Tintenherz

Einmal musste es ja so weit kommen: Ich habe einen größeren Film entgegen der zu erwartenden landläufigen Meinung schlecht bewertet, und nun bekomme ich Leserbriefe. Noch ist es zwar erst einer, aber meine Kritik zu Tintenherz ist ja auch noch nicht besonders lange online.

Dies soll keine Rechtfertigung meines Urteils über den Film sein, sondern das offene Gespräch zum Thema „Bewertung von Filmen“ ermöglichen. Für mich ist es am einfachsten, die Problematik in einzelne Themenbereiche herunterzubrechen.

Was ist Filmkritik überhaupt?

Nun, Filmkritik ist – zumindest in meinen Augen und in denen der meisten meiner Kollegen – die fachkompetente Einordnung und Bewertung eines Films in seinem individuellen Umfeld. Dieses Umfeld definiert sich durch Genre, Zielgruppe, Handlung des Films und diverse darin gemachte Aussagen, Bezüge des Films zu anderen Themen (Filmen, Büchern, Menschen, Charakterzüge, Zeitgeschehen usw.) und allen Faktoren, die der Film, seine Entstehungsgeschichte oder sein Marketing (usw.) selbst anspricht und so zum Thema macht.

Filmkritik ist jedoch nicht Meinung! Warum nicht?

  • Wenn ich als erwachsener Mann einen Kinderfilm im Kino sehe, dann lautet meine Meinung: Langweilig, vorhersehbar, unrealistisch, weichgespült (zum Beispiel). Die Fünfjährigen finden’s trotzdem super.
  • Wenn ich als Filmjournalist einen Kinderfilm im Kino sehe, dann lautet mein Urteil: Schön aufgebauter, kindgerechter Konflikt, moralische Lösung, eingängige Musik zum Mit- und Nachsingen, hoher erzieherischer Wert und sympathische Figuren, die eine Identifikation im Alltag ermöglichen. (zum Beispiel)

Der Journalist sollte in der Lage sein, seine persönlichen Vorlieben und Abneigungen aus der Bewertung eines Werkes herauszuhalten. Das ist natürlich nie ganz möglich, aber man kann schon sehr scharf zwischen Meinung und Urteil trennen.

Filmkritik ist der Versuch, ein Werk, das über Geschmack empfunden wird, für das potentielle Publikum zu bewerten, einzuschätzen, vorab zu begutachten. Dies ist keinesfalls wie eine ärztliche Diagnose (die ja nachprüfbar und messbar ist), sondern eher wie die Empfehlung eines Mechanikers. Der eine sagt, dass man mit den Reifen noch 10.000 km fahren kann, der andere empfiehlt, sie lieber gleich zu wechseln. Was ist nun richtig? Eben.

Wieso hat Tintenherz nur 30% bekommen, Eragon aber 38%?

Zunächst muss einmal vorausgeschickt werden: Über Geschmack läßt sich nicht streiten.

Natürlich widerspricht mein Credo der neutralen Einschätzung eines Filmes in seinem Umfeld diametral der Implikation, dass eine Bewertung ein Geschmacksurteil darstellt. Doch das ist auch erklärbar:

Zum einen lassen sich Filme sicherlich nicht auf einer eindimensionalen Skala durch einen Wert bemessen. Das können Popcornkörner sein, Sterne, Filmrollen oder eben auch Prozent, völlig egal. Die Qualität eines Films lässt sich nicht – niemals – durch eine Zahl repräsentieren. So eine Zahl kann nur eine Nadelöhr sein, durch das man einen gemeinsamen Nenner mit dem Leser, dem Angesprochenen sucht. Wenn man als Aussage losschickt „30 von 100“, dann kann der andere relativ fehlerfrei rückübersetzen, dass mir der Film nicht so besonders gefallen hat. Sendet man jedoch in Worten „nicht so besonders“, dann kann das für den Empfänger ungefähr alles zwischen 0%-50% bedeuten.

Aber in Zahlen allein kann man Filme nicht bewerten. Will man sich wirklich dem Dilemma stellen, erklären zu müssen, wieso z.B. Der Pate genausoviel Punkte bekommen hat wie Im Land der Raketenwürmer? Die Filme sind nicht zu vergleichen. Aber sie sind beide großartig, für sich in ihrem Genre.

