Der Junge mit dem Fahrrad

Die Gebrüder Jean-Pierre und Luc Dardenne erzählen uns in diesem Film die Geschichte vom Jungen Cyril Catoul, dessen Vater nicht nur verschuldet war und weil er die Miete nicht mehr zahlen konnte, einfach verschwunden ist, sondern der zu allem Übel aus Geldnöten auch noch das Fahrrad seines Buben verkauft hat. Sie erzählen das nicht als eine anrührende, melodramatische, zu Herzen gehende Geschichte, sie erzählen das als einen ins Allgemeingültige erhobenen Fall menschlichen Handelns.

Eine Mutter war nicht vorhanden. So ist also dem Jungen alles genommen. Er wird in ein Heim gesteckt. Das bekommt ihm nicht. Er weiß sich zu helfen. Also, das ist schon die Geschichte, die die Dardennes erzählen, aber eben nicht als epische Geschichte, die realistischen Wahrhaftigkeitsanspruch erhebt, wie in früheren Filmen mit der Kamera so nah an ihren Protagonisten, dass die Grenze zur Subjektivität schnell mal überschritten wurde, nein, hier erzählen sie eher modellhaft, was mit einem Jungen, dem alles genommen wird, so passieren kann in einer Gesellschaft, die wie die unsere strukturiert ist, mit Erziehungsheimen, die ihrem Anspruch nicht genügen können.

Mit den ersten Einstellungen wird gleich eine Charakterisierung von Cyril gezeichnet, er ist ständig auf Draht und in Bewegung, aus besagten Gründen, ihm ist alles abhanden gekommen und er möchte beides zurück, den Vater und das Fahrrad, und er lässt nicht locker und ist wie eine Rakete, die gezündet worden ist und die durch nichts mehr aufzuhalten ist, nicht zu stoppen und da sind keine Ermüdungserscheinungen zu beobachten. Das wird zudem von der Aufnahmetechnik her unterstützt mit einer Kamera, die ständig versucht, ihn einzufangen, und der er ständig fast entwischt. Ein aufregender Effekt.

Cyril lässt also nicht locker, bis er im Hochhaus ist, in dem er mit seinem Vater gewohnt hat. Der Portier lässt verlauten, der Vater sei seit über einem Monat ausgezogen. Cyril ist um eine Lösung nicht verlegen. Er klingelt bei einer Arztpraxis, schützt vor, vom Fahrrad gefallen zu sein und schon summt der Türöffner. Und nichts wie in den Lift und in die bestimmte Etage. Dort gibt’s zuerst eine Begegnung mit einem abweisenden Nachbarn. Dann mit anderen, die ihn kennen und ihn unterstützen bei der Suche nach Vater und Fahrrad.

Das Fahrrad bekommt er zurück über eine Frisöse, die es von irgendwo wiederbeschaffen konnte. Die haut er an, ob er zu ihr kommen könne, er wählt sie sich als Pflegemutter aus. Sie willigt sonderbarerweise ohne zu zögern ein. Das ist schon bemerkenswert. Sie scheint Sehnsucht nach menschlicher Beziehung zu haben. Obwohl sie, die von Cécile de France dargestellt wird, so glatt wie eine Friseuese erscheint, ohne erkennbares Sehnsuchtsleben, denn Frisuren haben ja Perfektion und Glück zu suggerieren, da passen menschliche Sehnsüchte, also die Formulierung von Defiziten, nicht rein in das Bild, so weit meine Interpretation.

Den Vater findet er auch. Der ist inzwischen mit einer anderen Frau zusammen, die ein Restaurant aufmachen will. Die Begegnung mit dem Vater verläuft überraschend, man hätte eher einen gestörten Menschen erwartet, von der Verschlossenheit des Jungen möglicherweise auf einen Brutalo gewettet, dann wäre die Sehnsucht nach ihm nicht so ganz erklärlich, aber den Dardennes kommt es nicht auf die psychlogische Stimmigkeit an; sie behaupten, der Vater sei überfordert gewesen von seiner wirtschaftlichen Lage, ihm ist alles, auch der Bub über den Kopf gewachsen, denn er scheint überhaupt nicht ein besonders böser Typ zu sein.

Cyril lebt sich nun bei der Frisöse, Samantha heißt sie, ein. Darüber, dass ihm zweimal das Fahrrad von älteren Jungs geklaut wird, was er sich nicht bieten lässt, lernt er Wesker kennen. Wie er den Fahrraddieb beim zweiten Klau bis in ein Wäldchen hinein verfolgt und wieder mit Urkräften niederreißt und am Boden sich in ihn verbeißt, sind plötzlich die älteren Jungs mit Wesker da. Aha denkt man, jetzt kommt eine üble Gruppenbelästigungsszene. Aber nichts da. Nach einigem Geplänkel gratuliert Wesker ihm, das sei super, wie er das gemacht habe.

Doch das Fahrrad hat einen Platten. Also will Wesker dieses zu einem Freund zum Reparieren bringen. Dann nimmt er Cyril mit aufs Zimmer, verwöhnt ihn mit Limo. Aber er belästigt ihn nicht, könnte ja auch eine Erwartung sein. Die Dardennes bleiben beim Modellhaften. Klar wird, dass Cyril eine männliche Vorbilds- und Bezugsperson sucht – der Freund der Coiffeuse wurde so unwichtig eingeführt, dass er dafür nicht in Frage kam.

