Ich hatte heute das Vergnügen, die zweite PV-Runde von Sherlock Holmes besuchen zu dürfen und den Film dabei in der deutschen Fassung sehen zu können. Ich bin hin- und hergerissen. Doch dazu muss ich weiter ausholen (leichte Spoiler):
Wie es der Zufall will, habe ich vor einigen Jahren im irischen Sligo in einem Buchladen die Wordsworth Classics für mich entdeckt, ultrabillige Drucke klassischer Literatur. Ich holte mir den (fast) gesamten Sherlock Holmes, wie er auch im Strand Magazine abgedruckt worden war. Wieder zuhause, las ich ein gutes Dreivierteljahr nur Sherlock Holmes. Ich tauchte ein in das London der Jahre 1887 und folgende.
Der Meisterdetektiv, dessen Wesen und Methodik sich über Wochen und Monate vor meinem inneren Auge entspannte, ist nicht die Person, die ich heute im Kino gesehen habe.
Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle ist ein gemütlicher bewegungsarmer, tendenziell genußorientierter Denker, der lieber vom Ohrenbackensessel aus Fälle nur mit Hilfe der Indizien löst, als vor die Tür zu gehen (was er natürlich schon tut, aber eher gezwungenermaßen. Dies gibt sich im Lauf der Erzählungen). Er interessiert sich praktisch gar nicht für Frauen. Liebe, Sex, Heirat und Kinder sind absolut nicht seine Welt.
Dr. Watson ist sein Freund und heimlicher Beschützer, sozusagen der Schutzengel des zerberchlichen Unikums. Watson hat den Krieg gesehen und Watson weiß als einer von sehr wenigen Figuren die Genialität des Sherlock Holmes überhaupt zu erahnen und zu schätzen. (Holmes selbst empfindet sich übrigens seinem älteren Bruder Mycroft als geistig stark unterlegen.) Er bringt seine Fähigkeiten gewinnbringend ein, indem er – aus seiner Sicht verhältnismäßig leichte – Rätsel löst, die seiner Umgebung aus nicht nachvollziehbaren Gründen jedoch unlösbar erscheinen.
Sherlock Holmes von Guy Ritchie ist ein Lover und ein Fighter, sein Buddy Dr. Watson steht ihm stets zur Seite und darf ebenfalls markige Sprüche zur rechten Zeit abfeuern. Holmes‘ geistige Fähigkeiten werden im Film jedoch reduziert auf etwas überdurchschnittliches Faktenwissen, nicht unähnlich der für die Spielshow Wer wird Millionär erforderlichen Inselkenntnisse, doch fehlt mir das gehobene Verständnis der tieferen Zusammenhänge der Welt dieser Rolle in diesem Film.
Robert Downey jr. und Jude Law spielen ein großartiges Team von schlagfertigen wie -kräftigen Detektiven, doch sind dies nicht Sherlock Holmes und Dr. Watson. Käme der Film unter Vier Fäuste für eine Meerschaumpfeife in die Kinos, hätte ich keinerlei Probeme, dem Film ein 1a-Zeugnis auszustellen.
Doch hier setzten sich ein paar Autoren zusammen, zogen sich eine Geschichte aus der Nase, wie sie ebenso in der Beweismittelkette von CSI nach dem Motto „Bloß nicht denken, nur die Beweise sprechen lassen“ funktionieren könnte und die so gar nichts mit Arthur Conan Doyle zu tun hat, und schrieben Sherlock Holmes darüber. Die meisten Figuren (bis auf den Antagonisten, Lord Blackwood) wurden nach den Romanfiguren benannt, doch das ist auch schon alles. Irene Adler zum Beispiel ist in Wirklichkeit (also in der Vorlage) keine Meisterdiebin wie im Film, sondern eine Kundin, die selbst auch nicht auf den Kopf gefallen ist und so sogar Holmes‘ Aufmerksamkeit kurzzeitig erregt.
Ich verstehe natürlich, dass das heutige Mainstreampublikum mehr Action braucht als Pfeife rauchende Männer, die in einem Kaminzimmer diskutieren, wie dieses oder jenes Verbrechen denn nun begangen worden sein könnte. Aber wieso dann ausgerechnet das ultimative Vorbild jedes Kriminalers, der je gelebt, namentlich für eine Action-Detektivromanze herhalten muss, ist mir schleierhaft.
Eine komplette Generation von Menschen wird nun heranwachsen mit der Überzeugung, dass Sherlock Holmes ein krasser Fighter war, der heftige Verschwörungen mit coolen Sprüchen in ationlastigen Szenarien auf die letzte Millisekunde aufdeckt und dabei natürlich auch noch die Chicks klarmacht. Wenn auch nur einer dieser Menschen wegen des Films eines der Bücher in die Hand nimmt, wird er, ganz subjektiv, völlig neue Dimensionen der Langeweile für sich entdecken können.