Dass ein anderer Film eines ähnlichen Genres, in diesem Beispiel Eragon, acht Prozent mehr bekommen hat als Tintenherz, ist völlig egal. Denn zum einen hat diesen Artikel ein anderer Autor geschrieben, und zum anderen ist die Bewertung zu einem völlig anderen Zeitpunkt geschehen. In der damaligen Filmlandschaft hat Eragon sicher anders dagestanden als Tintenherz zu seinem Starttermin: Der Film konkurrierte damals, am 14.12.2006, unter anderem mit Apocalypto, Liebe braucht keine Ferien und Oh je, du Fröhliche. Aus den früheren Wochen noch im Kino liefen unter anderem Departed – Unter Feinden, Die Super-Ex und Scoop – Der Knüller. Dieses Jahr wird Tintenherz antreten unter anderem antreten gegen: Der Tag, an dem die Erde stillstand, Transsiberian, Vicky Christina Barcelona, Quarantäne, Mein Schatz, unsere Familie und ich sowie Madagascar 2. Es ist sicher verständlich, wenn zwei unterschiedliche Filmjournalisten auf einer nicht genau definierten Skala unter völlig unterschiedlichen Umständen nicht synchron geeicht messen können wie zum Beispiel zwei Thermometer. Filmjournalismus ist definitv keine exakte Wissenschaft.

Wieso wurde der Film überhaupt schlecht bewertet? Es ist doch alles auch im Buch so!

Wie sehr sich Film und Buch ähneln, ist erstmal unwichtig. Zum einen muss ein Film grundsätzlich immer für sich alleine stehen können, egal, wie bekannt das Buch ist. Ein gutes Beispiel: Der Herr der Ringe. Ein Jahrhundertbuch, aber man muss es nicht gelesen haben, um den Film zu verstehen. Hat man es gelesen, fällt einem auf, dass ganze Handlungsstränge im Film fehlen. Dennoch ist der Film eine großartige Leinwandadaption des Buches und verdient all seinen Ruhm.

Leider ist es heute üblich, große Romane schnell-schnell in peppige Kinofilme zu übersetzen. Dabei geht leider meistens der komplette Unterbau der Romane verloren, insbesondere wenn man bereits dreht, ohne zu wissen, wie eine Buchserie ausgeht (siehe Harry Potter, wo in frühen Filmen Figuren ausgelassen wurden, die in späteren Büchern wichtig werden würden). Das mag zwar bei den Zuschauern gutgehen, die nur unterhalten werden wollen, aber bei denen, die den Film am liebsten aufsaugen würden (bzw. das Buch fressen), fällt so ein hastiger Job schon auf, und das meist negativ.

Es geht im Film nicht darum, möglichst viel aus dem Buch zu übernehmen, oder möglichst exakt wiederzugeben. Der Film ist ein völlig anderes Medium als das Buch. Beim Buch muss man mitdenken, und der Autor führt einen Buchstabe für Buchstabe an allem vorbei, was ihm wichtig ist. Es gibt kein Entkommen, kein Überspringen.

Im Kino kann man jedoch auf der Leinwand hinschauen, wo man will oder auch schlafen, der Film „passiert“ auch ohne Zutun des Zuschauers. Die Erzählform im Kino ist eine grundlegend andere als im Buch, egal, welches Beispiel man jetzt nehmen möchte.

Daher ist es eine große Kunst, Bücher in Filme zu übersetzen, zu transportieren. (Von Filmen, die zu Büchern werden, mal ganz abgesehen.) Man kann nicht einfach dieselben Gegenstände in dieselbe Landschaft klatschen und dann denken, man habe doch alles richtig gemacht. Man muss die Figuren und alles andere in ihrer Essenz erfassen und dann den Schauspieler / Ort / Gegenstand suchen, der diese Essenz am besten vermitteln kann. Es ist im Grunde wie bei einer ordentlichen Google-Suche: Man darf der Suchmaschine nicht eine Frage stellen, sondern muss Teile der Anwort suchen. Man darf nicht wortwörtlich dem Buch nacheifern, sondern muss dieselbe Emotion mit anderen Mitteln in einem anderen Medium erzeugen.

