Vier Leben

Also ob die Zeit stillsteht. Als ob die Zeit stehen geblieben ist. Gegenwelt zu IT und Atommeilern. Der Film endet in der letzten Phase mit einem Kohlemeiler, den die Dorfmänner mit Holz bauen und dann zum Kokeln bringen. Ländliche Idylle und moderne Wirtschaft. Sehnsucht nach Einfachheit. Vielleicht könnte man von einer philosophisch-cineastischen Spielerei oder Versuchsanordnung sprechen.

Die erste Geschichte ist die vom alten Ziegenhirten. Schon hier wie in allen folgenden Geschichten sind viele Einstellungen, die ruhig beobachtend von einer Position ausgehen, sich aber auch mal drehen können, wie eine Live-Cam. Am häufigsten bei den Szenen am Platz mit dem Ziegenpferch am Eingang zur Ortschaft unterhalb der Häuser, wo sehr früh der Pfarrer ein Kopftuch in alle Himmelsrichtungen segnet.

Der alte Hirt hütet die Ziegen in der wunderbaren Hügellandschaft Apuliens.  Jean-Marie-Straub hätte in diese pastorale Gegend  die Einwohner und Laien hineingestellt und Pavese oder Dante sprechen lassen. Michelangelo Frammartino interessieren zum Beispiel die  Ameisen auf Holzborke, die  im Kino ganz gross werden können. Oder wie der Hirt Weinbergschnecken sammelt. Meditativer Film über einen Zeitstillstand. Der Hirt kehrt zurück ins Dorf.

Am Dorfplatz tut sich was, das berichtet uns die Live-Cam. Es ist früh, die Ziegen sind im Pferch. Ein roter, landwirtschaftlicher Klein-Transporter fährt vor. Diesem entsteigen zwei Männer mit Umhängen wie die alten Römer, sie gehen zum Dorf hinauf. Im roten Transporter wurden auch Säcke gebracht, die dann im Dorf verteilt werden. Es ist Kohle. Die „Römer“ kommen jetzt mit viel Volk wieder vom Dorf  runter, treiben einen Hund vor sich her.  Es ist eine Kreuzigungsprozession, die an der Kamera vorbei zieht in Richtung eines Hügels weit vor der Ortschaft, wo schon zwei Kreuze stehen.

Weiter ist in dieser einzigen Einstellung, die schon Minuten gedauert hat und ohne Zwischenschnitt ausgekommen ist, zu sehen, wie der Hund, der vorher  ins Gebüsch gejagt wurde, nach Vorbeiziehen der Prozession zurückrennt zum Dorfplatz, den Feststellkeil unter dem Rad des Transporters löst. Das ist nur mit präpariertem Trick möglich, dass sich der Transporter augenblicklich aus seiner Position löst und anfängt rückwärts zu rollen und directement auf den Ziegenpferch auf der anderen Strassenseite zu.  Den Aufprall sieht man nicht, da kann also auch was vorbereitet gewesen sein, denn die Kamera schwenkt  zurück zur Kreuzigungsprozession, die inzwischen auf dem Hügel weit hinten angekommen ist,  und gleich dreht sie wieder zurück zum spitzbübischen Hund, der bellt eine Nachläuferin der Prozession an und dann kommt ein anderes Gefährt und inzwischen sind die Ziegen ausgebrochen und der Hund treibt sie aufwärts ins Dorf. Man müsste hier vielleicht von der komplizierten Kunst einer Doku-Inszenierung sprechen.

Der alte Mann liegt inzwischen auf seinem Bett, schnauft tief, die Ziegen strömen in die Wohnung über steile Treppen hoch, eine, zwei stehen auf dem Tisch, und schon wird der Sarg mit dem alten Mann die steile Treppe runtergetragen und die Platzkamera sieht den Trauerzug, der geht an ihr vorbei und schwenkt dann nach links hinten und schon wird der Sarg in die Nische geschoben, ganz oben unter der Decke; die Kamera lässt sich auch einmauern, Deckel zu, dunkel, noch so was wie Herzschlag. Dunkel. Überblendung.  Ein Lärm. Die junge Ziege kommt auf die Welt. Auch das in einer langen Einstellung und dann in Zeitabständen, bis sie stehen und gehen kann.

