Kash Kash

Tauben über Beirut

Friedenstauben? Das auch. Bei einer Demo in Beirut wird ein Schwarm von seinen Züchtern und Besitzern freigelassen. Bewusst gemischt in den Farben, die das tolerante Zusammenleben der Menschen symbolisieren sollen. Aber es sind nicht nur Friedenstauben, es sind auch Ablenkungstauben, die da in großen Verschlägen auf Hausdächern in der Nähe vom Hafen von Beirut von jungen Männern gehalten werden.

Vielleicht sind es nur junge Männer, die dieses Hobby pflegen oder die Dokumentaristin Lea Najjar, die mit Ali Haju auch das Drehbuch schrieb, hat sich für junge Männer als ihre Protagonisten entschieden. Beschäftigt sind sie als Fischer oder Friseure oder als Bootsfahrer, die Touristen zu den Todesklippen fahren.

Es sind junge Männer, die zwar nicht verhungert aussehen und die auch nicht politisch verfolgt werden, zumindest ist solches nicht zu erfahren, aber sie alle wollen nach Europa, sie wollen bessere ökonomische Bedingungen, die Inflation ist horribel, die ökonomische Lage im Libanon katastrophal, die Währung im freien Sturz.

Trotzdem halten die jungen Männer an ihrem Taubenhobby fest. Es ist eine Dokumentation in der Art des Adabei. Die Dokumentaristin ist dabei beim Leben ihrer Protagonisten, manchmal stellt sie auch entfernt hinter der Kamera die eine oder andere Frage.

Die Taubenzüchter veranstalten Wettbewerbe. Es gibt berauschende Formationsflüge ihrer Schwärme am Himmel, Vermischungen von zwei Schwärmen. Vom Dach aus versuchen die Männer sie zu manipulieren, mit Orangen, die sie in die Luft schießen, sie zu bewegen, mit Pfeifen sie wieder zurückzulocken gar mit Netzen auf den Dächern auch andere Tauben einzufangen.

Es gibt Dinge, von denen nicht klar ist, ob die vom Gesichtspunkt des Tierschutzes her korrekt sind, wenn den Tauben Federn gekürzt oder gar abgeschnitten werden.

Über die Betrachtung des Lebens dieser junge Männer gibt es Einblicke ins Leben des maroden Libanon. Die Politiker seien Schuld.

Die Explosion im Hafen von Beirut von 2020 wird life miterlebt, die Kamera darf sofort in einer arg beschädigten Wohnung sich umsehen, alles Glas zersplittert, wie nach einem Erdbeben sieht es aus. Einige Tauben habe es auch erwischt. Aber die jungen Männer machen weiter mit den Tauben, die lassen sie den Blick vom Elend der Stadt gegen Himmel wenden.

Captain Faggotron Saves the Universe

„Gay away“

ist das Mittel, mit dem der Schwulitätswunsch im Menschen unterdrückt werden können soll; es ist gewissermaßen der Kristallisationspunkt, um den herum sich diese große, grelle, graffitihaft-filmische Verteidigungsrede von Harvey Rabbit für die Freiheit der Schwulen und gegen das Verstecken entwickelt.

Auf der Leinwand wird die Vision vom schwulen Planeten ausgebreitet, theatral, mit bunten Kostümen, Figuren, Masken, Dialogen, gesprochen wie die Luftblasen im Comic.

Szenerie ist einerseits die Kirche San Sebastian, ein Unort für Schwulität. In diesem Gemäuer amtet Father Gaylord (Rodrigo Garcia Alves). Er ist im Konflikt zwischen Kirchenloyalität und Schwulität. Er hat in der schwulen Szene Queen Bitch (Bishop Black) kennengelernt und einen Ring von ihm verloren. Mit diesem Ring soll in einem ketzerischen Akt von der Kanzel herab mittels Onanie von Captain Faggotron (Tchivett) der Anus zur Hölle geöffnet und die Welt mit Schwulität geflutet werden.