Ein gutes Beispiel für diesen Unterschied ist mein persönliches Erlebenis rund um die Verfilmung der unendlichen Geschichte:

Ich war damals elf Jahre alt, und hatte das Buch nicht gelesen. Meine Eltern nahmen mich mit ins Kino, und ich war begeistert: Fuchur, der fliegende Drache! Atréju und Artax! Die alte Morla! Die Musik! Die kindische kindliche Kaiserin! Der Elfenbeinturm! Der Steinbeißer, die Rennschnecke, wau, der Wahnsinn, war das ein geiler Film! Und wie das Nichts dann alles wegzureißen drohte, unglaublich toll war das!

Doch meine Eltern fanden den Film kacke, das Buch sei ja so viel besser. Wieso, fragte ich, ich wüßte nicht, was da noch besser sein könnte, und weigerte mich, das Buch zu lesen. Ein großer Fehler. Denn als ich das Buch dann doch las, ungefähr drei Jahre später, ist mir aufgefallen, wie armselig die Verfilmung tatsächlich war. Ich konnte das damals zwar nicht in Worte fassen, aber mir war klar, was meine Eltern gemeint hatten. Die Reise, die ich im Kopf unternommen habe, während ich das Buch gelesen habe, war eine völlig andere, als die zwei Stunden Kino gewesen waren. Und sie war viel, viel, viel schöner als der Film. Der wirkte jetzt plump und fahl gegen die majestätischen Figuren und Bilder, die ich nun vom Buch Kopf hatte.

Es war gut, das Buch mit viel Abstand zu lesen, denn so hatte ich viel vom Film wieder vergessen und konnte mir die Gesichter und Figuren selber vorstellen, anstatt an irgendwelche Schauspieler zu denken.

Was ich sagen will: Es geht nicht darum, das Buch so einzudampfen, dass es auf die Leinwand passt. Wenn man sowas macht, dann kommt nur eine Ansammlung von best-of-Szenen heraus. Es ist im Grunde dasselbe wie eine automatische Babelfisch-Übersetzung: Wort für Wort ist die Übersetzung absolut richtig und ohne Fehler, keine Frage. Doch der Sinn des übersetzten Textes hat mit dem, den man hineingegeben hat, praktisch nichts mehr zu tun.

Und genau das ist das Problem von Tintenherz: Wenn ich schon sehe, dass die Geschichte und ihre Leinwandmagie nicht funktioniert, obwohl ich das Buch nicht gelesen habe, dann muss der Film im Verhältnis zum Buch ja geradezu schrecklich sein.

Dafür, dass die Magie nicht funktioniert, kann es zwei Gründe geben: Entweder wurde das Buch nicht anständig transportiert, oder der Film wurde nicht anständig inszeniert. Eine dritte Möglichkeit wäre, dass das Buch selbst schlecht ist, aber das glaube ich nicht, denn sonst wäre nie so ein großer Film daraus gemacht worden. Also habe ich entschieden, dass der Film für mich absolut nicht rund läuft. Sonst hätte er mich, gerade als weniger kritischen Nicht-Kenner des Buches, ja leicht packen können. Offen dafür war ich ja.

Ich fand den Film aber voll super, wie kann das sein?

Jeder kann den Film natürlich finden, wie er will, und es freut mich, wenn andere Zuschauer ihn gut finden. Das bedeutet, dass sie einen schönen Kinoabend hatten und sich auf den nächsten Teil freuen werden. Daraus will ich niemandem einen Strick drehen.

Ich für meinen Teil fand den Film jedoch überhaupt nicht super und konnte es mit meinem Gewissen und meinem journalistischen Auftrag nicht in Einklang bringen, ihm eine Bewertung zu geben, die er nicht verdient.

Wenn ich das Buch einmal gelesen haben sollte (was ich werde) und dadurch zu einem anderen Urteil über den Film komme (was ich nicht glaube), werde ich mich hier dazu äußern.