Nach der Ziegengeburt entspannt sich die Kamera an einem bizarren Wolkengebilde. Angenehm übrigens, dass im ganzen Film nur Originallaute vorkommen. Die Ziegenglöcklein als heftiges Signal, mal die Kirchenglocken. Auch Menschenstimmen, aber meist aussserhalb der Verständlichkeit. .

Die Live-Cam bleibt ellenlang im Ziegenstall bei den kleinen Zieglein, die einzige weiße, die braunen, die schwarzen, die spielen mit dem Besen, Dann kommen die alten Ziegen nach Hause, getrieben jetzt von jüngeren Hütern, aber auch nicht mehr ganz jung. Wie die Ziegen das nächste Mal rausgetrieben werden durch die engen Gassen, diesmal sind die Kleinen dabei, und tun sich noch schwer mit den Stufen, und in einer engen Gasse mit einer hohen Mauer auf einer Seite, da springen einige vorwitzige Ziegen in die Höhe zum Kräuter schleckern. In der Landschaft draussen, Inszenierung mit Ziegen:  die kleine weisse Ziege bleibt in einem Graben hängen, le chevre de M. Seguin kommt einem in den Sinn, bleibt allein zurück, während die Herde enteilt. Viele Szenen mit diesem  einzelnen Zicklein folgen, ein Zicklein-Zyklus.

Es ist Winter. Ein einsamer Baum, eine grosse Tanne, mit den Hügeln im Hintergrund. Schnitt.  Sommer..Ameise auf Holzrindenstück. Tannenzapfen blühen. Stimmen irgendwo. Bienensummen. Motorsäge. Die Tanne kippt. Plötzlich zieht ein Haufen aufgekratzter Menschen den geschälten Holzstamm auf einem Platz am Ortsrand, die Tanne hat noch den Wipfel, drauf sind Pakete gepackt und ein Luftballon. Der Baum wird aufgestellt. Später klettert einer dran hoch. Und schon wird die Tanne schon wieder gekippt. Es gibt keine Leitfigur ausser der Tanne. Die Ziegen sind verschwunden. Wie der Baum wieder zu Boden gezogen wird, stürzten sich alle Leute auf die Äste des Wipfels, holen sich kleine Tannenzweige. Dann wird der Stamm zerlegt. Auf dem roten Gefährt weggefahren, dahin, wo früher schon Räuchlein zu sehen gewesen sind. Jetzt wird der Köhlerhaufen aufgebaut mit vielen kleinen Ästen erst rundum, dann wird eine Art Plane, wie um einen Zirkus oder zur Sichtabdeckuntg einer  Baustelle drum gezogen, Erde und Stroh drauf und das Ganze angezündet. Heimatkundlicher Unterricht.

Dunkle Wolken über den Bergen.

Der Meiler wird abgebaut, es kokelt noch das Holz. Es kommt in grobe offene Jutesäcke. Ladefläche des roten Gefährts wird gefüllt. Ein Mann bringt einen dieser Säcke von der Ladefläche zu einer Haustür.

Ein meditativer Film über die Natur, das Sein, das Werden, abseits der hochtechnologisierten Welt. Man sieht aber auch, wie aufwendig hier die Gewinnung sogenannter alternativer Energie ist. Es ist eine Art Webcam-Kino mit recht raffiniert inszenierten Szenen, die alle ganz natürlich ausschauen. In dem Dorf ist immer was los. Wenns eine Webcam wäre, dann könnte man im Jahr drauf zu einer ähnlichen Zeit wieder reinschauen oder gleich wenn man aus dem Kino nach Hause kommt.

Eine Kamera, die vorgibt in der Art eine Web-Cam, naturwüchsiges Sein zu erwischen.

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