Lebenslinien: Alexander Herrmann – Der Spitzenkoch aus Franken (BR, Montag, 28. April 2025, 22.00 Uhr)

Zähe Sauce

Für diese miefigen, als reine Produktwerbung missbrauchten, Lebenslinien hat die zuständige Redakteurin womöglich ein Essen in dem beworbenen Gasthof bekommen, oder etwa nicht? Oder nur das Team?

Kathrin Schneider präsentiert zwar gediegen, für ein Zweisterne-Restaurant jedoch extrem fad und abgestanden (wir reden hier von der Zubereitung des Fernsehmenüs und nicht darüber, wie die Küche des Protagonisten schmeckt, das zu beurteilen steht uns nicht zu, da wir sie nicht kennen) einen Promi und BR-Fernsehkoch, von dem stefe noch nie was gehört hat; aber ein Promi muss er sein, behauptet zumindest die Sendung, und belegt das mit Selfie-Wünschen von Gästen.

Es ist also wieder diese schleimige Art von BR-Eigen- und Promiwerbung, wobei der Promi explizit sagt, er brauche für sein Geschäft die Fernsehauftritte. Da hätte die Redakteurin Rachel Roudyani doch bittschön hellhörig werden sollen und für den BR die Hand aufhalten. Es scheint wirklich so, dass der BR noch im abgestandenem Sud seliger GEZ-Zeiten köchelt und immer noch nicht kapiert hat, was die Stunde schlägt, wenn in Berlin im neuen deutschen Bundestag bereits fast ein Viertel der Sitze von einer Partei belegt wird, die im Programm hat, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk abzuschaffen (inzwischen ist sie bei Umfragen sogar die stärkste Partei!). Nein, beim BR ist das noch nicht angekommen. Da wird fröhlich weiter getan, als ob es eine Welt außerhalb nicht gäbe. Da wird Produktwerbung gemacht, Eigenwerbung und noch dazu mit einem Produkt, das zwar fein sein mag, das sich aber ein beachtlicher Teil der Zwangsgebührenzahler nie und nimmer im Leben wird leisten können. So treibt man die gesellschaftliche Spaltung voran, statt vermittelnd zu wirken, statt Kitt in dem Gesamtgefüge zu sein.

Es kann nicht Aufgabe eines zu Lasten einkommensschwacher Haushalte sozial unfair finanzierten öffentlich-rechtlichen Rundfunks sein, Werbung für Spitzenköche zu machen. Nichts anderes aber ist diese Sendung. Damit kann der BR vielleicht den trägen Teil seiner Zuseherschaft gerade noch vom Wegzappen abhalten, verloren gegangenes Terrain gewinnt er damit garantiert nicht zurück.

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Bayern erleben: Das Frankenderby – Zwei Vereine, eine Leidenschaft (BR, Montag, 28. April 2025, 21.00 Uhr)

Außen vor

Wer keinen Bezug zu Nürnberg und Fürth und zu den beiden Fußballvereinen hat, der bleibt bei diesem Kuddelmuddel aus Meinungsdrescherei, Statements, Quark von Berufsunterhaltern, Studiotalk, Impressionen von Spielen und dem Drumherum sowie, die sind mal wieder das Fesselndste, historischen Fußballaufnahmen, außen vor.

Die Autoren Maximilian Albrecht und Benjamin Bauman redaktionell betreut von Kerstin Dornbach, finden keinen Zugang zu ihrem Topos, der irgend was Allgemeingültiges hätte, irgendwas, das über den Regionalaspekt hinaus von Interesse wäre. Sie versumpfen im Lokalkolorit.

Fränkisches Blabla, bei dem vermutlich nicht mal Untertitel hilfreich gewesen wären.

Lediglich zwei Erzählstränge mögen das Interesse des Außenstehenden wecken: Vom Nachwuchsschiedsrichter würde man gerne mehr hören, wie so ein junger Mensch mit dieser Herausforderung umgeht. Der sagt ja auch inhaltlich was dazu. Und der Ansatz an Reportage über den Fanclub Kiltrunners könnte über die Region hinaus interessieren.

Insgesamt eine Billigsendung. Archivmaterial dürfte nichts oder kaum was kosten. Impressionen um und von Spielen sind billig zu haben wie auch Studioszenen, an deren Projektionswänden ständig die U-Bahn ein- und ausfährt.

