Interview: Drei Fragen an Fiona Rachel Fischer und Nicolas Cassardt

Nicolas Cassardt ist sich seinem Faible für Kunst im weiten Sinne, wie im Interview mit diesem Blog vor zwei Jahren geäußert, treu geblieben. Jetzt hat er mit Fiona Rachel Fischer den Künstler Mario Steigerwald vor die Kamera geholt. Entstanden ist das beeindruckende Porträt eines Menschen, dem Kunst ein Mittel zur Lebensbewältigung ist (siehe die Review). stefe hat den beiden angeboten, ausführlich über das Zustandekommen und die ungewöhnliche Zusammenarbeit zu berichten. Die Antworten bieten eine spannende Lektüre, die einen ungewohnten Einblick in dokumentarisches Filmschaffen gibt und die zeigt, dass qualifizierte filmische Dokumentation deutlich mehr ist, als nur hingehen, die Kamera draufhalten, Mäuschen spielen, die Leute plappern lassen und so zu tun, als ob man nicht dabei sei.

Frage 1: Was war die Geschichte dieses Filmes von der ersten Idee bis zur ersten Klappe?

Fiona: Auch wenn unser Protagonist da jetzt laut protestieren würde: am Anfang dieses Filmes standen einige Zufälle. Ich habe zufällig gerade ein Artikelthema für die Süddeutsche Zeitung gesucht, als Mario Steigerwald in einer Ausstellungsankündigung in einem Nebensatz erwähnte, dass er vor vielen Jahren aus Uruguay geflohen und gefoltert worden sei. Ich kannte ihn zu diesem Zeitpunkt zufällig gerade so gut genug, um einfach einmal unbefangen nachzufragen und er war zufälligerweise gewillt, mit mir darüber zu sprechen. Daraus durfte ich dann ein Porträt für die SZ schreiben, das wirklich viel ins Rollen gebracht hat. Zufällig? Nach dem Artikel hatte ich das Gefühl, dass da eigentlich noch viel mehr gewesen wäre, und dass man die Geschichte von Mario selbst hören, ihn dabei sehen müsste, um sie wirklich zu verstehen. So entstand die Idee, daraus einen Film zu machen, so entstand schlussendlich „Marios Destino“, was übersetzt Marios Schicksal heißt. Unser Protagonist glaubt nämlich nicht an Zufälle und gerade bei dem Film ist er sich sicher, dass all das Schicksal war. Und so unsicher bin ich mir da inzwischen auch nicht mehr.

Nicolas: Ob man es jetzt Fügung oder Glück nennen mag, Fiona und ich haben uns als Produktions-Duo bei unserem ersten gemeinsamen Film perfekt ergänzt. Uns kam ihr Organisationstalent und ihre strukturierte Herangehensweise an den Film sehr zugute, während mir meine technischen und dramaturgischen Erfahrungen aus dem Bereich Spielfilm einen frischen Blick ermöglicht haben.
Marios Destino ist Fionas Debüt als Filmregisseurin, dafür bin ich das erste Mal als Director of Photography bei einem Dokumentarfilm in Erscheinung getreten. Fionas journalistische und gestalterische Neugier, ihr psychologisches Feingefühl und natürlich die gesellschaftliche Relevanz rund um Marios Geschichte waren der Motor für den Film und haben uns motiviert, zwei Jahre lang an dem Projekt zu arbeiten. Dabei haben wir natürlich auch noch mit ein paar Menschen zusammengearbeitet: Wir hatten vier wunderbare Videograph*innen, die mich als Director of Photography bei der Bildgestaltung unterstützt haben – Elisabeth Neugebauer und Julian Sonntag sowie Johannes Ziegler und Dominic Euringer, die sich respektive auch um Beleuchtung und Ton gekümmert haben. Später hat dann noch Jasper Müller den Aufnahmen durch ein tolles Grading den letzten Schliff verpasst.
Marios Destino war außerdem ein wundervolles Projekt, um im Zuge unserer filmischen Arbeit die Strukturen meiner Produktionsfirma MindNC Productions weiter auszubauen und das Thema Finanzierung durch Fördermittel in Angriff zu nehmen. Wir sind dem JFF – dem Institut für Medienpädagogik – und auch der Pazz GmbH, der Plattform für Filmschaffende, sehr dankbar, dass sie uns jeweils mit einer Förderung unterstützt haben. Ganz ohne Budget kann man einfach keinen 70-minütigen Film auf die Beine stellen.

Fiona: Wir wollten einen Film machen, der über Marios Geschichte hinausgeht und zeigt, wie wertvoll geflüchtete Menschen für unsere Gesellschaft sind, dass sie aber gleichzeitig ein ziemliches Päckchen an traumatischen Erinnerungen zu tragen haben, das man aber im Alltag nicht unbedingt sieht. Gerade in der heutigen Zeit, mit dem wachsenden gegenseitigen Unverständnis in der Gesellschaft, erschien uns das als ein essenzielles Thema und das haben unsere Förderer schönerweise genauso gesehen.