Wesker hat vieles, wovon Cyril träumt, zum Beispiel eine Playstation. Wesker spielt also den Freund, den viel älteren von Cyril. Darüber ist nun die Coiffeuse gar nicht erbaut und wie Wesker es Cyril vorausgesagt hat, wird Samantha Wesker als einen Dealer bezeichnen (der er wohl auch war – kein guter Umgang also!). Samantha schafft nun dadurch, dass sie Wesker nicht gut darstellt eher einen Graben zu Cyril, der das auch spürt, später fragt er sie einmal direkt, warum sie ihn denn überhaupt genommen habe und sie weiß keine rechte Antwort darauf, aber sie weiß es auf so deutliche Art nicht, dass es dem Zuschauer dafür doppelt klar wird: auch nur um gegen die eigene Einsamkeit zu kämpfen.

Wesker trainiert Cyril nun für einen Überfall. Am Rande der abschüßigen Bahn. Cyril macht die Übung bedenkenlos mit, denn so ist er Wer und lernt was: mit einem Schlagstock einen Menschen niederschlagen und ihn anschließend ausrauben. Allerdings sperrt Samantha ihn nun ein zuhause; nur mit Gewalt kann er ausbrechen aus dem Coiffeusenreich. Samantha wollte ihn statt Wesker einem braven Jungen vorstellen, einen genehmen, einen ordentlichen Umgang, dieses ganze Thema, wie Eltern den Umgang ihrer Kinder zu regeln versuchen, wird hier ganz nebenbei mit zwei drei Federstrichen gestreift.

Cyril macht den Überfall. Erst geht alles glatt, ein Schlag und der Typ liegt am Boden, da kommt aber aus dem Hintergrund noch jemand, auf den geht er zu, ein gezielter Schlag und auch der liegt am Boden. Dann das Geldbündel aus der Tasche am Gürtel klauben, den Schlagstock erst vergessen, den er auf keinen Fall zurücklassen darf, dann denkt er dran. Alles erfolgreich. Er hupft zu Wesker ins Auto. Der beschwört ihn, er habe nichts damit zu tun. Und drückt ihm das Geldbündel in die Hand. Damit ist Cyril überfordert. Denn jedermann würde fragen, wo er das her habe, diese vielen Hunderter. Cyril will das Geld seinem Vater bringen. Dem ist das zu heiß. So lässt Cyril das Geldbündel im Hinterhof fallen und kehrt zurück zu Samantha.

Die Folge ist eine behördliche Vernehmung. Die Sache ist aufgeflogen. Cyril gesteht und entschuldigt sich beim Vater der Niedergeschlagenen; aber der Sohn der will die Entschuldigung nicht annehmen. Samantha wird in monatlichen Raten den Schaden von weit über Tausend Euro begleichen. Cyril hat sich für Samantha entschieden und damit auch für Mourad, den braven Jungen mit Brille. Noch soll er schnell an der Tanke die Holzkohle besorgen. Er trennt sich also von Samantha. Sie wollen sich zuhause wieder treffen. In der Luft liegt, dass eine der offenen Rechnungen noch beglichen werden muss. Der Sohn seines Opfers sieht ihn, jagt ihn ins Wäldchen. Dort steigt der agile Cyril auf einen Baum. Sein Verfolger wirft Steine. Cyril fällt vom Baum. Liegt tot am Boden. Der Vater, bei dem er sich entschuldigt hat, nähert sich, was ist los, wenn der tot ist, dann verabredet er schnell die Lüge, die sie auftischen würden, falls er tot sei und der Vater entsorgt vorsichtshalber den Stein delicti im Gebüsch. Da bewegt sich Cyril wieder. Später radeln er und Samantha auf einer schönen ebenen Strecke und Samanthas Rad hat acht Gänge und ist noch schneller als Cyril mit vier.

Nun hauen die Dardenne-Brüder einen kräftigen Beethoven drauf wie schon vorher nach der Geldbündel-Szene, womit ich jetzt nicht viel anfangen kann, was aber sicher auch seinen Sinn hat und man muss sich nur vorstellen, wie es wäre, wenn diese Musik nicht wäre.

Der Film entlässt einen voller Gedanken aus dem Kino, die noch lange im Hirn herumtanzen. Ich weiß nicht, ob es ein Kino gibt, das näher am Puls der Zeit ist und doch so distanziert, und von der Kinotechnik her aber wieder so nah, davon erzählen kann.

Durch das Modellhafte dürfte den Dardenn-Brüdern gelingen: dass man eben nicht die Individuen, die im Film schlecht handeln, für böse, misslungene, missratene, unkultivierte Indivuen hält, überhaupt nicht, man sieht sie durch die dardennsche Erzählweise und Optik viel eher als Prototypen von naheliegend Handelnden, die man überall in seiner Umgebung definieren kann. Das dürfte das Geheimnis dieses Kinos sein. Damit dürfte ich im Grunde genommen nichts ausgeplaudert haben. Über Optik zu reden ist kein Geheimnnis.

Dieser Film ist reichhaltige Kinonahrung, man verlässt das Kino geistig angeregt. Weil individuelle Marotten nicht vorkommen, es wurde nicht auf Originalität der Figuren geachtet, sondern auf ihre Grundeinsamkeit, die ihre Handlungen beeinflusst, das hat mir dieser Film gezeigt.

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