Dass es offenbar eine Billigsendung sein muss, erklärt nicht, warum nicht zu diesem Material ein spannender Zugang gesucht wurde, der auch den gemeinen Zwangsgebührenzahler interessieren könnte, der keinen Bezug zum Fußball, gar zu den speziellen zwei Vereinen hat. Man hätte ja ein paar Hinweise auf die Beziehung der beiden Städte und wie die sich auf das Fantum der Clubs auswirkt, geben können oder dem Fantum gründlicher auf den Zahn fühlen. Hier ist Billiges billig gemacht.

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Tatort: Zugzwang (ARD, Sonntag, 27. April 2025, 20.15 Uhr)

Dilettanten

Der Tatort scheint unter Minderwertigkeitskomplexen zu leiden. Er scheint sich selbst und seiner ursprünglichen DNA, akutelle soziale Probleme aus dem Bereich der Zwangsgebührenzahler, spannend in Krimiform zu erzählen, untreu geworden zu sein. Er will mehr. Der Schuster hat seine Leisten satt und will aufs große Parkett, auf das Weltparkett. Das kann nur schief gehen. Der überambitionierte Tatort fällt auf zu glatt poliertem Boden voll auf die Nase. Er wirkt nur noch dilettantisch. Bauerntheater, was Eiskunstlauf zeigen will.

Dieser Tatort von Nina Vukovic nach dem Drehbuch von Robert Löhr unter der redaktionellen Verantwortung von Cornelius Conrad wagt sich ins Weltmilieu des internationalen Schachzirkus. Er sieht sich als internationaler Thriller, streckt sich darnach, verliert dabei das Gleichgewicht und kommt zu Fall. So wirkt auch die Schauspieler-Auswahl nicht überzeugend.

Es gibt keinen Grund, sich für den Fall, der entferntest möglich von der Lebenswelt des durchschnittlichen Bundesbürgers angesiedelt ist, zu interessieren. Er wird aber auch nicht, was der Reiz eines Thrillers sein kann, in einem Sehnsuchts- oder Traummilieu angesiedelt.

Besonders dilettantisch wirkt die Darstellung der Polizeiarbeit, gänzlich ohne seriöse Ermittlungsvorgänge. Unter radikalem Verzicht auf all jene, die die konkrete, minutiöse Sammler- und Fieselarbeit machen. So kommt der Plot als holterdiepolter Krimi daher. Der Polizeiarbeit fehlt das Skelett, sie ist somit schwammig. So sieht es aus, als ob ein paar Laien mal eben in einem eleganten Hotel Kriminalpolizei spielen wollen – sie wirken deplaziert; dieser Eindruck wird noch verstärkt dadurch, dass der Pathologe plötzlich selbst ermittelt. Überhaupt ist die Erfindung, dass er ein Schachfan sei und deshalb an diesem Kandidatenauswahlturnier vor Ort ist, an den Haaren herbeigezogen, erst recht für Leute, die ihn schon früher als Pathologe gesehen haben, da gibt es nie einen Hinweis auf dessen Schach-Affinität – könnte ja ein spannender Charakterzug für einen Pathologen sein; ist so aber nie eingesetzt worden. Die Figur ist nicht gründlich durchdacht.

Die Inszenierung wirkt uninspieriert und steif, viel Stehpartie, zu viele Erklärungen, kaum Handlung, und auch das Schachspiel könnte man spannender präsentieren, viel Auf-den-Einsatz-mit-dem-Text-Warten, schauspielerische Ratlosigkeit, die der Regie – und auch der Redaktion – offenbar nicht aufgefallen ist.

Der Tatort möchte größer werden, größer sein als er kann und schrumpft dabei auf Provinzformat. Er entbehrt der Street-Credibility.

Der Plot wirkt erfunden wie mit Schielauge auf internationale Thriller und mit zu wenig Ahnung davon, wie solche funktionieren. Vielleicht sollte die Idee, Frauen in der Männerdomäne Schach zu zeigen, der exklusive Selling-Point sein; ist aber nur ein Knallfrosch, mehr nicht; wenn das denn wenigstens plausibel transportiert würde.