Nicolas: Wir haben nach und nach ein Team aus talentierten Mitstreitern geformt, deren Unterstützung und Motivation ausschlaggebend für den Erfolg des Films waren. Im Kamera-Department waren wir eben an manchen Drehtagen zu fünft. Das hat es uns ermöglicht, jede Nuance von Marios emotionaler Erzählung einzufangen und gleichzeitig genug B-Roll zu filmen, dass wir ein buntes Sammelsurium an Schnittbildern hatten. Da Mario keine Aussage auf dieselbe Weise wiederholt hat, sondern seinen Gedanken – wenn man so will – immer eine neue Farbe und Form gegeben hat, war es umso wichtiger, dass alle Passagen aus verschiedenen Perspektiven im Kasten waren.

Fiona: Gerade weil Mario so ein ausdruckstarker, darin fast eigensinniger Charakter ist, war es mir in der Inszenierung besonders wichtig, ihm dafür einen geeigneten Raum zu geben. Er sollte exponiert und gleichzeitig geborgen sein, an einem Ort, der mit seiner Geschichte zusammenhängt. Nach einigem Überlegen fiel die Wahl auf die Bühne des Pepper Theaters des Kulturbunt Neuperlach, wo Mario schon öfters aufgetreten ist und dabei sehr viel über seinen künstlerischen Ausdruck entdeckt hat, also ein Ort, wo er ganz unbewusst schon mit seinem Trauma zu tun gehabt hatte. Dort konnten wir einerseits eine intime und nahe Interviewsituation aufbauen, die unglaublich nah an Mario und seine Geschichte herankommt – auch von den Kameraeinstellungen her. Das schwarze Setting der Bühne hat dazu auch ganz toll gepasst, weil das viel Platz für Imagination lässt und sich Mario vor dem dunklen Hintergrund richtig in die Netzhaut der Zuschauenden brennt. Dazu wollte ich dann noch eine ganz weite Totale, die den ganzen Bühnenraum umfasst, damit wir wirklich alles einfangen können, was vielleicht unerwartet im Affekt des Moments passiert. Außerdem war es mir wichtig, im Kontrast zu der Nähe der anderen Kameraeinstellungen auch radikal auf Distanz gehen zu können und in dieser Totale auch die Interviewsituation mit allen Kameras und Lichtern zeigen zu können, um auch einmal mit der Sympathie zu brechen und etwas nüchterner von außen auf diese sehr subjektiv erzählte Geschichte schauen zu können.

Nicolas: Das große Problem schon zu Anfang der Konzeptphase war, dass wir nicht eben mal nach Uruguay fliegen und die passenden Impressionen einfangen konnten. Und Fotos hat Mario aus seiner Zeit dort auch nicht nach Europa mitgenommen. Seine traumatischen Erlebnisse hätten wir also nur sehr limitiert in Bilder gießen können und KI-Erzeugnisse oder nüchternes Stock-Footage-Material hätten die Authentizität der Geschichte aktiv gesenkt. Ich denke, wir haben das einzig Richtige getan und sein Seelenleben und seine dunklen Erinnerungen als verdrängt und schwer zugänglich gezeigt. Ich habe an einem Abend im Import Export, in dem Mario des Öfteren verkehrt und auch auftritt, bunte Lichter und Nebelschwaden in einem Club-Setting aufgenommen. Die Rauchszenen haben aus unserer Sicht hervorragend als unterbewusste, psychische Bilder funktioniert und haben die visuelle Lücke mit der in der Erinnerung parallelisiert. Marios Erlebnisse entziehen sich dem Publikum so visuell und geben der eigenen Vorstellungskraft Raum, was das Ganze viel eindrücklicher macht
Da waren wir auch durch Der Weiße Hai inspiriert, in dem ja den Großteil des Films höchstens suggestive Elemente von der Bedrohung aus dem Meer zu sehen sind, die gerade dadurch viel stärker wirken.

Frage 2: Was war die Produktions- und Postproduktionsgeschichte von der ersten Klappe bis zur Premiere?