Doch genau darin liegt der Reiz des „echten“ Sherlock Holmes: Dass man trotz telegrafiertem Hilferuf eben nicht mehr noch am selben Tag auf das Landgut des Absenders fahren kann, weil eben keine Züge mehr gehen, und stattdessen ins Theater. Dass die Dinge ein wenig langsamer laufen im 19. Jahrhundert als heute. Dass man dramaturgisch mit den damaligen Gegebenheiten zu arbeiten hatte und als Autor eben – Spoiler – keine Weltungergangsmaschine, den Taser oder die Funktechnologie aus dem Hut zaubern konnte.
Sherlock Holmes wurde schon öfter verfilmt, und nie wurde meines Wissens ernsthaft an den Fundamenten der Charaktere gerüttelt. Diesmal schon. Diesmal wurde ein guter Name dazu verwendet, mehr Kohle mit einem völlig artfremden Produkt zu machen, und das auf Kosten der Integrität des Kernthemas, eben des besagten ehernen, ehrenwerten, verdienten Fundaments, auf Kosten von Weltliteratur. Dieser Sherlock Holmes ist wie eine Neuauflage von Columbo, in der der werte Inspektor nebenher noch als Quarterback spielt. Es passt einfach nicht zusammen.
Wer eine Sherlock Holmes-Adaption sehen will, die den Mainstreamgeschmack trifft, aber dennoch die Position des Originals in der Weltliteratur wertschätzt, dem sei Without a Clue, zu deutsch Genie und Schnauze, schwer ans Herz gelegt:
… und natürlich Columbo. Dieser Cartoon hier passt aber auch ganz gut zur Diskrepanz zwischen Literatur und Ritchie-Film. (Leichte Anpassungen des Textes folgen noch, denn ich bin noch nicht ganz glücklich mit meiner Wortwahl)
Ah, ja, aha, ja, klar, verstehe… alles schön erklärt warum dieses und jenes nicht geht und so…
Nur… solange der Film geilt ist das scheissegal. 8)
Eine vortreffliche Analyse zu Ritchies Werk. Jeder Ära ihren Holmes, möchte ich meinen. Der hier gefiel mir, wenn auch mit lachendem und weinendem Auge – ich komme da aus einer deiner ähnlichen Richtung, Julian.
Ein zeitgemäßes Update schadet einer echten Ikone aber nicht, zeigt vielmehr ihre Größe auf. Rathbones Version wird sich nie verlieren, und in meinen Augen kam keine andere der Vorlage (die ich auch komplett besitze) näher (bis auf die Spysmasher-Mätzchen natürlich).
Es sollte mich wundern, wenn die Involvierten bei Teil 2 nicht versuchten, etwas originalgetreuer zu sein. Moriarty als Gegner ist dazu auch sicher eher angetan als Scharlatan Blackwood.
Denn veritable Geistesduelle „sind“ Holmes und somit … elementar, mein lieber Watson.
Lasse ich mich doch noch mal hinreißen…
Sherlock Holmes wurde IMMER seiner Zeit angepasst, vielleicht mehr als jede andere literarische Figur. Die Rathbones spielen nicht in der korrekten Periode, in „Die Rückkehr des Sherlock Holmes“ wird der Meister in die Gegenwart verlegt, in „Der Mann der Sherlock Holmes war“ ist es gar nicht Sherlock Holmes. Von den Komödien mit oder über das Genie fange ich gar nicht erst an. Die völlige Umdeutung der Figur hat also Tradition – und ausgerechnet DIESER Holmes ist dann nicht akzeptabel?! Das scheint mir arg selektiv, und nostalgisch verklärt. Außerdem finde ich es etwas paradox, Ritchies Film zu verdammen, aber dann mit „Without a Clue“ einen Film zu empfehlen, der die Figur Holmes deutlich unwürdiger behandelt. Ob der mit knapp 10 Millionen Weltboxoffice wirklich den Mainstream-Geschmack getroffen hat, wage ich zudem zu bezweifeln. Da scheint mit Ritchie den Trend punktgenauer erwischt zu haben – 400 Millionen zeitgleich neben „Avatar“ ist eine beeindruckende Leistung.
„Aber wieso dann ausgerechnet das ultimative Vorbild jedes Kriminalers, der je gelebt, namentlich für eine Action-Detektivromanze herhalten muss, ist mir schleierhaft.“ – in der Frage liegt die Antwort, guter Dr. Reischl. Wenn man 100 Millionen und Robert Downey in einen Blockbuster steckt, gibt es keinen Grund, eine weniger bekannte Figur zu nehmen. Think big. Bryan Singer hat ja statt „Superman“ auch nicht „Captain Marvel“ gemacht, und Tim Burton statt „Batman“ nicht „The Question“.