Das wäre wohl alles noch hinnehmbar, ein Flop kann immer mal passieren, wenn es nicht so ernst um den Weiterbestand des öffentlich-rechtlichen Rundfunkes bestellt wäre: inzwischen gibt es Umfragen, die die AfD als stärkste Partei in Deutschland sehen. Diese will den öffentlich-rechtliche Rundfunk radikal abschaffen. Insofern ist es schwer verständlich warum der BR noch solch gedankenlose Tatorte raushaut. So wird man auch dem in ehren ergrauten Kommissars-Duo wenig hinterhertrauern.

BMW bekommt einen Solo-Glanzauftritt auf einer Flugzeugpiste; die darbende Autoindustrie verdient unterstützt zu werden.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Kommentar zu den Reviews vom 24. April 2025

Tritt ein verehrtes Publikum, ins Kino! Es wartet heute mit einem Bündel an Sensationen, Raritäten, Ungewohntem, Überraschendem, Seltsamem, Exklusivem, Abstrusem, Abnormem, Tabuisiertem, Verrücktem, Fantastischem, Abgefucktem auf, was Sie so lange nicht gesehen haben und so schnell auch nicht wieder vergessen werden. Vertrackte und schwierige zwischenmenschliche Geschichten allerorten. In Belgien treibt das Thema des Nicht-sprechen-Könnens einen Filmemacher um. In Schweden sind rätselhafte Fluchtfolgen und deren Behandlung ein Thema. Litauen wirft einen Blick ins Gegenteil einer bürgerlich wohlorganisierten Gesellschaftsschicht. Ein Schwede gar will der Unabänderlichkeit der Zeit ins Handwerk pfuschen. In Argentinien konzentriert man sich auf Machbares, auf den Kunstgriff mit einem Tier. Ein Australier fertigt ein bitter-ironisches Porträt von sich als einem alten Mann an. Extrem diffizil wird es in Deutschland, wo es um gerichtstaugliche Aussagen von nur bedingt bis nicht Aussagefähigen geht. Ein amerikanischer Schauspieler produziert einen Film mit einer Hauptrolle für sich, verstrickt sich dabei in einen wirren Plot-Labyrinth. Außerdem meldet sich eine internationale Tanz-Performance. Auf DVD gibt es eine köstlich Pressegeschichte aus dem Hohen Norden und einen herzbewegenden Road-Trip von zwei Damen von Wien nach Zürich, von dem nur eine zurückkehren wird.

Kino

JULIE BLEIBT STILL
Das Schweigen als rätselhafter, aber elementarer Baustein zwischenmenschlicher Beziehungen

QUIET LIFE
Schauderhafter Umgang in Schweden mit posttraumatischer Verbitterungsstörung

TOXIC
Von den Rändern der litauischen Industrielandschaft

EINE LETZTE REISE
Der groteske Versuch, das Rad der Zeit zurückzudrehen.

DER PINGUIN MEINES LEBENS – THE PENGUIN LESSONS
Menschen sollten öfter einen Pinguin in ihr Leben lassen.

MEIN WEG – 780 KM ZU MIR
und das mit einem kaputten Knie und einer trotzigen Portion australischer Selbstironie

BLINDER FLECK
Extrem schwieriges Thema: Kleinkinder als Zeugen von Vergehen an ihnen

THE ACCOUNTANT 2
Mit einem Plotwust zur Kinderbefreiung und dabei nett unterhalten

AEON OZ
Eine Tanzkontemplation

DVD
NEUIGIKEITEN AUS LAPPLAND
Von so einem Scoop träumt so manch gestandener Journalist; die Anfängerin greift sich ihn.

TONI UND HELENE
Ein letzter Ausflug

The Accountant 2

Mit schwerem Thrillergeschütz gegen Kindsentführung

Ben Affleck beschäftigt das Thema der Migration aus dem Süden in die USA und damit verbundene kriminelle Auswüchse, speziell das Thema von Kindsentführung und Kindstötung. Er möchte dem Thema kinematographisches Gewicht verleihen und fährt massives Geschütz des Thrillergenres auf.

Der Schauspieler produziert selbst den Film und spielt eine der Hauptrollen. Er verlässt sich auf ihm bekannte Gesichter und Namen. Er hat schon 2016 einen Film „The Accountant“ gedreht, ebenfalls mit Regisseur Gavin O‘ Connor und Drehbuchautor Bill Dubuque. Vielleicht war der supererfolgreich, dass er nach einer Fortsetzung schrie, oder vielleicht war er es gerade nicht, so dass Ben Affleck sich einen zweiten Versuch gestattet.

