Nicolas Cassardt ist sich seinem Faible für Kunst im weiten Sinne, wie im Interview mit diesem Blog vor zwei Jahren geäußert, treu geblieben. Jetzt hat er mit Fiona Rachel Fischer den Künstler Mario Steigerwald vor die Kamera geholt. Entstanden ist das beeindruckende Porträt eines Menschen, dem Kunst ein Mittel zur Lebensbewältigung ist (siehe die Review). stefe hat den beiden angeboten, ausführlich über das Zustandekommen und die ungewöhnliche Zusammenarbeit zu berichten. Die Antworten bieten eine spannende Lektüre, die einen ungewohnten Einblick in dokumentarisches Filmschaffen gibt und die zeigt, dass qualifizierte filmische Dokumentation deutlich mehr ist, als nur hingehen, die Kamera draufhalten, Mäuschen spielen, die Leute plappern lassen und so zu tun, als ob man nicht dabei sei.
Frage 1: Was war die Geschichte dieses Filmes von der ersten Idee bis zur ersten Klappe?
Fiona: Auch wenn unser Protagonist da jetzt laut protestieren würde: am Anfang dieses Filmes standen einige Zufälle. Ich habe zufällig gerade ein Artikelthema für die Süddeutsche Zeitung gesucht, als Mario Steigerwald in einer Ausstellungsankündigung in einem Nebensatz erwähnte, dass er vor vielen Jahren aus Uruguay geflohen und gefoltert worden sei. Ich kannte ihn zu diesem Zeitpunkt zufällig gerade so gut genug, um einfach einmal unbefangen nachzufragen und er war zufälligerweise gewillt, mit mir darüber zu sprechen. Daraus durfte ich dann ein Porträt für die SZ schreiben, das wirklich viel ins Rollen gebracht hat. Zufällig? Nach dem Artikel hatte ich das Gefühl, dass da eigentlich noch viel mehr gewesen wäre, und dass man die Geschichte von Mario selbst hören, ihn dabei sehen müsste, um sie wirklich zu verstehen. So entstand die Idee, daraus einen Film zu machen, so entstand schlussendlich „Marios Destino“, was übersetzt Marios Schicksal heißt. Unser Protagonist glaubt nämlich nicht an Zufälle und gerade bei dem Film ist er sich sicher, dass all das Schicksal war. Und so unsicher bin ich mir da inzwischen auch nicht mehr.
Nicolas: Ob man es jetzt Fügung oder Glück nennen mag, Fiona und ich haben uns als Produktions-Duo bei unserem ersten gemeinsamen Film perfekt ergänzt. Uns kam ihr Organisationstalent und ihre strukturierte Herangehensweise an den Film sehr zugute, während mir meine technischen und dramaturgischen Erfahrungen aus dem Bereich Spielfilm einen frischen Blick ermöglicht haben.
Marios Destino ist Fionas Debüt als Filmregisseurin, dafür bin ich das erste Mal als Director of Photography bei einem Dokumentarfilm in Erscheinung getreten. Fionas journalistische und gestalterische Neugier, ihr psychologisches Feingefühl und natürlich die gesellschaftliche Relevanz rund um Marios Geschichte waren der Motor für den Film und haben uns motiviert, zwei Jahre lang an dem Projekt zu arbeiten. Dabei haben wir natürlich auch noch mit ein paar Menschen zusammengearbeitet: Wir hatten vier wunderbare Videograph*innen, die mich als Director of Photography bei der Bildgestaltung unterstützt haben – Elisabeth Neugebauer und Julian Sonntag sowie Johannes Ziegler und Dominic Euringer, die sich respektive auch um Beleuchtung und Ton gekümmert haben. Später hat dann noch Jasper Müller den Aufnahmen durch ein tolles Grading den letzten Schliff verpasst.
Marios Destino war außerdem ein wundervolles Projekt, um im Zuge unserer filmischen Arbeit die Strukturen meiner Produktionsfirma MindNC Productions weiter auszubauen und das Thema Finanzierung durch Fördermittel in Angriff zu nehmen. Wir sind dem JFF – dem Institut für Medienpädagogik – und auch der Pazz GmbH, der Plattform für Filmschaffende, sehr dankbar, dass sie uns jeweils mit einer Förderung unterstützt haben. Ganz ohne Budget kann man einfach keinen 70-minütigen Film auf die Beine stellen.
Fiona: Wir wollten einen Film machen, der über Marios Geschichte hinausgeht und zeigt, wie wertvoll geflüchtete Menschen für unsere Gesellschaft sind, dass sie aber gleichzeitig ein ziemliches Päckchen an traumatischen Erinnerungen zu tragen haben, das man aber im Alltag nicht unbedingt sieht. Gerade in der heutigen Zeit, mit dem wachsenden gegenseitigen Unverständnis in der Gesellschaft, erschien uns das als ein essenzielles Thema und das haben unsere Förderer schönerweise genauso gesehen.
