Sturm

Die einführende Szene ist eine Art Homevideo. Glückliche Familie am Strand, Papa, Mama, zwei Kinder. Sie bespritzen sich mit Wasser, sind vergnügt drauf, happy. Der geneigte Zuschauer denkt sich, wenn von einer glücklichen Familie erzählt wird, dann wird auch das Unglück nicht weit sein. Denn eine glückliche Familie trägt keine Kinogeschichte 105 Minuten lang. Schon ist die Familie auf der mondänen Hotel-Bungalow-Terrasse. Papa erhält einen Handyanruf. Seine Gesichtszüge frieren ein. Sofort wird klar, denn er wendet sich verdeckend von der Familie ab, er lebt noch in einer anderen Welt, in einer abgründigen Welt. Da er ausserdem noch gut ausschaut wie Jean Reno, haben die ersten Minuten bereits genügend Interesse für die Figur und deren Schicksal geweckt.

Szenenwechsel. Kerry Fox, lt. IMDb Jahrgang 1966, liegt mit Rolf Lassgard, Jahrgang 1955 und etwas aus der Form geraten, im Bett. Ästhetisch erotisch ist das ein rechter Abstieg zur knackigen Familie von der Eingangsszene. Sollen wir uns jetzt für dieses Liebesleben interessieren? Das wäre eine herbe Enttäuschung. Aber wir sollen, denn die beiden sind auch beruflich verbandelt und bilden das Link zum Thema des Filmes, er ist EU-Politiker, sie Anwältin am ICTY, am Internationalen Jugoslawien-Tribunal in Den Haag.

Mit der Enttäuschung, dass nicht mit der bisher interessantesten Figur weitergemacht wird – dieser Jean-Reno-Typ wird später als Angeklagter im Prozess auf Komparsenformat geschrumpft – stellt sich auch die Enttäuschung ein, dass es wenig Reiz macht, die Geschichte weiter zu rekapitulieren. Kein gutes Zeichen.

Denn der Rest des Filmes bleibt ein bestenfalls solides Gemisch à la Fernsehkrimi-Struktur aus Tribunal, Problemen einer ambitionierten Staatsanwältin mit dem Gericht einerseits und der Wahrheitsfindung andererseits, dazu noch die Affaire mit dem Politiker, dies alles vor dem Hintergrund abscheulicher Verbrechen, sowie Erläuterungen in Spielhandlung zum erwähnten Jugoslawien-Tribunal.

Es scheint, der Eindruck war schon bei Requiem und Lichter da, dass die Methode Schmid die ist, sich eines sozialen Randthemas anzunehmen, Exorzismus in Requiem, Ostgrenzgänger in Lichter oder in Sturm die Brutalitäten im Balkankrieg, um dann einen Spielfilm draus zu machen. Eine Geschichte dazu zu konstruieren. Durch ein Zuviel an guten Absichten geht er dabei womöglich unkalkulierbare Risiken, Drehbuchrisiken, ein, die den Kinogänger dann unbefriedigt oder nur teilbefriedigt zurücklassen.

Was soll die Liebesgeschichte in Den Haag? Sie verwirrt nur. Hat Schmid sich nicht zuviel vorgenommen, einerseits auf die Exzesse im Jugoslawien-Krieg hinzuweisen, und wie sie heute noch versteckt werden, dann den Gerichtshof nicht nur zu erklären zu versuchen, sondern ihn gleichzeitig mit einer oberflächlichen, wenig attraktiven Liebesgeschichte in schwammiges Licht zu hüllen?

Wobei die Süffigkeit der Bereitstellung des Bildmaterials von Hans-Christian Schmid und seinem Kameramann, Bogumil Godfrejów und seinem Schnittmeister Hansjörg Weissbrich inzwischen eine Souveränität erreicht hat, die schon an Glattheit grenzt. Stärkere Bücher sollten da in Zukunft dagegen halten!

Sturm – kein Bild, kein Dialog, keine Szene im Film, die den Titel assoziierbar und haftbar machten – bestärkt den Verdacht, der schon bei Requiem und Lichter keimte, dass Schmid doch eher ein falscher Pfaffe sei, sein Geschäft mehr mit der Moral als mit brilliantem Kino macht, mit den menschlichen Kloaken, auch Aussenseiter sind Menschen, das zeige ich Euch. Aber er fasst sie mit so spitzen Fingern an, dass ja kein Schmutz dran kleben bleibt, dass daraus ein doch eher steriles Sehvergnügen wird.

Andererseits hat aber Schmid mit diesem Prinzip so viele Preise eingeheimst und ist inzwischen selbst ein kleiner Säulenheiliger des deutschen, ja des europäischen Kinos geworden.

Zu empfehlen ist Sturm gewiss Geschichtslehrern, die im Kino eine interessante Ergänzung zum Schulunterricht über die neuere europäsche Geschichte finden können.

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