Ben Affleck selbst spielt den Geheimagenten Christian Wolff. Er spielt ihn so, als ob er eine partielle Gesichtslähmung habe; vielleicht um Geheimnis und Undurchdringlichkeit zu erzählen. Ihm wird ein Bruder zugeschrieben, Braxton (Jon Bernthal). Die haben sich seit 8 Jahren nicht gesehen. Das dürfte in etwa die Spanne seit dem ersten Film sein; dort taucht der Bruder auch schon in der Besetzungsliste auf.

Zum Bruderthema gibt es eigens eine ausführliche, wenn auch nicht tiefschürfende, Szene; da sitzen die beiden mehr oder weniger entspannt auf Klappstühlen auf seinem Wohnwagen, der innen ein Waffenarsenal versteckt hat, was schön vorbereitet auf die Countdown-Szene in Juarez.

In Juarez hält der Oberbösewicht Burke (Robert Morgan) die Kinder gefangen und will sie alle umbringen. Das führt als Wettlauf mit der Zeit zum Finale, die Kinder vor einem grausligen Ende zu bewahren.

Ansonsten finden sich die beiden Brüder in einem schwer entwirrbaren Plotwust mit Agenten und Agentinnen und undurchschaubaren Bösewichtern. Die Verwirrung wird eingangs exponiert. Ein von vielen Seiten beobachteter Vorgang um einen Mord bei einem Bingo-Spiel. Jeder wird wieder von einem anderen beobachtet.

So fängt die Verwirrung in einer soliden Actionbildersprache an und dass in der Pressevorführung das hingenuschelte Englisch mit englischen Untertiteln versehen war, trug nicht unbedingt zur Erhellung des Plots bei.

Es gibt Dinge, die sind lediglich zur Unterhaltung eingeführt und haben herzlich wenig mit dem Plotwust zu tun, zum Beispiel eine Speeddating-Szene. Neckisch ist auch das Team aus Jugendlichen, das für den Geheimdienst im Eilzugstempo Identifizierungen über Überwachungskameras vornimmt oder sich in das KI-System eines Hauses einloggt und damit die Bewohnerin irritiert, und ihren Computer hackt. Das sind nette Einfälle. Kinderspiele eher.

Was Ben Affleck uns jedoch mit dem Film erzählen will, bleibt mir schleierhaft, es sieht nicht so aus, als ob einzelne Figuren ihn interessieren, ok, dass ihn das Migrationsthema beschäftigt, das glauben wir ihm jetzt mal, warum er das mit so einem Mordsaufwand an Geheimdienstinstrumenten tut, bleibt rätselhaft; ist vielleicht seiner schauspielerischen Mission oder Eitelkeit geschuldet.

Toxic

Träume 13-jähriger an den Rändern der Gesellschaft

Marija (Vesta Matulyt) und Kristina (Ieva Rupeikaite), beide 13, leben an den Rändern der litauischen Gesellschaft, da wo nur noch Industrielandschaften, Kraftwerkmeiler, Stromleitungen und kaum mehr als Hütten zum Wohnen sind.

Ein Biotop, in welchem die Männer rumhängen, immerhin spielen sie Dart oder Korbball. Die Jugend hängt auch rum, lässt sich auf unsauberen Klos von möglicherweise nicht allzu Fachkundigen Piercings stechen, die sie auf irgendwelchen Wegen sich haben schicken lassen.

Das Darknet ist der Jugend nicht unbekannt. Hier sind dubiose Dinge zu beschaffen. Man trinkt Alkohol. Man fängt früh damit an. Das Beschaffungsproblem ist nicht allzu groß. Man raucht Rauschmittel.

Bei den Mädchen ist das Thema des schnellen Geldverdienens mit Massagen bei alten Männern nichts Außergewöhnliches. Es ist eine verkommene Welt, eine abgehängte Welt, eine illusionslose Welt, die Saule Bliuvaite in ihrem Film schildert.

