Vergissmichnicht

Eine anregende Collage über eine Lebensstrecke von 33 Jahren, bei der sich ganz entspannt darüber nachdenken lässt, ob die menschliche Identität eine Einbahnstraße sei ins Irgendwohin oder ob sie zirkulär verlaufe, sich hochschraube von der Bewunderung für große Vorbilder (das siebenjährige Mädchen träumt von Mutter Teresa nicht weniger als von Margaret Thatcher, von Greta Garbo über Meryl Streep bis Coco Chanel) zu eigener, in der Jugend angelegter und geträumter Größe, von Marguerite zu Margaret.

Die Frage stellt sich unserer bewunderswerten Hauptdarstellerin Sophie Marceau, die die erwachsene Margaret, eine Karrierefrau, spielt und die an sich selbst als siebenjähriges Mädchen Post zum 40. Geburtstag versandt hatte, die diese Identitätsfragen aktuell machen soll und die ihr pünktlich zu diesem Datum der nun schon greise Advokat Mérignac auftragsgemäß und auftragsgetreu überreicht.

Zuerst will sie von ihrer Vergangenheit nichts wissen, so ist sie gefangen in den Schlingen der Prozente – ihre Hauptaktivität an führender Geschäftsposition ist das internationale Feilschen um lächerliche Prozente, 3, 3,3, 3,5 3,8 oder gar 4 – mehr wird über die Art des Geschäftes kaum bekannt gegeben, ist auch gar nicht nötig.

Wichtiger scheint das ganze Getue um den lächerlichen Vorgang, die Herren, die ständig um sie rumtanzen, Chauffeure, Assistenten, der riesige begehbare Schrank mit Unmengen von Klamotten, der Fakt, dass sie sich wie große Politiker auf Wahlkampf mehrmals täglich im Auto umziehen muss, die Diskussion über das Décolleté und dessen Einfluss auf die „Verhandlung“. Sie hat ihre Kindheit, ihre Herkunft, ihre Identitätsprägung vollkommen vergessen.

Sie weiß bei der Begegnung mit dem Advokaten, der sich fast mit Gewalt Zugang zu ihr verschaffen muss, überhaupt nicht mehr, wer er ist, sie weiss auch gar nicht mehr, wer Marguerite war. Sie hat sich in ihren Nicht-Träumen, also in ihrer Karriere verlaufen. Da dürfte sich so mancher Zuschauer, manche Zuschauerin, wiedererkennen, wenn er/sie es denn zulässt.

Sie hat damit ihr Ziel aus den Augen verloren. Das zu rekonstruieren ist nun der Prozess, der über die Begegnung mit den Briefen, die sie an sich selber geschickt hat, mit ihrem Bruder, mit dem Buddelkastenfreund in Gang kommt und das Gros des Filmes füllt.

Ein schönes Bild für die Entfremdung von ihrem Ursprung ist die Ehe mit Malcolm, mit dem sie meist englisch spricht. Es gibt dann im Laufe des Widererstarkens ihrer Marguerite-Persönlichkeit einen schönen Ehekrach zwischen UASC-Schiffscontainern inklusive Tellern, die durch die Gegend fliegen.

Die Phase der Kinder zwischen etwa 7 und 10 Jahren heisst auf französisch „l’age de raison“ (so der intelligentere, französische Titel des Filmes), das Alter der Vernunft; der Prozess im Film führt dazu, dass Marguerite mit 40 die Vernunft realisieren kann, die sie mit 7 – weitsichtig, hellsichtig, mit einem Blick, der nicht von Karriere-Erfordernissen verstellt war – schon hatte.

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