Es ist eine grelle Story und grell inszeniert, plakativ, schematisch, propagandistisch. Es ist eine knallige Aktion für die Gay-Liberation. Es wird Englisch gesprochen, obwohl der Film zur Gänze in Berlin gedreht worden ist. Und es gibt neckische, obszöne Animationen.

Blackberry – Klick einer Generation

Nerds and Sharks
Spinner und Vollstrecker, die Revolution frisst ihre Kinder.

Das scheint auch für technische Revolutionen zu gelten. Das war schon schön zu sehen im Spielfilm über die Erfindung der Self-Service-Gastronomie in The Founder. Dort geht es um McDonalds.

Fast noch schöner ist das Prinzip jetzt und unterhaltsamer dargestellt am Beispiel des Blackberry, also der drahtlosen Internet- und Telefonietechnik, von Handy bis I-Phone, ausgehend vom Sachbuch „Losing the Signal“ von Jacquie McNish und Sean Silcoff nach dem Drehbuch von Matthew Miller und Matt Johnson in dessen Regie.

Herrlich wie die Nerds-Firma RIM, Research in Motion, geschildert wird. Typisch Fantasten, denen der wichtigste Geschäftsanlass das gemeinsame Filmschauen ist. Jeder von den Mitarbeitern muss seinen Schreibtisch selber mitbringen und zusammenstellen.

Mike (Jay Baruchel) und Doug (Matt Johnson) sind die führenden und inspirierenden Köpfe. Sie haben die Idee, ein drahtloses Telefon zu entwickeln, was auch Internet und SMS empfangen kann, was also die Funktion eines Computers erfüllt, denn die Übertragungskapazitäten, die Wellen, sind da. Als Geschäftsleute sind sie Nieten, lassen sich von Investoren verarschen, versagen bei der Präsentation ihrer Idee.

Aber Jim (Glenn Howerton), er ist es, der sich als Hai bezeichnet, der die Piraten, wie er die üblen Investoren nennt, das Fürchten lehren will. Womit ein neuer, rauer Ton in die Firma einzieht.

Der Film ist auch deshalb so unterhaltsam, weil, das muss hier erwähnt werden, das Casting durch Pam Dixon (USA) und Sara Say und Jenny Lewis (Kanada) so ausgezeichnet ist, das Schauspieler besetzte, die glaubwürdig und spannend in diesen Funktionen rüberkommen; was keine Selbstverständlichkeit ist.

Es ist auch eine Tragödie, es ist die Geschichte vom Aufstieg und Fall des Handy-Pioniers Blackberry, der einen schnellen Höhepunkt und maximalen Börsenwert erreichte, bis er bald schon vom I-Phone von Apple uneinholbar überholt wird. Die technische Entwicklung ist gnadenlos und der wirtschaftliche Wettbewerb auch. Aber sie entwickelt so offenbar heute unverzichtbare Dinge, so unverzichtbar, dass es schon wieder Absetzbewegungen gibt, handy-freie Zonen, Handy-freier Urlaub. Schön symbolisch ist der Name der Firmensitzes von RIM: Waterloo, in Ontario.

The First Slam Dunk

Coming-of-Age in den Männerdynamiken des Korbballs

Ryota ist ein Junge in der japanischen Provinz und orientiert sich an seinem einige Jahre älteren Bruder. Der spielt Basketball und animiert auch den jüngeren Bruder dazu. Eines Tages verschwindet der ältere Bruder, die Schwester meint, er sei auf einer Insel. Ryoto fehlt die Orientierung. Diese sucht er nun im Basketball. Ryoto gilt einerseits als begabt, ist aber noch klein. Er träumt davon, ein Profi in der amerikanischen Liga zu werden. Er übt viel.