Diese Trostlosigkeit machen sich andere zu Nutze. Eine Agentur bildet die Mädchen zu Models aus, bereitet sie auf das Casting vor. Hier wird Hoffnung versprochen, der Weg in die weite Welt, Japan und Amerika locken. Das kostet erst mal Geld.

Saule Bliuvaite schildert diese Coming-of-Age-Welt ohne zu werten, vielleicht schwelgt sie etwas in ihr. Sie bedient sich beim Freak-Element. Nicht dass Marija, die mit einem Bein hinkt, schon dazu gehört. Aber sie wird von den anderen Mädchen ausgegrenzt, plump, es werden ihr Jeans gestohlen. Dann lernt sie Kristina kennen.

Mit einer übergroßen 13-jährigen, die muss über zwei Meter groß sein, wahrlich ein Riese, bringt sie das Freak-Element ins Spiel.

Das Abgefuckte hat fürs Kino immer seinen Reiz, das Ärmliche, das Abgehängte, das was sich außerhalb der strengen bürgerlichen Kontrolle und Konvention abspielt, wo nicht jeder Zentimeter Garten gejätet, nicht jedes Fenster geputzt ist, nicht jeder Quadratmeter Erde organisiert und zweckgebunden ist; da wo so etwas wie Urwüchsiges und auch eine Art Freiheit zu herrschen scheint. Welten wie in Bird oder bei auch die von Jan Baker (Red Rocket, The Florida Project, Tangerine L. A.).

Quiet Life

Resignationssyndrom
oder posttraumatische Verbitterungsstörung (Psylex)

Dies ist ein Film über das seltene Krankheitsphänomen am Beispiel von jugendlichen Flüchtlingen in Schweden.

Die Krankheit taucht auf, wenn Asylsuchende erfahren, dass sie wieder zurück in ihre Heimat müssen, wo sie sich gefährdet sehen. Dieses Phänomen wird in rasterhafter Art dargelegt von Alexandros Avranas, der mit Stavros Pamballis auch das Drehbuch geschrieben hat.

Die Betroffenen, das ist eine Familie aus Russland, Vater Sergei (Grigory Dobrygin), Mutter Natalia (Chulpan Khamatova) und die beiden Teen-Töchter Alina (Naomi Lamp) und Katja (Miroslava Pashutina). Das Leben dieser Familie wird in ein stilisiertes Erzählschema gepresst. Immer dominieren Raster das Bild, immer entsteht der Eindruck von Unfreiheit, von Gefangenheit, was genau so gut als Aufgehobenheit oder Sicherheit interpretiert werden kann.

Die Familie stellt sich auf zum Empfang von zwei Behördenmitarbeitern, die das neue Zuhause begutachten. Die Frage steht in der Luft, ob die Familie in Schweden bleiben kann oder zurück nach Russland muss.

Der Bescheid ist ablehnend, da es keine Beweise gebe für die Bedrohungslage des Vaters in Russland. Er kann zwar die Spuren einer Wunde am Bauch vorweisen. Aber was beweist das schon. Er bräuchte die Aussage seiner kleinen Tochter, die Augenzeugin des Angriffes auf ihn gewesen ist. Sie will nicht aussagen.

Die ältere Schwester erleidet das Resignationssyndrom. Sie wird der Familie weggenommen und kommt in einem Saal mit lauter ähnlichen Patientinnen unter, streng abgeschirmt und betreut. Die Eltern dürfen das Kind gerade mal durch eine Glaswand sehen. Ein unerträglicher Zustand. Es gibt einen lächerlichen Kurs, in dem ihnen Verhalten beigebracht wird, das dem Syndrom der Kinder keinerlei Nahrung bietet: lächeln, immer lächeln.

Die Familie beschließt, unterzutauchen. Sie hat Helfer. Als großes Glück gilt ein heimlicher Ausflug ins Hallenbad, wo die beiden apathischen Mädchen mit ihren Schläuchen in der Nase von den Eltern im Wasser getragen werden.

Die Bilder in ihrer strengen Stilisierung muten absurd und irreal an. Es ist ein Leben wie in einem Kalender innerhalb dessen graphischer Struktur oder ein Formularleben; jeder Moment hat sein Kästchen.