Nicolas: Wir haben nach und nach ein Team aus talentierten Mitstreitern geformt, deren Unterstützung und Motivation ausschlaggebend für den Erfolg des Films waren. Im Kamera-Department waren wir eben an manchen Drehtagen zu fünft. Das hat es uns ermöglicht, jede Nuance von Marios emotionaler Erzählung einzufangen und gleichzeitig genug B-Roll zu filmen, dass wir ein buntes Sammelsurium an Schnittbildern hatten. Da Mario keine Aussage auf dieselbe Weise wiederholt hat, sondern seinen Gedanken – wenn man so will – immer eine neue Farbe und Form gegeben hat, war es umso wichtiger, dass alle Passagen aus verschiedenen Perspektiven im Kasten waren.
Fiona: Gerade weil Mario so ein ausdruckstarker, darin fast eigensinniger Charakter ist, war es mir in der Inszenierung besonders wichtig, ihm dafür einen geeigneten Raum zu geben. Er sollte exponiert und gleichzeitig geborgen sein, an einem Ort, der mit seiner Geschichte zusammenhängt. Nach einigem Überlegen fiel die Wahl auf die Bühne des Pepper Theaters des Kulturbunt Neuperlach, wo Mario schon öfters aufgetreten ist und dabei sehr viel über seinen künstlerischen Ausdruck entdeckt hat, also ein Ort, wo er ganz unbewusst schon mit seinem Trauma zu tun gehabt hatte. Dort konnten wir einerseits eine intime und nahe Interviewsituation aufbauen, die unglaublich nah an Mario und seine Geschichte herankommt – auch von den Kameraeinstellungen her. Das schwarze Setting der Bühne hat dazu auch ganz toll gepasst, weil das viel Platz für Imagination lässt und sich Mario vor dem dunklen Hintergrund richtig in die Netzhaut der Zuschauenden brennt. Dazu wollte ich dann noch eine ganz weite Totale, die den ganzen Bühnenraum umfasst, damit wir wirklich alles einfangen können, was vielleicht unerwartet im Affekt des Moments passiert. Außerdem war es mir wichtig, im Kontrast zu der Nähe der anderen Kameraeinstellungen auch radikal auf Distanz gehen zu können und in dieser Totale auch die Interviewsituation mit allen Kameras und Lichtern zeigen zu können, um auch einmal mit der Sympathie zu brechen und etwas nüchterner von außen auf diese sehr subjektiv erzählte Geschichte schauen zu können.
Nicolas: Das große Problem schon zu Anfang der Konzeptphase war, dass wir nicht eben mal nach Uruguay fliegen und die passenden Impressionen einfangen konnten. Und Fotos hat Mario aus seiner Zeit dort auch nicht nach Europa mitgenommen. Seine traumatischen Erlebnisse hätten wir also nur sehr limitiert in Bilder gießen können und KI-Erzeugnisse oder nüchternes Stock-Footage-Material hätten die Authentizität der Geschichte aktiv gesenkt. Ich denke, wir haben das einzig Richtige getan und sein Seelenleben und seine dunklen Erinnerungen als verdrängt und schwer zugänglich gezeigt. Ich habe an einem Abend im Import Export, in dem Mario des Öfteren verkehrt und auch auftritt, bunte Lichter und Nebelschwaden in einem Club-Setting aufgenommen. Die Rauchszenen haben aus unserer Sicht hervorragend als unterbewusste, psychische Bilder funktioniert und haben die visuelle Lücke mit der in der Erinnerung parallelisiert. Marios Erlebnisse entziehen sich dem Publikum so visuell und geben der eigenen Vorstellungskraft Raum, was das Ganze viel eindrücklicher macht
Da waren wir auch durch Der Weiße Hai inspiriert, in dem ja den Großteil des Films höchstens suggestive Elemente von der Bedrohung aus dem Meer zu sehen sind, die gerade dadurch viel stärker wirken.
Frage 2: Was war die Produktions- und Postproduktionsgeschichte von der ersten Klappe bis zur Premiere?
Fiona: Diese Aufnahmen von dem Brainfog, wie ich es gerne nenne, sind im Import/Export entstanden, wo auch unser erster Drehtag war. Wir haben Mario da bei einem Auftritt begleitet, seinem ersten Auftritt als Autor in der Öffentlichkeit, und sind an anderen Drehtagen in seinen Ateliers gewesen, bei weiteren Performances und auch auf der Jagd nach Motiven, die sich Streetphotography nennt. Das große Interview im Pepper Theater war der wichtigste Drehtag, bis dahin musste alles stehen, auch die Interviews mit seinen Freunden und Künstlerkolleg:innen, weil wir ihm die auch über einen Beamer vorgespielt haben, um eine dialogartige Metaebene einzubauen und mit Film im Film zu spielen. Denn hier kommen verschiedene Erinnerungen zusammen, hier prallen Wahrnehmungen aufeinander, Subjektivität in ihrer Reinform, die objektiv werden möchte. Daraus ist natürlich unglaublich viel Material entstanden: Mario hat viel erzählt und ist sehr tief in seine verdrängten Erinnerungen hinabgestiegen. Da war es wichtig in jedem Interview, ihn erst einmal erzählen zu lassen, was ihn bewegt, und dann nachzufragen. Es waren wirklich Stunden über Stunden an Videomaterial, und das dann auf bis zu fünf verschiedenen Kameras gleichzeitig. Man muss also sagen, dass der Film erst in der Montage seine Form angenommen hat. Wir haben die vielen Aufnahmen gesichtet und Aussagen, Anekdoten, Gedanken und Erinnerungen einzeln herausgepickt, die das große Ganze erzählen. Die Dramaturgie der richtigen Reihenfolge war an dieser Stelle besonders wichtig: nicht gleich alles erzählen, sondern auch einmal eine Frage offen halten, Widersprüche zulassen, entgegen der Chronologie arbeiten. Denn auch traumatisierte Gedächtnisse funktionieren nicht linear, sondern blitzartig, sprunghaft und mit Lücken. Das war uns auch bei der Montage wichtig, diesen Prozess des Erinnerns erzählerisch zu begleiten und durch den Schnitt dazustellen.