Zusammenfassend: Jede Generation hat ihren Sherlock, und dieser hier passt gut in die Zeit, und ist nicht annähernd so doof wie viele Blockbuster-Kollegen. Und schau mal in deinen Bücherschrank – ich bin sicher, die Werke Doyles sind immer noch unbeschädigt. Für den nächsten Autor, der sich daran versuchen will. Und viele weitere.
@ Nathan: Rathbone? Ein großer Holmes in schlechten Holmes-Filmen. hust*jeremybrett*hust
Hi Torsten,
Du hast ja Recht. Aber er hat mir einfach nicht gefallen. Ich bin halt, wie Du schon schreibst, nostalgisch verklärt.
Zu meiner Verteidigung: Ich habe nie gesagt, dass alle anderen Verfilmungen gelungen wären. Ich kenne die meisten sicher nicht oder nicht gut genug (zu lange her), um mir da ein Urteil bilden zu dürfen. Und: Für das Mainstreampublikum mag das Aufpeppen der Figur ja funktionieren, aber es ist halt nicht zwingend das Maß aller Dinge, das Mainstreampublikum zu bedienen. Für die Geldmaschine Hollywood natürlich schon, aber ob man (nicht Du, man) das nur der Kohle wegen dann auch Verbesserung nennen darf? Und der Text in den Büchern hat sich tatsächlich nicht geändert, was für ein Glück! 😉
Ja, danke für die Einladung, mich über mein Lieblingsthema auszumehren, Julian. 🙂
Fangen wir mal von vorne an. „Sherlock Holmes von Arthur Conan Doyle ist ein gemütlicher bewegungsarmer, tendenziell genußorientierter Denker, der lieber vom Ohrenbackensessel aus Fälle nur mit Hilfe der Indizien löst, als vor die Tür zu gehen (was er natürlich schon tut, aber eher gezwungenermaßen. Dies gibt sich im Lauf der Erzählungen).“ – Originalton Ritchie: „You haven’t left these rooms in two weeks. I insist you have to get out.“ – „There is nothing for me out there on earth at all.“ Stimmt für meine Begriffe ganz gut überein. Und vom Sessel aus Fälle lösen? Das klingt eher nach seinem Bruder Mycroft, der über Sherlock sagt: „Sherlock has all the energy of the family“. Überhaupt sind Holmes‘ Anfälle von Aktionismus quer durch die Stories verteilt. Nix gemütlicher Denker.
„Sherlock Holmes von Guy Ritchie ist ein Lover und ein Fighter,…“ Lover? Echt? Alles, was wir zu sehen kriegen, ist komplette Verpeintheit bei der Konfrontation mit dem weiblichen Geschlecht. Ich bekomme da eher ein „huch, eine nackte Frau. Was um Gottes Willen tue ich jetzt?“-Vibe als ein „lasst sie mir!“-Vibe. Und sie schafft es nur, ihn auf den Mund zu küssen, als er schon sediert ist.
Fighter… Originalton ACD: „I get so little active exercise that it is always a treat,“ said he. „You are aware that I have some proficiency in the good old British sport of boxing. Occasionally it is of service. To-day, for example, I should have come to very ignominious grief without it.“ (Solitary Cyclist). Das einzige, was Ritchie anders macht als alle anderen Verfilmungen, ist, dass er uns zeigt, wie Holmes kämpft. (Und zwar nicht so halbherzig wie Jemery Brett, Gott hab ihn selig.) Und dann ist da McMurdo, Holmes‘ Gegner aus dem Boxring im Film, der ein Canon-Charakter aus Sign of Four ist. Wieder Originalton ACD: „Not Mr. Sherlock Holmes!“ roared the prize-fighter. „God’s truth! how could I have mistook you? If instead o‘ standin‘ there so quiet you had just stepped up and given me that cross-hit of yours under the jaw, I’d ha‘ known you without a question. Ah, you’re one that has wasted your gifts, you have! You might have aimed high, if you had joined the fancy.“
Überhaupt ist der Film voll von Anspielungen, Zitaten und wortlosen Hommages, nicht nur an das Canon, sondern an frühere Verfilmungen. Die Anfangs-Credit-Scene, die Kamerafahrt durch die Baker Street, ist 1:1 übernommen von Granada. Die Szene mit den Fliegen ist eine Hommage an Basil Rathbone. Als Clarkie Holmes und Watson zum Friedhof ruft, macht RDJ Jeremy Bretts Mimik so gekonnt nach, dass ich ihn sofort erkannt habe – dieses halbe, süffisante Lächeln, dieser Blick zu Watson, als er sagt, „What’s he done now? Lost his way to Scotland Yard?“ Sogar der Tonfall stimmt (gut, das geht in der deutschen Synchro verloren). Soviel Liebe zum Details, soviel Gedanken nicht nur an das Quellmaterial, sondern an die berühmten Vorgänger, sind selten bei Blockbustern.