Das Zentrum in diesem Film von Takehiko Inoue ist ein Basketballspiel im Inter-High-Turnier. Hier ist Ryota bereits 17. Hier wird seine Bewährung stattfinden. Hier muss er alle Vorurteile gegen ihn von sich selbst und von anderen überwinden. Er spielt für die Shohoku-Mannschaft, die erst mal eher wie eine Looser-Mannschaft aus lauter Egoisten daherkommt, die sich nicht leiden können.

Die Darstellung dieses Spiels ist geschickt auf Suspense aufgebaut. Die Zeichner achten und beobachten ganz genau die Differenzierung der verschiedenen Spieler beider Mannschaften, die Emotionen der Sportler, den inneren Monolog.

Es gibt immer wieder eine Verlangsamung, ja ein Stehenbleiben bei einzelnen Momenten, um diese Männerdynamiken, die nicht alle sehr gepflegt und kultiviert sind, herauszuarbeiten, die Machtkämpfe, die inneren Kämpfe.

Auch der Teamgedanke muss sich bei der Mannschaft von Ryota erst entwickeln. Das spiegelt sich auch bei den Fans. Diejenigen der Gegenmannschaft sind uniformiert, fast wie ein Heer mit ihren Tröten, während die Shohoku-Fans ein bunter Alltagshaufen sind und also nicht allzu effektiv im Anspornen.

Auch für einen Nicht-Sport-Aficionado kann das als Hochgenuss menschlicher Beobachtung betrachtet werden. Der Film eröffnet faszinierende Einblicke in das Innenleben nicht nur von Ryota, er knöpft sich auch andere Figuren mit ihren Zielen, ihrem Selbstbewusstsein, ihren Zweifeln, ihren Ängsten vor.

Der Coach der Shohoku-Mannschaft wird liebenswürdig „Opa“ genannt und man würde ihm kaum zutrauen, selber ein Spieler gewesen zu sein. Er aber kennt die Psyche und die Männerdynamiken des Sportes und gibt seine Ratschläge darauf basierend. Durch diese Sichtweise ist es ein sehr leiser Sportfilm geworden, der auch immer wieder mitten im Match den Ton ausblenden kann, um dem inneren Monolog dieser oder jener Figur zu lauschen.

Thomas Willmann: Der eiserne Marquis

Absturz eines Genies

Der Protagonist und Ich-Erzähler, der 1766, dem Zeitpunkt seiner zweiten Geburt und ab wo er sich Jakob Kainer nennt, gerade mal 20 Lenze alt war, ist hochbegabt, weit über dem Durchschnitt, herausragend. So sieht er es zumindest selber. Aber es wird ihm von Spezialisten seines Faches auch attestiert werden.

Es ist kein einfacher Weg für diese Frühbegabung, die er auch ist, ans Licht zu kommen. Sein Stand, sein Elternhaus, seine Herkunft sind kein guter Boden für solch ungewöhnliches Talent. Viel Zeit verwendet der Icherzähler werweißend, der sich in direkter, höchst elaborierter Rede an sein Publikum wendet, das sind die Ratten von Paris, auf die Erörterung dieses seines Genies, das anfänglich nur er selber in sich fühlt und wie er es pionierhaft zum Leuchten und zur handwerklichen Meisterschaft bringen, auf Möglichkeiten sinnierend, wie er die Hindernisse auf diesem Weg dahin überwinden, ausräumen könne. Es sind ihrer viele, vielschichtige, menschen- und geographiegemachte.

Dieser große, gewaltige Menschenabriebsroman, spielt in einer Zeit, als man noch zu Pferd, zur Fuß oder in der Kutsche unterwegs ist; an der Elektrizität wird gerade geforscht; im Roman spielen die Leydschen Flaschen mit und Benjamin Franklin wird in Paris Vorträge halten; aber das ist nun vorgegriffen.

Erstmal treibt es unseren Protagonisten aus dem Hinterland, aus dem „Dorf seiner Kindheit“, nach Wien. Hier herrschen klare Standesunterschiede, streng reglementiert, besonders die Differenz zum hochwohlgeborenen Adel.

