Winter’s Bone

Die Voraussetzungen für einen Film, der einen packen soll, sind denkbar schlecht: Nordmissouri, amerikanische, außenweltarme Provinz (das weltverbindenste ist noch das Rekrutierungsbüro der Armee), schwer zugängliche, runtergekommene, verlotterte, ärmliche Gehöfte, verschlossene, feindselige Charaktere mit wenig Neigung zum Gespräch, kein Kamera- und Ausstattungsschnickschnack, keine vom Gesichtschirurgen entindividualisiserten Darstellergesichter, Hollywooddarstellerinnen in Holzfällerhemden, merkwürdige Gegenstandsansamlung an der Hauswand, kaum Handlung und irgendwann noch die berühmte Horrorfilm-Kettensäge (der dünne Faden einer Story leuchtet nur sporadisch auf wie ein von David Lynch nachts gefimter Mittelstreifen, erzählt von der non-aggressiven, offenen 17jährigen Ree, die ihre Mutter und die beiden jüngeren Geschwister, den 12jährigen Buben und das 6jährige Mädel durchbringen muss, und die – das ist nichts weniger als klassisches Geschichtenerzählen – vor der schier unlösbaren Aufgabe steht, den Vater in der Düsternis und Mauer des Schweigens der dunkelwaldigen Provinz ausfindig zu machen, denn der ist gegen Kaution aus dem Knast entlassen worden, hat aber dafür das Haus der Familie verpfändet und ist abgetaucht: der Familie droht unmittelbarer Verlust des Daches über dem Kopf).

Warum aber hält einen der Film von der ersten bis zur letzten Minute in Bann?
Ist es die nordisch-lakonische, poetische Atmosphäre, die die Regisseurin zaubert?
Ist es die Farbgebung, dieses die Seele beruhigende Grau-in-Grau wie bei einem Regentag, so dass der Mensch anfangen kann, zur Ruhe zu kommen, zuzuschauen, durchzuatmen, ja vielleicht fast zu meditieren?
Ist es das Unaufdringliche der Regie, deren Rhyhtmus, der ganz für sich steht, ohne irgendwelche Konzessionen an eine Hektik der Zeit, an allfällige Marketingsanforderungen, an TV-Wegzappängste der Produzenten zu machen?
Ist es dieses Sich-Zeit-lassen mit den einzelnen Szenen, dieses Nie-über-etwas Hinwegpfuschen, Dinge und Menschen Ernst-Nehmen in den kleinen nächsten Dingen, die sie zu bewältigen, zu erledigen haben, in ihrer eigenen Begrenztheit (was trotzdem zu keinerlei Denunziation der Figuren führt)?
Ist es die Kunst der Regisseurin, ihren Figuren zwischen dem Sprechen auch genügend Zeit zum Denken, Nicht-Denken oder Brüten zu lassen?
Sind es die Szenen der kleinen Gesten? Zum Beispiel wie Ree zur Nachbarin rübergeht, fragt, ob sie das Pferd bei ihr unterstellen dürfe, denn Stroh sei sehr teuer und sie hätten nicht mal was zum Essen und wie die Nachbarin ganz selbstverständlich ohne Aufhebens nickt und kurz darauf mit einem Karton voller Fressalien in der ärmlichen Hütte von Ree und ihrer Familie auftaucht, quasi biblisch-selbstverständlich, nächstenliebeselbstverständlich, wie wir es uns kaum mehr vorstellen können – ist es diese menschliche Größe, die so klein und unscheinbar daherkommt? (In der Stadt müsste für so eine Tat zumindest eine Verdienst-Medaille verliehen werden) oder wie der Onkel seinem Neffen und seiner Nichte behutsam in einem Schneuztuch geborgene junge Hühnerküken bringt (– gut, das ist dann fast puppenstubenhaft schön)?

Was mich an diesem Film, der mir vorkommt, wie ein bewegtes und bis ins Detail liebevoll gestaltetes, rotierendes Stilleben von Menschen und Tieren, so gefallen hat, ich kann es nicht sagen, ein Film, der einem so gar keine Handhabe für knallige, ätzende oder superlativische Formulierungen gibt – vielleicht weil er sich dem einfachen, alltäglich Menschlichen zuwendet, es beobachtet, weil es den Menschen sein lässt, ihn durch Team und Kamera und Licht nicht versucht aufzuschrecken oder sich übertrieben präsentieren zu lassen oder nervös zu machen; weil er aber auch die offene und auf die Menschen zugehende Art von Ree nicht im geringsten zu exploiten versucht.
Ist es diese radikale Konzentration der Regisseurin auf das nächstanstehende Problem ihrer Figuren, die den Darstellern keine Möglichkeit für rollenkonträres Sich-Bemerkbar-machen, Ichverbreiterung und darstellerische Mätzchen und Übertreibungen lässt?
Oder sind es die voluminös alten Ami-Blechkutschen, die in dieser weltvergessenen Provinz vor sich hinrosten oder noch rumgefuhrwerkt werden dürfen, die hier ein Anrecht auf Leben haben, wie alte Pferde auf einem Gnadenhof?
Jedenfalls ist das alles so dicht gewirkt, die Fäden sind zu einem so dichten Teppich gewoben, dass es einen runde 100 Minuten lang die Atomkatastrophe von Fukushima vollkommen vergessen lässt.

2 Gedanken zu „Winter’s Bone“

  1. Super Besprechung die nicht verschweigt, daß der Autor von diesem Film begeistert ist, trotzdem aber nicht den etwas zähen Handlungsablauf verschweigt und auch nicht spoilert.

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