Roland Reber ist ein Filmemacher, der sich nicht schert um Konventionen, Regeln und Grundsätze. Er läßt seine Filme ja nicht einmal fördern. Stattdessen dreht er, was er will und wie er es will. Und es hat schon wieder funktioniert. Ein Dogma ohne Tamtam?
Als dieser Blog noch jung (jünger) war und ich grün (grüner) hinter den Ohren, da habe ich berichtet, daß WTP diesen Film nun abgedreht habe, und was ich mir vom neuesten Film erwarte, nein, erhoffe. Verspreche. Mir vorstelle, daß kommen könnte.
Vor knapp zwei Wochen hat man mir die Presse-DVD zugeschickt, und ich habe sie liegenlassen. Weil ich tierisch viel um die Ohren hatte, beruflich wie privat. Das wird man mir kaum glauben, denn wo Zeit ist, nach Hamburg zu fahren, Jesse James in Überlänge zu gucken und dann auch noch fett drüber zu bloggen, da sollten doch irgendwo die Stunde, neununddreißig Minuten und dreiunddreißig Sekunden drin sein, die Roland Reber und sein Team mir so freundlich geschickt haben. Ich schäme mich.
Nun habe ich mir die Zeit genommen und den Film angesehen: Ich bin… ich bin unsicher, was ich sagen soll.
Laßt es mich chronologisch versuchen:
Vom ersten Eindruck her kommen mir die vergangenen zwei Stunden vor wie ein anstrengendes Theaterstück. Ich trete nach der Vorstellung in die kalte Nacht hinaus (mit meinem langen Mantel, den ich schon so lang nicht mehr anhatte), gelenkt von der vagen Vorstellung, mir auf dem Weg zur S-Bahn noch einen Cheeseburger zu holen. Doch während meine Schritte mich in Richtung Tal zu den goldenen Bögen leiten, vergesse ich schon bald den Cheeseburger: Mein Gehirn ist doch noch mit dem Theaterstück beschäftigt. Eine prägende Szene nach der anderen schießt vor mein inneres Auge, das Echo längst vergessen geglaubter Dialoge (oder eher Monologe) wird wieder lauter, ich fühle mich wie ein Bergsteiger in einer Wand: Ich weiß, wo ich bin, was ich tue und wo ich hinwill, aber ich finde keinen Halt. Mir fehlt die kleine Ritze, in die ich meine Finger krallen, der kleine Absatz, auf den ich meinen Fuß setzen, der kleine Spalt, in den ich meinen Anker treiben kann.
Dabei ist es ja nicht so, daß ich den Film nicht verstehe: Ein Mann verläßt sein bisheriges Leben, getrieben von den übergroß sprießenden Banalitäten und Normproblemen seiner Familie und Freunde, deren Sinnentleertheit niemand außer ihm zu erkennen scheint. Er trifft einen Mentor in Form einer Frau (?), die im Müll und Abwasser einer Stadt nach bewußt Vergessenem wühlt, also nach dem, mit dem sich andere Menschen („Normale“ nennen ausgerechnet die sich meist) nicht mehr auseinandersetzen wollen, es verdrängen, ignorieren, sich seiner entledigen, es runterspülen, also im wahrsten Sinne des Wortes drauf scheißen. Diese Frau, die sich Godot nennt („Das Warten hat ein Ende“ bemerkt sie lapidar) führt den Mann, der zunächst etwas desorientiert mit der Erkenntnis „Ich bin weggegangen“ ringt, was er selbst und die wenigen Menschen, die er Anfangs trifft, nicht zu verstehen scheint, zuerst in ihren Wohnwagen, dann zu sich (nicht sexuell, nur geistig) und schließlich zu sich selbst.