Allein die Reise nach Wien ist ein eigener abenteuerlicher Roman mit präzisen Beschreibungen aus der Zeit; gleichzeitig ein Befreiungs- und Entwicklungsprozess für den Protagonisten, der die Pubertät kaum hinter sich haben dürfte, eine Coming-of-Age-Reise, nachdem er auf dem Land rudimentär das Uhrmacherhandwerk, mehr ausgenutzt und schikaniert als gefördert, gnädigerweise etwas erlernen durfte. Immerhin reicht es für eine Empfehlung an den Meister Servasius Weisz in Wien.

Thomas Willmann lässt sich in der ausführlichen Schilderung dieses unglaublichen Lebens der extremen Höhen und schauderhaften Tiefen ganz von der Sprache Goethes inspirieren. Das wirkt mitunter angenehm altertümlich und entsprechend angenehm anglizismenfrei, kitzelt aber den Geist des Lesers pausenlos durch die lupenrein exakte Gesetztheit; aktiviert die Synapsen im Gehirn, ja bildet geradezu neue.

Die Schilderung des Wien des späteren 18. Jahrhunderts ist großartig, soweit historischer Roman, scheint prima recherchiert, ja nimmt den Leser direkt mit auf eine Zeitreise, da Willmanns Beschreibungen immer auch sehr bildhaft, filmhaft sind, kinohaft direkt; sie dürften somit manchen Filmemachers Fantasie, der Ungewöhnliches zu tun vorhat, inspirieren, wie Jahrmarktvorgänge mit den mechanischen Puppen des Monsieur Vaucanson beispielsweise (oder später in Paris die Jaquet-Droz’schen Automaten) oder Uhrmachers und seines Lehrlings untertänigster Bücklingsauftritt vor einem adeligen Kunden.

Hier wird auch die heiß-romantische Liebesgeschichte (mehr Gefühl geht in keinem erotischen Groschen-Roman nicht, hier aber mit Nivooh!) zu Amalia initiiert, die dem Coming-of-Age des Protagonisten nicht nur die Krone sondern zugleich auch scheußliche Hörner aufsetzen wird, denn unempfindlich gegen Eifersucht ist er ganz und gar nicht.

Diese Geschichte wird so enden, man soll ja nicht zu viel spoilern, dass der Protagonist sich gänzlich neu erfinden muss; sie wird den Beginn seines schon in der Anfangssequenz angekündigten zweiten Lebens markieren, in welchem er sich Jakob Kainer nennt, Kainer, das hört sich an wie Nobody.

Kainer muss sich als vorerst von jeglicher menschlichen Gesellschaft Ausgestoßener durchschlagen, identitätslos, namenslos. Mit dem geraden Weg des einstigen Wunderkindes vom Lande in die feinsten Kreise mechanischer Erfindungen ist somit vorerst nichts.

Ein kleines Requisit aus seinem ersten Leben, eine silberne Rose mit einem Blattöffnungsmechanismus, wird für die dünne und nicht unbedingt absehbare Kontinuität des ursprünglichen Genies sorgen.

Als Jakob Kainer kommt er problemlos bei der preussischen Armee unter. Und so minutiös sich Willmann Wien vorgenommen hat, taucht er nun mit seinem Protagonisten ein in die Schilderung von Kriegsgräueln, Kriegsroman, alptraumhaft, trashig, die sich in kaum was von den Scheußlichkeiten der heutigen Kriege von zivilisierten Gesellschaften wie in der Ukraine oder in Nahost unterscheiden.

Immerhin lässt Willmann seinen zwielichtigen Literaturstar überleben, denn er hat noch einiges in petto an historischen Schilderungen aus dem damaligen Paris und auch an Tauchgängen in die tiefsten Tiefen schierer Unvorstellbarkeit menschlicher Fantasie, Dirty-Fantasy-Roman. Wie in Gaza gibt es in Paris ein gut ausgebautes System an Tunnels, die zu Recht das Tageslicht scheuen.