Mein Weg – 780 Km zu mir

Galliges Selbstporträt des Filmemachers als eines alten Mannes

Manche Filmemacher wie Scorsese oder Coppola wollen im hohen Alter der Welt noch ihre ganze Weisheit hinterlassen, siehe Megalopolis oder Killer of the Flower Moon oder verfrüht schon Tom Tykwer mit Das Licht.

Bill Bennet, Jahrgang 1953, also noch gar nicht so alt, schreibt als eine „wahre Geschichte“ dem Filmregisseur Bill (Chris Haywood), Jahrgang 1948, zwar etwas älter, aber noch nicht greisenalt, einen Jakobsweg auf den Leib.

Er sei australischer Filmemacher, 41 Jahre verheiratet mit Jennifer (Jennifer Cluff), und ist, wie er vom Jakobsweg hört, gleich angefressen von der Idee. Wenn ein Künstler eine Idee hat, dann geht er sie auch bis zum bitteren Ende oder bis zur Selbsterkenntnis.

Der Film wirkt wie ein galliges Selbstportrait des Filmemachers, wunderbar umrandet, geschmückt mit Bildern und Philosophemen vom Jakobsweg. Vermutlich hat Bill Bennett den auch gemacht und daraus den Anekdotengehalt für seinen Film bezogen. Den Protagonisten konnte er nach seinem Gusto charakterisieren als einen egozentrischen, egomanischen Typen, dem sein Werk immer wichtiger war als seine Frau und seine Kinder. Zu der Erkenntnis gelangt er. Aber sein Schaffenstrieb, sein Selbstverwirklichungstrieb sind stärker als jede Vernunft und als jeder Ratschlag von seiner Frau.

Mit kaputtem Knie marschiert der Halsstarrige los, lediglich einen knorrigen Stock als Hilfsmittel. Erst wie die Schmerzen unerträglich werden, lässt er sich überreden, zwei Walkingstöcke sich zuzulegen.

Es gibt, wie gerne in den Jakobswegfilmen, deren Liste fast täglich länger wird, Wiederbegegnungen; die Leute sind alle mit demselben Ziel unterwegs, treffen sich in den Pilgerherbergen, tauschen sich aus. Pflichtschuldigst fragt der Regisseur manche Mitwanderer nach ihren Motiven.

Bill hat seine Macken. Wenn Mitpilger oder Servicekräfte ein Foto von ihm machen sollen, so achtet er peinlichst auf den Headroom, den Platz, der überm Kopf frei bleibt; meist ist es zuviel; auf so einer Pointe kann er durchaus rumreiten. Er liebt die Drohnenaufnahmen von seiner Reise, besonders die aufsteigende Drohne scheint es ihm angetan zu haben. Beim Thema Getränke kann er als Australier begründen, warum er nie Bier getrunken hat, weil das in Australien nur die Hoboos tun würden. Aber auch hier lässt er sich bekehren.

Ein anderes Thema, an dem sich seine eher kleinkarierte Peniblität, seine Kontrollfreak-Mentalität zeigt, das ist das Gewicht des Rucksackes. Der soll zehn Prozent des Körpergewichtes nicht überschreiten. So ist es wichtig, dass er – zum ersten Mal in seinem Leben – eine Nassrasur macht, weil ein Nassrasierer weniger Gewicht auf die Waage bringt als ein elektrischer.

Julie bleibt still

Wovon man nicht sprechen kann,

darüber müsse man schweigen, schrieb Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus logico-philosophicus. Ob er an Missbrauch oder an schwierige, nicht gern gesehene bis unerlaubte Lieben gedacht hat?

Im Originaltitel heißt der Film von Leonardo Van Dijl, der mit Ruth Becquart auch das Drehbuch geschrieben hat, Juli zwijgt. Warum das nicht auf Deutsch gleich mit „Julie schweigt“ übersetzt werden kann, bleibt Verleiher-Geheimnis.

Schweigen trifft es auf den Punkt, während „still bleiben“ viel mehr enthält, still bleiben kann man aus Lust, aus Unlust, die Gründe dafür können vielfältiger sein. Aber Julie (Tessa Van den Broeck) schweigt, weil sie nicht anders kann, weil sie in einer bestimmten Sache gefangen, befangen ist.

Julie ist eine topbegabte Tennisspielerin an einer Tennisschule, die sich „Les Hirondelles“ nennt. Sie ist so begabt, dass von ihr kein Schulgeld verlangt wird, während ihre Mitschüler blechen müssen, resp. deren Eltern.

