichten Abweichung zur empirischen Realität. Dann parkt Wittich sein Auto samt Sohn zwischen LKWs versteckt am Rastplatz Hermsdorfer Kreuz. So sind wir jetzt ohne jegliches Zeit- oder Distanzgefühl aus Thüringen plötzlich im Regierungsbezirk Detmold in Nordrhein-Westfalen gelandet – Paralleluniversum. Während Wittich sich vom Auto zur Raststätte entfernt und den Sohn im Auto zurücklässst, erhält er einen merkwürdigen Telefonanruf von einer merkwürdien Frauenstimme. Er reagiert hochemotional, Theateraufregung.

Jetzt ist er wieder zuhause. Denn der Sohn ist aus dem Auto verschwunden. Bald durchwühlt er Schubladen. Bald fährt er mit einem Rucksack in einen Wald, spannt ein Drahtseil über die abschüssige Straße. Da dieses Drahtseil und der Wald noch mehrfach vorkommen werden, wird sich ein Gewohnheitseffekt einstellen. Komisch, dass es sowas im Paralleluniversum gibt. Vom realistischen Standpunkt aus, könnte man auch böse sagen: bloss Wirres ist noch kein Beweis für die Existenz eines Paralleluniversums.

Auch eine Polizistin kommt jetzt vor, die so ganz untypisch besetzt ist, die gerne nervös mit den Fingern spielt oder der die Regie im Pfadfindercamp einen Pingpongschläger in die Hand gedrückt hat für die Befragung nach dem Verbleib des vermissten Sohnes. Paralleluniversum als Bewusstseinsspaltung? Ist Wittich lediglich schizophren und bildet sich diverse Dinge ein, die nur der Zuschauer zu sehen bekommt, nicht aber die Mitwirkenden im Film?

Zwischendrin ein Hamsterrad mit laufendem Hamster – Hinweis auf ein Paralleluniversum? Man kann sich mit diesem Begriff in der unendlichen Freiheit der Buchstaben- und Wörterkombinationen, der Bildphantasien verlaufen. Insofern kann man einen Film, der sich auf ein Paralleluniversum beruft, auch gar nicht ernsthaft von unserem Universum aus kritisieren, denn es gibt ja keine Verbindungen, von den Begriffsdefinitionen her. Wer was damit anfangen kann, der fange was damit an.

Andererseits findet dieses Paralleluniversum wieder in der konventionellsten unserer Umgangsprache mit nicht mal besonders originellen Texten statt. Konfusion von Bildern und Einbildungen „ich hab jemanden umgebracht“. Dann der Satz aus einem leidigen hiesigen Fernsehuniversum: „Was ist passiert“ „Nick ist entführt worden“ „Ich musste Dabbeling umbringen, damit ich Nick zurückbekomme“. Im Paralleluniversum dieses Filmes kriegt auch niemand in der realistischen Manier unseres Universums einen Verdacht, dass Wittich vielleicht wahrnehmungsgestört sei. Es wird diskutiert, ob man zur Polizei gehen soll. Dann läuft das Paralleluniversum wieder filmisch unerträglich tv-routinehaft ab, sie ruft an, „Du, ich bin in 20 Minuten am Bahnhof. Hol mich ab“. Schnitt. Die beiden treffen sich auf dem Bahnsteig. In unserem Universum würde man das eher für nicht besonders inspiriertes, um nicht zu sagen anspruchsloses Kino halten. Das dem Zuschauer grad gar nichts zumutet.

Dann wieder ein Satz aus unserem Fernsehuniversum: „Wie siehst Du denn aus?“ Und er sagt: „Erzähl ich Dir zu Hause“. So kann man Zeiten in einem Paralleluniversum ungestraft füllen. In unserem Universum hingegen dürften die Zuschauer dem Film doch eher die rote Karte zeigen. Zuhause dann erzählt er die Sache. „Das ist nicht wahr“, meint seine Frau und er „Wenn ich es Dir sage“ und sie „Hast Du die Polizei gerufen?“, nun, wenn das alles ist mit dem Paralleluniversum, dann lob ich mir doch meine Fernsehkiste.

Paralleluniversum: sie haben den Buben aus dem Ferienlager der Pfadfinder wieder geholt. Die Familie Wittich wieder „glücklich“ vereint beim Frühstück. Die Frühstücksszene fängt mit einem leinwandgroßen gekochten Ei im Eierbecher an und ein leinwandgroßes Messer köpft das arme Ei. Paralleluniversum. Es fehlt ein konsequenter thematischer Faden. Es gibt zwar Running Gags von Themen, der Mendele, der ermordete Professor Dabbeling, der Radfahrer, der am ganzen Körper rasiert ist, die Talkshow, wo es um Freiheit und Paralleluniversen geht und dann nicht zu vergessen die titelgebende Geisterfigur des Schilf, deren Funktion ich leider nicht verstanden habe. Der taucht immer wieder wie ein Geist auf, hat versträhntes Haar wie ein Penner, eine Sonnenbrille wie ein Playboy und einen Mantel wie ein Hungerkünstler. Und ist da und verschwindet wieder. Ob so eine Figur schon reicht, um ein Paralleluniversum glaubwürdig zu behaupten? Ob der Zuschauer im Kino eine solche Beliebigkeit auf der Leinwand sehen will, das ist eine andere Frage. Hier wird der Zuschauer doch ziemlich unterschätzt, der sich im Kino durchaus geistig betätigen will, der einer Geschichte folgen will.

Einmal ist unser Pofessor Wittch auch ganz irdisch, wie er am Telefon wütend wird, da schleudert er eine volle Blumenvase auf ein abstraktes Gemälde an der Wand; dem Gemälde passiert zum Glück nichts. Solche Szenen sind nun doch allzubekannt aus unserem kleinen Film-Universum.

Ein bildnerischer Versuch, ein philosophisches Grenzthema auf die Leinwand zu bringen, wobei es an sich schon schwer ist, philosophische Themen zu verfilmen.

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