Auch skandalträchtige, historische Ereignisse baut der Autor in sein Werk ein, die öffentliche Geburt eines Kindes in Versailles aus der Liaison des Dauphin mit einer Österreicherin, ein gesellschaftliches Ereignis erster Güte oder die grauenhafte Massenpanik nach dem „feu d’artifice“ des großen Ruggieri. Dies vor dem Hintergrund einer episch geschilderten Art von toxischer Ménage à trois, in die Kainer in Paris hineingerät; auch ein Stück Edelnuttenroman.

Das übelste, widerlichste, abstoßendste Objekt – historisch dürfte es kaum zu belegen sein – das sich so himmlisch anhört, ist die Sphärenmaschine. Sie ist der brutale Tiefpunkt, vielleicht auch Kernpunkt der Forschungen von Jakob Kainer und dessen Mentor, der Titelfigur des eisernen Marquis, der ihn im preussischen Lazarett aufgegabelt hat. Sicherlich das contraire eines humanistischen Bildungsromans: es geht um Vorstufen der Erkundung künstlichen Menschentums, von Menschen herbeiexperimentierten Menschentums, Abgrund der Abgründe: die Entwicklung eines Menschen aus Fleisch und Mechanik – und Menschenfleisch ist zu dieser Zeit in den dunklen Gassen von Paris leicht und billig zu haben. – Was die Lust am Ansteckenden der Sprache des Autors Willmann nicht schmälert, der gegen Ende hin immer öfter in einen Pas de trois von Adjektiven und Substantiven verfällt. (Thomas Willmann, Der eiserene Marquis, Roman, 928 Seiten, Euro 36.00, verlagsbuchhandlung liebeskind, ISBN 978-3-95438-165-4)

Ophelia (ARD, Sonntag, 3. Dezember 2023, 00.00 Uhr)

Kostümfilm

ist nicht unbedingt gleich Shakespeare; besser als Shakespeare dürfte es auch kaum jemand können; insofern ist es gewagt, was Claire McCarthy hier nachdem Drehbuch von Semi Chellas nach dem Roman von Lisa Klein auf die Leinwand bringt.

Die Regisseurin möchte der Hamlet-Geschichte die Ophelia-Geschichte gegenüberstellen, ergänzend, vertiefend. Sie möchte der Ophelia ein Eigenleben geben. Sie möchte mehr aus ihr rausholen, als dass sie nur verrückt wurde.

So ganz gelingen kann das nicht; das mag an unserer extrem shakespearegeprägten Sicht auf den Stoff liegen, aber auch am Handwerk von Claire McCarthy, was vielleicht zu wenig eine Philosophie des Kostümfilmes hat; was vielleicht eine etwas saloppe Einstellung zum Casten und Regieführen, Figurführung beinhaltet.

Jedenfalls fällt einem der Begriff Kostümfilm ein, weil die Kostüme so ein Eigenleben führen, weil sie wie den Darstellern wie umgehängt wirken; aber auch am Spiel, welches einer Art Aus-dem-Bauch-Spiel ohne jegliche Stilisierung ist. Theaterspielen im Sinne von Gefühle zeigen.

Daisy Ridley ist Ophelia, die Kammerfrau am Hofe. Sie und Hamlet verlieben sich. Es geht im Stück um Blindheit, Macht, Verrat, Mord. Und die Moral von Claire McCarthys Inszenierung ist die, dass Ophelia (Daisy Ridley) nicht verrückt wird, sondern sich emanzipiert aus dem ewigen Kreislauf der Rache. Den Todesstoß versetzt dem Stück die lieblose deutsche Synchro.