Julie hat eine besondere Beziehung zu ihrem Tennislehrer Jeremy (Laurent Caron). Aber vielleicht war und ist sie nicht die einzige, diese Überlegung bleibt dem Zuschauer überlassen. Nach dem Selbstmord der Mitschülerin Aline (Tamara Tricot) wird Jeremy suspendiert; Backie (Pierre Gervais) übernimmt für ihn; auch er versucht, das Vertrauen der jungen Frau zu gewinnen.

Der Film zeigt nah und atemberaubend das, wenn man so will, gesammelte Schweigen der Protagonistin in ihrem Alltag als Sportschülerin und Wettbewerbshoffnung. Er zeigt das besorgte, aber vergebliche Bemühen ihrer Umgebung, sie zum Reden zu bringen.

Ein Tennisfilm der anderen Art, aber auch mit Unaussprechlichem war kürzlich Challengers – Rivalen von Luca Guadagnino.

Hier bei Leonardo Van Dijl dominiert die Dokunähe der Dardenne-Kamera und es verwundert nicht, den Namen Dardenne unter den Produzenten zu finden und auch den Namen Florian Zeller, der mit atemberaubenden Nahaufnahmen seelischer Zustände auf sich aufmerksam gemacht hat: The Son und The Father.

Der Film, der auf jeden Kommentar, auf jedes Urteil verzichtet, ist gleichzeitig ein wunderbar sensibles Porträt einer jungen Frau.

Eine letzte Reise

Vom Versuch, die Zeit zurückzudrehen

Hier werden wir Zeuge, wie ein schwedischer Filmemacher (Filip Hammar) mit Hilfe eines Freundes, Fredrik Wikingsson, versucht, die Zeit zurückzudrehen.

Ein mehr als groteskes Unternehmen, allerdings anhand eines zeitgemäßen Themas und das in Schweden eine beachtliche Anzahl von Kinobesuchern angelockt haben soll.

Der Anlass ist ein persönlicher, was es nur noch grotesker macht, nicht etwa mit kleiner handlicher Handykamera spontan aufgenommen, sondern mit beachtlichem Kameraequipment bis hin zur Drohne und ebensolchem logistischem und entsprechend auch finanziellem Aufwand zustande gebracht.

Der Vater des Filmemachers, Lars, war ein lebenlustiger Lehrer und Frankreich-Fan. Mit der Pensionierung hat sich vor allem seine Frau Tiina auf das dritte Lebensalter, auf die goldene Zeit mit Reisen und das Leben genießen gefreut. Das ist nun wahrlich ein zeitgemäßes Thema und es gibt genügend Filme darüber, dass einem grade nicht einer einfällt, als Beleg anzuführen, vielleicht weil es doch generell Themenfilme sind.

Mit Lars jedenfalls läuft das gründlich schief. Mit der Pensionierung verschwindet sein „Sparkle“ wie es in den Untertiteln heißt, die Lebenfreude, die Begeisterungsfähigkeit. Er sitzt nur noch dumpf da und wartet auf den Tod. Für die Umgebung ist das eine Last, insbesondere, wenn sie an die früheren, unternehmungslustigen Zeiten, an die Frankreichreisen denkt, wenn sie Erinnerungsmaterial vom Dachboden holt und diese evoziert.

Sohn Filip möchte den früheren Vater zurückholen. Er schleppt ihn mit auf eine rekonstruierte Frankreichreise. Das fängt mit dem Kauf eines inzwischen zum historischen Oldtimer gewordenen R4s an, geht über die Rekonstruktion eines Apartments an Originallocation in Marseille oder die reinszenierte Anekdotenerzählsituation auf einem Balkon bis hin zur inszenierten Ohrfeigenszene eines Parkplatzstreites, wie sie den Papa immer so fasziniert haben.

Die Kamera bringt die Gesichter von Filmemachern und Protagonisten in humanistischer Größe und Nähe nicht weit von der holländischen Frans-Hals-Sicht entfernt, ganz im Sinne der Groteske. Die Haltung der Filmemacher zu ihrem Projekt ist hemdsärmelig, was wir dann wohl als skandinavischen Humor interpretieren würden.

Go ahead, make my day.