Lucy möchte gern von Michaela und Gabriela respektiert werden, respektiert und aufgenommen. Die beiden Frauen sind eine Art Motorradgang, und Lucy fühlt sich zu ihnen hingezogen. Mit ihrem Spyder bringt Lucy zwar ein beeindruckendes Gerät mit in den Club, doch die ungeschriebenen, unausgesprochenen Aufnahmegrundsätze der namenlosen Motorradgang sind andere.
Überhaupt ist die Gang irgendwie gar keine, denn die beiden Frauen verhalten sich ganz und gar nicht so, wie man es von einer Gang erwarten würde. Die Gang hat keinen Namen, kein Logo, keine Rituale, offenbar keine weiteren Mitglieder. Seltsam. Was die Gang Lucy jedoch bieten kann, ist das, was sie durch ihre erfolgreiche Aufnahme zu erreichen hat.
Denn um aufgenommen zu werden, muss man eins mit sich selbst sein. Nicht oberflächlich mit ein paar richtigen Antworten oder kernigen Aussagen, sondern ganz tief drinnen. Lucys Problem zum Beispiel: Sie sieht gut aus und vernascht Männer nach Lust und Laune, wobei sie ihnen erzählt, was sie hören möchten. Das macht Lucy eindeutig zu einer reinrassigen Vollblutschlampe, und ganz standesgemäß fühlt sie sich dabei aber als liebes nettes Mädchen, das „nur“ genießt, was das Leben ihr so bietet. Die Schneise der Verwüstung, die ihre flatterhafte Beziehungsethik dabei unter den (doch tatsächlich emotionsbefähigten) Männern hinterlässt, nimmt sie nicht war oder hält sie für normal.
Michaela und Gabriela, als Frauen selbst natürlich immun gegenüber dem eingebauten Balzverhalten der rassigen Lucy, können das Problem auf den ersten Blick erkennen: Lucy ist nicht mit sich im Reinen, weil sie sich selbst in ihrem Dasein als Schlampe nicht akzeptiert hat. Um aufgenommen werden zu können, muss Lucy also erst einmal auf dem Boden der Tatsachen aufschlagen, und zwar hart. Genau das nehmen die beiden nun in Angriff.
Was auf den ersten Blick anmutet wie eine dünne Entschuldigung für eine Handlung, deren einziger Zweck es zu sein scheint, möglichst viel nackte Haut und Sex zu zeigen, entwickelt sich im Laufe des Films zu einem komplexen Reigen. Denn schon bald wird klar, dass es nicht allein darum gehen kann, Lucy durch die verschiedenen Stadien der Schlamperei zu treiben. Und tatsächlich ist die Motorradgang bald völlig egal, denn der Zuschauer wird gefangengenommen von der Frage nach der eigenen Integrität.
Was Lucy auf der Leinwand in Sachen Sex, Liebe und Erotik durchmacht, steht stellvertretend für den Prozess, denn jeder einzelne Mensch auf Erden für sein eigenes Wesen durchleben muss, und das in mehreren Aspekten. Die erschreckende Erkenntnis: Kaum jemand geht diesen Weg je zu Ende, praktisch jeder Mensch steckt irgendwo im ersten Drittel und hat sich mit Hilfe selbstgezimmerter Argumentationen irgendwo absichtlich festgekeilt. Das nennt er dann „Konvention“ oder „Kompromiss“ und denkt nicht weiter darüber nach. Bis so ein Keil sich irgendwann von selbst lockert und die Seele unvermittelt ein gutes Stück weiterrutscht auf diesem Pfad der Erkenntnis. Klassisches Beispiel für so einen Ausbruch sind Familienväter, die mit Mitte vierzig oder fünfzig ihre Homosexualität nicht länger verstecken wollen und mit einem Paukenschlag ein neues Leben anfangen.
Dieser katharsische Ausbruch, den wohl nur wenige Menschen irgendwann in ihrem Leben ohne eigenes Zutun erleben, und der natürlich nicht gezwungenermaßen mit Sexualität zu tun haben muss, hat sein dramaturgisches Pendant im sogenannten „Need and Desire“-Prinzip: Man strebt nach dem einen, braucht aber in Wirklichkeit was ganz anderes, und im Film bekommt man es am Schluss auch publikumswirksam. Im wirklichen Leben sieht das dahingegen meist ein wenig trister aus.