Nun bin ich gespannt, ob es hier Diskssionen gibt oder nicht…

6 Gedanken zu „Tintenherz“

  1. „Diskssionen“ ist ja irgendwie ein putziger Vertipper — drei Chinesen mit dem,,,aber egal… 🙂

    Grundsätzlich stimme ich dir zu, von daher kann ich nicht viel zur Diskussion beitragen…andererseits frage ich mich dann doch immer wieder mal, ob und warum wir Filmkritiker (oder Buch-, Theater- oder sonstige Kulturkritiker) brauchen…? Ich jedenfalls halte mich für mündig genug, mir eine eigene Meinung zu bilden und tue das auch, ungeachtet der Meinung oder eben Krritik anderer…

    Das soll nicht heißen, dass ich andere Meinungen nicht toleriere, schätze oder auch zu würdigen weiß — aber auch das ist jedesmal nur die Meinung eines anderen subjektiven Individuums, egal wie „vorgebildet“ die Person zu einem bestimmten Thema auch sein mag…! Und egal, wie sehr man als Profi auch versucht, objektiv zu sein — es liegt nunmal in der menschlichen Natur, viel mehr als nur reine Daten und Fakten in einen solchen Bericht einfließen zu lassen…erst recht, wenn es sich Medien handelt, die einen eben auch (oft ja auch unbewusst) emotional beeinflussen…

    Dann wiederum kommt es eben auch darauf an, mit welchen Erwartungen und Vorstellungen man in einen Film geht: Während viele um mich herum Steve Martins Version des rosaroten Panthers verdammten, fand ich den Film sehr unterhaltsam und habe mich dabei köstlich amüsiert…! Und dabei liebe ich die Sellers-Verfilmungen, habe sie alle etliche Male gesehen und halte sie für geniale Komödien…! Aber ich habe letztendlich gar nicht erst versucht, die Filme oder Darsteller miteinander zu vergleichen, sondern mich einfach auf eine nette Komödie mit einem extrem talentierten Komiker eingelassen…

    Das Du das — wie viele andere — anders siehst, ist absolut okay und obwohl wir in vielen Dingen sehr unterschiedlicher Meinung sind, schätze und respektiere ich deine Ansichten trotzdem…aber wenn du diese eben professionell publik machst, wird es immer jemanden geben, der damit nicht einverstanden ist und dies auch entsprechend kund tut…! Einer Rechtfertigung deinerseits (und so kam der Beitrag hier ein wenig rüber) bedarf es dabei aber absolut nicht…

    Im Grunde könnte man das jetzt hier ins Endlose ziehen, aber meine Atemwege sind dicht, mein Hals kratzt, meine Ohren schmerzen und das Fieber macht’s auch nicht besser — also lese ich gar nicht erst, was ich hier geschrieben habe, sondern lege mich nochmal ein wenig hin und schaue dann morgen im hoffentlich gesundeten Zustand wieder rein…

  2. „Zunächst muss einmal vorausgeschickt werden: Über Geschmack läßt sich nicht streiten.“

    Falsch…

  3. „Eine dritte Möglichkeit wäre, dass das Buch selbst schlecht ist, aber das glaube ich nicht, denn sonst wäre nie so ein großer Film daraus gemacht worden.“

    *LOL!!!*

  4. „Das Du das — wie viele andere — anders siehst, ist absolut okay und obwohl wir in vielen Dingen sehr unterschiedlicher Meinung sind, schätze und respektiere ich deine Ansichten trotzdem…aber wenn du diese eben professionell publik machst, wird es immer jemanden geben, der damit nicht einverstanden ist und dies auch entsprechend kund tut…! Einer Rechtfertigung deinerseits (und so kam der Beitrag hier ein wenig rüber) bedarf es dabei aber absolut nicht…“

    Jep. Das hätte auch viel knapper gehen können…

    „Ich fand den Film aber voll super, wie kann das sein? – Weil du ein Idiot bist.“

    So hätte ich es gemacht… interessant wäre hier noch der besagte Leserbrief gewesen. Kann man den nicht mit in den Artikel nehmen?

  5. Es sollte wirklich keine Rechtfertigung werden, sondern eine Erklärung darüber, wieso Filmkritik keine Geschmacksfrage ist. Aber scheinbar kommt das nicht so rüber… Hast schon recht, Torsten, mache ich normalerweise auch nicht. Aber mir taten die gebrochenen Herzen so leid… 🙂

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