Bei unserem letzten persönlichen Treffen erklärte mir Roland Reber, daß er eine Phantasmagorie erzählen möchte (oder wollte er eine machen? Das wäre jetzt gut zu wissen, da besteht ja ein ziemlicher Unterschied), jedenfalls einen Film mit lauter Ausschnitten und Rückblenden, die die Erinnerungen der Hauptperson darstellen sollen in ihrer ganzen subjektiven Verdrehtheit und die weit weg sind von dem, was gemeinhin als Wahrheit angesehen wird. Und daß ich gespannt sein solle, es werde ganz verrückt und intensiv.
Nun, dieser Mann sitzt mit Godot vor einem Haufen alter Fernseher und bekommt auf diesem Trip, anders kann man es nicht ausdrücken, sein eigenes Leben vorgeführt. Ein sympathischer, aber doch irgendwie schmieriger Spielshow-Moderator (sorry, Antonio, Du spielst das einfach zu gut) führt durch die Show, deren Soundtrack wie die der tatsächlichen TV-Ergüsse billig und eingängig (sagen wir „volksnah“) und ein ziemlicher Ohrwurm ist. In der Show treten verschiedene Figuren aus der Vergangenheit des Mannes auf: Vater, Mutter, Opa, Frau, Geliebte und so weiter, alle völlig überzeichnet, fast wie im Schultheater, wenn die hormongeplgten Teenager im Spezi-Rausch hysterisch werden, Insidergags nur noch von besten Freunden verstanden werden können und selbst erfahrene Lehrer zum Pädagogik-Notfallkit greifen, hier aber eben doch mit Sinn und Verstand. Diese Figuren werfen mit ihren markigsten, für den Mann (oder noch Jungen) in seinem Leben prägendsten Sprüchen um sich und halten ihm so eine Art inneren Spiegel vor: So begründet Dein Gehirn das, was Du geworden bist. „Sorry, ich bin ja nur zum Merken da,“ scheint es auszusagen, „die Probleme mußt Du schon selber lösen“.
Manche Erinnerungen werden jedoch nicht dem Mann vorgeführt, sondern dem Publikum: Wahre „Zerrbilder“ (sehr gut visualisiert, finde ich) der Erinnerungen springen förmlich von der Leinwand, lassen den Zuschauer teilhaben an der verqueren Denke des Erinnerungsvermögens, das der oder den Mann vernachlässigt hat (weiß man’s?) oder das sich nur noch nicht ordentlich konfiguriert hat (wurde?) in dessen Bewußtsein. Die Thematik der subjektiven Wahrheit ist ja schon lang Urquell der Inspiration für Schriftsteller, Dramaturgen, Kabarettisten und eigentlich jeden.
Schließlich macht der Mann eine Veränderung durch, eine Art Serie von Aha-Erlebnissen. Er setzt sich zum Beispiel mit der Beerdigung seines Vater (ein ohnehin schwieriges Verhältnis) auseinander, die er verpaßt hat, weil er nicht konnte und nicht wollte, mit seinem sexuellen Erwachen und der Versuchung durch eine andere Frau, der er erlegen ist, wie könnte er als normaler Mann auch anders. „Ich will einsam sein, damit mich niemand mehr verlassen kann“ sagt er, was seine Einsicht auslösen wird und der Wendepunkt seiner Reise sein dürfte.
Er fragt Godot endlich direkt um Rat, kriegt eine Abreibung, die sich jeder hinter die Ohren schreiben sollte, und erkennt den für sich gültigen Sinn hinter der Frage, die anderswo schon mit „42“ beantwortet wurde. Es folgt ein Epilog der enttäuschten Erinnerungen, die nicht vergessen werden wollen und ihren eigene Sinnfrage individuell zu beantworten versuchen, ein fulminanter Gastauftritt des Gewinners einer Nebenrolle, die auf dem 24/7-Jubiläum unter den Besuchern verlost wurde und der Glitter-und-Glamour-Industrie einen Seitenhieb verpaßt, dann führt die Erzählung zurück in die primitive Spielshow, aus der es ja doch kein Entrinnen gibt. Wenigstens ein paar süße Früchte gibt es dort zu sehen. Godot verschwindet, der Mann geht heim. Keine Floskeln. Nur eine, und die ist tiefgründig: Mach’s gut.