Kommentar zu den Reviews vom 30. November 2023

Und Dunkelheit legte sich jahreszeitlich über das Land – das Kino kann sich dem nicht entziehen, selbst wenn es nach Griechenland schielt, dann muss eine Depression beigepackt werden. Ein Iraner hat gegen Kriegselend immerhin eine Hoffnungstaube parat. Ein Jugoslawienkriegsgeschädigter hinterlässet ein Flut von Texten der Hoffnungslosigkeit. Eine lauschige Bergwanderung wird in Frankreich begleitet vom Kampf gegen einen beschädigten Bewegungsapparat. Der Hamburger, der sich in Peru an den Rand seiner Kräfte und Ausdauer bringt, will immerhin ein Geschäft machen damit. Eine flotte Weltreise hat als ständigen Begleiter den Geruch menschlicher Darmentleerungen. Ein deutscher Junge wiederum wird als Gotteskrieger in Nahost gelockt. Der Versöhnung von zwei Freundinnen auf einer Griechenlandreise steht der Gemütszustand der einen entgegen. In der französischen Schweiz versucht eine Gruppe queerer Frauen sich in Pornographie. Und die Ami-Filmindustrie treibt es mit Strafexzessen grausamer denn je. Wer bestraft hier wen, das Kinoprogramm die Jahreszeit oder die Jahreszeit das Kinoprogramm? Vielleicht meint das Kino schlicht, dass sich die Menschen mal wieder ernsthaft mit diesem oder jenem beschäftigen sollen und nicht nur die leichte Ablenkung suchen.

Kino

DIE SIRENE
Ein junger Iraner zeigt sich während des Krieges seines Vaters würdig.

STÖRUNG
Menetekel zu Krieg, Flucht, Vertreibung

AUF DEM WEG – SUR LES CHEMINS NOIRS
Ein abenteuerlicher Reisebuchautor zeigt, dass er trotz Unfallfolgen seinen Weg gehen kann.

TRAIL DER TRÄUME
Ein Hamburger bringt sich in Peru an die Grenzen seiner Kräfte.

HOLY SHIT
Man sollte nicht verächtlich mit den menschlichen Exkrementen umgehen; sie sind wahres Poops-Gold.

REBEL – IN DEN FÄNGEN DES TERRORS
Wenn der Gotteskrieg Kinder einfängt.

REIF FÜR DIE INSEL – LES CYCLADES
Griechenlandreise mit längst fallen gelassener Freundin

FIERCE: A PORN REVOLUTION
Und das in der Stadt Calvins!

SAW X
Irgendwann muss man es mit der ewigen Bestraferei auch gut sein lassen.

Auf dem Weg – Sur les chemins noirs

Bestsellerautor

Pierre (Jean Dujardin) ist ein Bestsellerautor. Ein Reisebuchautor, der bisher ein kühnes und abenteuerliches Leben geführt hat. Das zeigt die Rückblende zu jenem Ereignis, das sein Leben verändern würde, einer Fassadenkletterei. Er wacht im Spital auf. Sein Bewegungsvermögen ist beschädigt. Er will es zurück. Sein Wille ist da – oder auch, wie es an manchen Stellen heißt, seine Flucht vor der Stadt, vor dem großen Weg, seine Flucht auf, wie es im französischen Originaltitel heißt: auf „schwarze Wege“, damit dürften geheime, nicht bekannte Wege gemeint sein.

Auf solch geheimen Wegen will Pierre sich beweisen, dass er noch, mit zwei Stöcken zumindest, gehen kann. Er macht sich auf eine Fußreise, 1300 Kilometer quer durch Frankreich, von den Bergen bis ans Meer.

Das Erinnert an Filme wie Rosy, die gegen ihre Krankheit anreist oder an den Bergfex in Kilimandscharo – Diesmal auf Krücken oder an Rosy – Aufgeben gilt nicht, entfernt vielleicht auch an die Flut von Pilgerwegfilmen.