Roland Reber, Autor und Regisseur dieses Films, zeigt, dass man diesen Weg aber auch aus eigenem Antrieb gehen kann. Und dass man, wenn man dieses tiefe Tal freiwillig durchschritten hat, weit höhere Sphären der Glückseligkeit erreichen kann als unfreiwillige, zerstörerische Ausbrüche das je bieten könnten. Was andernorts mit Selbstkasteiung und Meditation zu erreichen versucht wird, schaffen hier Engel auf Motorrädern. Diese Metapher ist eingängig, nachvollziehbar, hübsch anzuschauen und wesentlich attraktiver als Nagelbetten. Nicht umsonst heißt es ja auch „Das Paradies der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde“. Ihre modernen Nachfolger bieten jedenfalls das größtmögliche Gefühl von Freiheit, das sich in dieser Gesellschaft ohne Flugzeug noch erreichen lässt.
Wie immer bei wtp handelt es sich um eine hausgemachte Eigenproduktion, löblicherweise gänzlich ohne Steuermittel (keine Filmförderung!), gedreht in PAL, aber so akribisch, dass es aussieht wie HD. Die Technik ist jedoch wie bei jedem seiner Filme völlig schnurz, denn Reber, ein Mann des Theaters, legt sein Augenmerk viel stärker auf die Inszenierung denn das Abfilmen derselben.
Das erklärt, warum der Film im Vergleich zum restlichen Kinoprogramm etwas karg wirkt: Kaum Fahrten oder Schwenks, keine schicke Schärfeverlagerungen, kein schneller Schnitt und auch nur wenige Establishing Shots. Es ist egal. Die Handlung zählt. Der kulturbeflissene Zuschauer wird den Film sofort als gleichwertig mit gefilmten Theateraufführungen einordnen können, der Mainstreamkunde wird ihn sowieso eher meiden.
Besonders bemerkenswert ist die Musik, die, im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Produktionen, nicht unterschätzt wurde. Man darf zwar keine eingängigen Evergreen-Themen erwarten wie bei Indiana Jones oder dem Weißen Hai, doch fördert (oder konterkariert) die Musik, die sich eben nicht hinter der Handlung versteckt, die verschiedenen Stimmungslagen im Film beträchtlich. Auch sei darauf hingewiesen, dass alle Sexszenen höchst geschmackvoll und mit großer Kunstfertigkeit inszeniert wurden. Wer einen Porno erwartet, wid enttäuscht werden.
Wie immer werden Roland Reber und sein Team, Mira Gittner („Michaela“, aber auch Kamerafrau und Cutterin, im Bild oben), Marina Anna Eich („Gabriela“, aber auch Produzentin, Herstellungsleiterin und Pressetante von wtp, im Bild links) und „die Neue“, Antje Nikola Mönning („Lucy“, und Produzentin, im Bild rechts), mit dem Film auf Tour gehen und ihren Zuschauern Frage und Antwort stehen. Das wird aber noch eine Weile dauern, der Kinostart mit wenigen Kopien ist für März 2010 geplant.
Schade, denn Engel mit schmutzigen Flügeln ist eine schon lang überfällige moralische Lektion; Mores, die wir dringend gelehrt werden sollten. Die Kernaussage des Films wird dem Zuschauer immer wieder nahegebracht, nämlich in Form eines Kinderliedes mit dem Text „Ich kenn‘ alles bis auf Punkt und Strich, nur eines nicht, das bin ich, ich, ich„. Wie wahr, wie erschreckend wahr.
Nachtrag:
Laut einer Pressemeldung von wtp vom 21. Oktober 2009 wird Engel mit schmutzigen Flügeln (offizielle Webseite) auf den 43. Hofer Filmtagen gezeigt. Die Termine:
Fr., 30.10., 0:15 Uhr, Central (Premiere!)
Sa., 31.10., 0:30 Uhr Central
So., 1.11., 19:30 Uhr Cinema.
Titten FTW!
Jaja, Spielkind. Ich hab mich so beherrscht, das Thema souverän und erwachsen zu behandeln, und dann kommst Du Sandburgenzerstörer einfach so daher… 🙂
Wenn wir schon so explizit drauf sind – wird man(n) auch ein paar Muschis zu sehen kommen? Ich habe nur von Penissen gelesen …
Äh… Ich weiß jetzt gar nicht, was ich sagen soll…
Also gut: Ja, es gibt auch das weibliche Geschlecht zu sehen, aber nicht als für die Filmhandlung wesentlichen Bestandteil, sondern eher als angenehme Überraschung. Überhaupt ist es ja sehr umständlich, für die Ansicht eines sonst so konsequent versteckten Stückchen Hauts extra ins Kino zu gehen. Wenn Dich nicht der Film selbst interessiert, können Dir bestimmt einige spezialisierte Webseiten weiterhelfen oder eine Dienstleisterin Deines Vertrauens…