Nur… Was will Roland Reber mir damit sagen? Bleibe Dir treu? Verleugne Dich nicht? Du bist immer alleine? Mach es gut, egal, was Du machst?
Ich denke, der Trick liegt darin, diese Frage gar nicht erst zu stellen und eben keine Antwort zu suchen. Denn das Leben ist wie ein schöner Urlaub: Der Weg ist das Ziel.
Genau so interpretiere ich das Ganze. Ich versuche, meine Fehler und Verfehlungen würdevoll und ohne böses Blut hinter mir zu lassen, ich versuche, niemandem zur Last zu fallen (derzeit klappt das noch nicht so recht), ich will „es“, was immer es auch sein mag, gut machen. Das steht leider zum Gedanken der Gewinnmaximierung, der heutzutage ja in jedermanns Gemüt fest verdrahtet scheint, im Gegensatz. Könnte also spannend werden. Aber wer hat gesagt, daß das Leben nicht spannend sein soll?
Mein Traum oder die Einsamkeit ist nie allein ist ein Film von Roland Reber.
Mann: Wolfgang Seidenberg
Godot: Mira Gittner
Frau / Rotkäppchen: Marina Anna Eich
Talkmaster / Penner: Antonio Exacoustos
Großvater / Hänsel: Wolfram Kunkel
Mutter: Barbara Schmidt
Geliebte / Gretel: Sabrina Brencher
Freund / Wolf: Andreas Heinzel
Hitler (fragt nicht) / Rumpelstil(z)chen / Flieger / Taxifahrer: Sven Thienemann
Vater: Torsten Münchow
… und weitere
Ein paar persönliche Anmerkungen: Im Vergleich zu 24/7 ist mir außerdem aufgefallen, daß sich das Schauspiel des gesamten Cast stark verbessert hat. Nicht, daß es zuvor schlecht gewesen wäre, es hatte nur laienhafte Züge. An diesen ist offenbar unter der Leitung der professionellen Castmitglieder gearbeitet worden. Nur am Gesang, da sollte noch etwas länger gefeilt werden… Das Spiel mit der Beleuchtung in manchen Szenen, die stark an Theaterdramaturgie angelehnt ist, hat mir sehr gefallen. Die Computergrafik samt Flugillusion ist, naja, sagen wir „etwas retro“. Genügt dem dramaturgischen Zweck vollkommen, wäre aufwendiger aber überzeugender und auch weniger „auffällig“ gewesen. Schöne Dialoge, die die Aussage (Teilaussagen) auf den Punkt bringen, zu schade, um sie hier wiederzugeben und so andere Zuschauer zu spoilern. Das Wohnmobil ist ein sehr interessantes Ding, sieht echt gut und bequem aus, heimelig geradezu. Stilvoll, wie ein altes Pub. Ein schöner Film, der nach einem langen Cafébesuch schreit. Ich möchte ihn nämlich erklärt bekommen bzw. erfahren, wie weit meine Interpretation von dem, was Ihr vermitteln wolltet, entfernt liegt. Und ich bin gespannt, wie das Publikum reagieren wird, echt!
PS: Ich würde gern ein, zwei oder drei Stills aus dem Film hier einbauen, könnte ich welche bekommen? Wär leiwand!
Nachtrag vom 19.10.2007: WTP Film hat diese (offenbar erste) Kritik (eigentlich ist es ja gar keine klassische Review) zum Anlaß genommen, sie komplett als PM herumzuschicken. Diese Aufmerksamkeit hat mich doch etwas erschreckt, nun aber freut es mich. Natürlich wurde ich vorher gefragt, ob der Text benutzt werden könne – aber ich hatte nur angenommen, daß ein Halbsatz zitiert würde. Ich fühle mich geehrt! Hier die Pressemeldung, wie sie vor wenigen Minuten herumging.
2 Gedanken zu „Mein Traum oder Die Einsamkeit ist nie allein – Versuch einer Interpretation“