Regissur Denis Imbert, der mit Diastème auch das Drehbuch nach dem Roman von Sylvain Tesson geschrieben hat, fängt mit Nahaufnahmen des Schauspielers Jean Dujardin an, wie er mit leichtem Gepäck und zwei Stöcken mutterseelenallein in den Bergen seinen Weg geht, wie er ins Schnaufen kommt, wie er seine Lebenssituation bedenkt, wie er sein Projekt durchziehen will. Sein Gesicht fasziniert. Am liebsten möchte man mit ihm wandern.

Auch die Bergwelt ist faszinierend, großartig fotografiert. Die Grundsatzfrage liegt in der Luft, wo ein Mensch seine Position suche, in der Geschichte oder in der Geografie. Das interessiert. Beide Varianten ändern nichts daran, dass Dujardin sich über Geröll bewegt, in dem er ständig abrutscht, in welchem ein fester Tritt nur schwer machbar ist. Rutschiger Boden – auch für sein Projekt?

Dann wird noch die Wolfsangst geschürt. Auch der Begriff der Bruderschaft der geheimen Wege macht neugierig.

Später wirkt es allerdings so, als reduziere der Film sein Interesse auf Anekdotisches; es gibt Begegnungen, Rückblenden, die Landschaft verändert sich, er überschreitet erneut Grenzen mit den entsprechenden Konsequenzen.

Es gibt das Strukturierungsmittel der Orts- und Kilometerangaben, wie weit der Wanderer schon ist. Wobei für den Frankreichunkundigen ab und an ein Landkarteneinblick – Karten trägt er doch so viele mit sich herum – hilfreich sein könnte. Und einmal gibt es einen Hinweis auf die Motivation für sein Tun, es ist ein Brief seiner Mutter, der mehr Rätsel aufgibt, als dass er welche löst.

Die Sirene

Coming-of-Age in Kriegswirtschaft
oder die Geschichte einer wunderbaren Rettung

Omid ist zwar schon groß, aber noch nicht im Kriegsdienstalter. Seine Heimatstadt Abadan, der größte Ölhafen im Südiran, wird, es ist 1980, vom Irak angegriffen. Hier sind die Iraner mal die Guten.

Omids älterer Bruder wird eingezogen. Die Mutter mit den kleinen Geschwistern verlässt die Stadt. Zuhause ist noch der Opa, der verschwindet bald aus dem unaufgeregt und eindrücklich animierten Film von Spideh Farsi nach dem Drehbuch von Djavad Djavahery.

Omid ist der Sohn eines bekannten Schiffskapitäns. Er hat ihn in Erinnung, wie der die Trommel schlug, wenn er von der See zurückkehrte. Das Schiff des Vaters hieß „Die Sirene von Abadan“. Es liegt im Hafen, unbenutzt.

Da Omid zwar kurz in der Armee eingesetzt wird, aber diese wieder verlassen muss, will er sich in Abadan nützlich machen. Er fährt Essen aus; nebenher kümmert er sich um seinen Kampfhahn Shir Kahn. Omid bekommt vom Opa das Motorrad seines Vater. Das muss erste repariert werden.

Dann möchte er das Schiff flott bekommen, um Dutzende von Menschen aus der Stadt zu retten, die immer mehr angegriffen wird. Das wird zu seiner Coming-of-Age-Tat, die komplizierte Vorbereitungen erfodert, der eine will gar nicht mit, der andere macht sich nur nützlich, wenn er dafür mit Alkohol entgolten wird. Alkohol ist ein verbotenes Gut und muss erst beschafft werden.

So ist Omid ständig unterwegs mit seinem Motorrad und trifft unterwegs auf die gleichaltrige Pari, die die Tochter einer berühmten Sängerin ist.

In diesen Zeiten von unerträglichen Kriegen wie in der Ukraine oder in Nahost setzt dieser Film am Ende ein hoffnungsvolles Zeichen – nicht nur mit den Friedenstauben.

Go ahead, make my day.