Kommen wir zu den coolen Sprüchen. Holmes ist schon bei ACD mit einem sarkastischen, geradezu schneidenden Humor gesegnet, und meistens auf Kosten der Yard-Inspektoren oder Watson. Hier kommt der gute Watson bei Ritchie besser weg als im Original, wo er als Beobachter geradezu im Hintergrund verschwindet, um Holmes mehr erstrahlen zu lassen. Das geht in einem visuellen Medium so natürlich nicht, und so kommen wir zu Schlagabtauschen zwischen den beiden. Damit kann eigentlich niemand ein Problem haben. Eher habe ich ein Problem mit doof-wie-Weißbrot-Watson aus den Rathbone-Filmen. Es wurde mal Zeit, dass Watson als der „adrette Soldat, ein Mann der Tat“ gezeigt wird, der er ist.
Zur Handlung des Films selber: Zugegebenermaßen ist das Steampunk. Ein für die Zeit Science-Fiction-artiger Plot. Aber weder der okkulte Part noch der Technik-Aspekt sind allzuweit vom Quellmateriel entfernt, was jeder weiß, der „The Sussex Vampire“ oder „The Engineer’s Thumb“ gelesen hat.
„Eine komplette Generation von Menschen wird nun heranwachsen mit der Überzeugung, dass Sherlock Holmes ein krasser Fighter war, der heftige Verschwörungen mit coolen Sprüchen in ationlastigen Szenarien auf die letzte Millisekunde aufdeckt und dabei natürlich auch noch die Chicks klarmacht. Wenn auch nur einer dieser Menschen wegen des Films eines der Bücher in die Hand nimmt, wird er, ganz subjektiv, völlig neue Dimensionen der Langeweile für sich entdecken können.“ (Wo, bitte, macht Holmes die Chicks klar? Irene Adler macht ja wohl eher ihn klar, lol.)
Autsch. Ich weiß ja nicht, wie Du die „neuen Dimensionen der Langeweile“ nach eigener Aussage ein Dreivierteljahr ertragen konntest. Vielleicht haben wir ja auch nicht das gleiche gelesen. Ich persönlich konnte seit meinem zwölften Lebensjahr mit Abständen immer wieder spanndende last-minute-Hatzen (die Verfolgungsjagd entland der Themse in Sign of Four beispielsweise) und actionlastige Szenarien (z.B. Hound of the Baskervilles, übrigens auch mit einer netten last-minute-Jagd) genießen, gespickt mit coolen Sprüchen.
Ein wenig Canon-Action: „Peering in, we could see that the only light in the room came from a dull blue flame which flickered from a small brass tripod in the centre. It threw a livid unnatural circle upon the floor, while in the shadows beyond we saw the vague loom of two figures which crouched against the wall. From the open door there reeked a horrible poisonous exhalation which set us gasping and coughing. Holmes rushed to the top of the stairs to draw in the fresh air, and then, dashing into the room, he threw up the window and hurled the brazen tripod out into the garden.
„We can enter in a minute,“ he gasped, darting out again. „Where is a candle? I doubt if we could strike a match in that atmosphere. Hold the light at the door and we shall get them out, Mycroft, now!“
Stelle ich mir verfilmt im Ritchie-Stil sehr dramatisch vor. Von Langeweile keine Spur.
Was mich ein wenig wundert, Julian, ist, dass Du nichts an RDJs Aussehen zu bekritteln hast. Holmes‘ Unrasur ist nämlich das einzige wirkliche Problem, das ich mit der Verfilmung habe. Alles andere geht bei mir – und ich bin, was meine Lieblingsfigur angeht, extrem kritisch – ohne weiteres durch. Ich freue mich im Gegenteil darüber, dass Holmes und Watson endlich mal so dargestellt werden, wie ich sie schon in meiner Jugend verstanden habe – nicht dargestellt von alten Herren, die so aussehen, als ob sie gleich umfallen, wenn sie mal einem Höllenhund hinterherrennen müssen, sondern dynamisch, gewieft, und Scotland Yard immer einen Schritt voraus.
Bravo, Mr. Ritchie.
@ Elena: Exzellenter Kommentar! Ich hatte ebenfalls den Eindruck, dass Ritchie deutlich mehr Holmes zulässt, als viele andere Verfilmungen, und einige das hinter dem Hollywood-Spektakel einfach nicht sehen wollen. Deren Sicht der Figur ist nicht von ACD geprägt, sondern von den zumeist pudrigen Verfilmungen der letzten 80 Jahre.