Nicolas: Ich fand die Herangehensweise im Schnitt wahnsinnig spannend und neu, da mein Fokus bei vorherigen Projekten eher auf Spielfilm-Regie lag. Da ist man es natürlich gewohnt, minutiös die einzelnen Einstellungen in einer Shotlist oder einem Storyboard zu planen, um im Schnitt möglichst wenig Überraschungen zu haben. Nun war es so, dass es hunderttausende von Möglichkeiten gab, den Film zu erzählen und den narrativen Fokus auf diese oder jene Erlebnisse in Marios Leben zu lenken. Das hat verschiedene Schnittversionen mal schwerer, mal luftiger gemacht und wir haben wirklich lange daran gearbeitet, bis wir mit der finalen Version die Balance erreicht haben, mit der wir zufrieden waren.
Ich denke, unsere Leistung im Schnitt liegt darin, dass weder Marios traumatisches Schicksal und die damit verbundenen Folgen noch sein und kraftvolles Künstlerdasein zu kurz kommen. Wir haben den Final Cut um einige künstlerische, kontemplative Mood Shots ergänzt und das hat ihn visuell abwechslungs- und spannungsreicher gemacht. Das war für mich nebenbei eine ganz interessante Erkenntnis, dass ein Film genug Außenaufnahmen braucht, um nicht zu beklemmend zu wirken.
Fiona: Ein besonderer Fokus lag für mich auch auf der Musik: sie sollte einerseits die Gefühle der Erzählung transportieren und andererseits durch gezielte Momente der Stille das Ringen um Orientierung zeigen, das unser Protagonist in seinem Prozess des Erinnerns durchgemacht hat. Von Anfang an habe ich mir außerdem ganz bestimmte Gitarrenklänge gewünscht, die das Südamerika der Erinnerungen in die Aufarbeitung von heute bringen. Unser Komponist Daniele Volcan hat da einen Score geschaffen, der mir immer wieder selbst Gänsehaut gemacht hat, wenn ich in der Postproduktion vor dem Film saß. Er hat es wirklich wahnsinnig gut geschafft, Emotionalität aufzubauen, ohne zu rührselig zu sein oder dem Publikum diese Emotionen aufzudrücken.
Frage 3: Wo wird man den Film sehen können, was gedenkt Ihr mit ihm zu tun und was habt Ihr, jeder für sich, für spruchreife (oder nicht so spruchreife) Pläne?
Fiona: Nach ein paar Kinoaufführungen sind wir gerade im Gespräch mit weiteren Kinos, konkret geplant ist schon ein Screening des Films am 30. Januar um 20:00 im Lichtspielhaus Fürstenfeldbruck. Danach soll es auch eine Podiumsdiskussion dazu geben, wie Kunst als Heilmittel für persönliche, aber auch gesellschaftliche Traumata wirken kann. Das ist ja auch ein Kernthema unseres Films!
Nick: Wir werden sehr viel dafür tun, dass Marios Destino nach der Kino-Tour auf einer oder mehreren Streaming-Plattformen verfügbar ist und wir damit nochmal ein größeres Publikum mit dem Film erreichen. Parallel baue ich momentan meine Produktionsfirma MindNC Productions stark aus und schaue, welches gesellschaftlich relevante, interessante Thema das Zeug zum nächsten, künstlerisch anspruchsvollen Dokumentarfilm hat.
Fiona: Ansonsten schweben mir auch noch Vorführungen von „Marios Destino“ in einem künstlerischeren Kontext vor, zum Beispiel mit Ausstellungen oder literarischen Lesungen, oder aber eingebunden in Installationen mit Video. Wenn es da konkrete Termine gibt, findet man das immer als erstes auf dem Instagram-Account des Films, auf marios destino film. Und die Kinovorführungen natürlich auch! Neben diesen Veranstaltungen konzentriere ich mich gerade selbst auf das Schreiben, von Artikeln, von literarischen Formen und brainstorme nebenbei schon an der nächsten Filmidee.