Fiona: Diese Aufnahmen von dem Brainfog, wie ich es gerne nenne, sind im Import/Export entstanden, wo auch unser erster Drehtag war. Wir haben Mario da bei einem Auftritt begleitet, seinem ersten Auftritt als Autor in der Öffentlichkeit, und sind an anderen Drehtagen in seinen Ateliers gewesen, bei weiteren Performances und auch auf der Jagd nach Motiven, die sich Streetphotography nennt. Das große Interview im Pepper Theater war der wichtigste Drehtag, bis dahin musste alles stehen, auch die Interviews mit seinen Freunden und Künstlerkolleg:innen, weil wir ihm die auch über einen Beamer vorgespielt haben, um eine dialogartige Metaebene einzubauen und mit Film im Film zu spielen. Denn hier kommen verschiedene Erinnerungen zusammen, hier prallen Wahrnehmungen aufeinander, Subjektivität in ihrer Reinform, die objektiv werden möchte. Daraus ist natürlich unglaublich viel Material entstanden: Mario hat viel erzählt und ist sehr tief in seine verdrängten Erinnerungen hinabgestiegen. Da war es wichtig in jedem Interview, ihn erst einmal erzählen zu lassen, was ihn bewegt, und dann nachzufragen. Es waren wirklich Stunden über Stunden an Videomaterial, und das dann auf bis zu fünf verschiedenen Kameras gleichzeitig. Man muss also sagen, dass der Film erst in der Montage seine Form angenommen hat. Wir haben die vielen Aufnahmen gesichtet und Aussagen, Anekdoten, Gedanken und Erinnerungen einzeln herausgepickt, die das große Ganze erzählen. Die Dramaturgie der richtigen Reihenfolge war an dieser Stelle besonders wichtig: nicht gleich alles erzählen, sondern auch einmal eine Frage offen halten, Widersprüche zulassen, entgegen der Chronologie arbeiten. Denn auch traumatisierte Gedächtnisse funktionieren nicht linear, sondern blitzartig, sprunghaft und mit Lücken. Das war uns auch bei der Montage wichtig, diesen Prozess des Erinnerns erzählerisch zu begleiten und durch den Schnitt dazustellen.

Nicolas: Ich fand die Herangehensweise im Schnitt wahnsinnig spannend und neu, da mein Fokus bei vorherigen Projekten eher auf Spielfilm-Regie lag. Da ist man es natürlich gewohnt, minutiös die einzelnen Einstellungen in einer Shotlist oder einem Storyboard zu planen, um im Schnitt möglichst wenig Überraschungen zu haben. Nun war es so, dass es hunderttausende von Möglichkeiten gab, den Film zu erzählen und den narrativen Fokus auf diese oder jene Erlebnisse in Marios Leben zu lenken. Das hat verschiedene Schnittversionen mal schwerer, mal luftiger gemacht und wir haben wirklich lange daran gearbeitet, bis wir mit der finalen Version die Balance erreicht haben, mit der wir zufrieden waren.
Ich denke, unsere Leistung im Schnitt liegt darin, dass weder Marios traumatisches Schicksal und die damit verbundenen Folgen noch sein und kraftvolles Künstlerdasein zu kurz kommen. Wir haben den Final Cut um einige künstlerische, kontemplative Mood Shots ergänzt und das hat ihn visuell abwechslungs- und spannungsreicher gemacht. Das war für mich nebenbei eine ganz interessante Erkenntnis, dass ein Film genug Außenaufnahmen braucht, um nicht zu beklemmend zu wirken.

Fiona: Ein besonderer Fokus lag für mich auch auf der Musik: sie sollte einerseits die Gefühle der Erzählung transportieren und andererseits durch gezielte Momente der Stille das Ringen um Orientierung zeigen, das unser Protagonist in seinem Prozess des Erinnerns durchgemacht hat. Von Anfang an habe ich mir außerdem ganz bestimmte Gitarrenklänge gewünscht, die das Südamerika der Erinnerungen in die Aufarbeitung von heute bringen. Unser Komponist Daniele Volcan hat da einen Score geschaffen, der mir immer wieder selbst Gänsehaut gemacht hat, wenn ich in der Postproduktion vor dem Film saß. Er hat es wirklich wahnsinnig gut geschafft, Emotionalität aufzubauen, ohne zu rührselig zu sein oder dem Publikum diese Emotionen aufzudrücken.

Frage 3: Wo wird man den Film sehen können, was gedenkt Ihr mit ihm zu tun und was habt Ihr, jeder für sich, für spruchreife (oder nicht so spruchreife) Pläne?

Fiona: Nach ein paar Kinoaufführungen sind wir gerade im Gespräch mit weiteren Kinos, konkret geplant ist schon ein Screening des Films am 30. Januar um 20:00 im Lichtspielhaus Fürstenfeldbruck. Danach soll es auch eine Podiumsdiskussion dazu geben, wie Kunst als Heilmittel für persönliche, aber auch gesellschaftliche Traumata wirken kann. Das ist ja auch ein Kernthema unseres Films!

Nick: Wir werden sehr viel dafür tun, dass Marios Destino nach der Kino-Tour auf einer oder mehreren Streaming-Plattformen verfügbar ist und wir damit nochmal ein größeres Publikum mit dem Film erreichen. Parallel baue ich momentan meine Produktionsfirma MindNC Productions stark aus und schaue, welches gesellschaftlich relevante, interessante Thema das Zeug zum nächsten, künstlerisch anspruchsvollen Dokumentarfilm hat.

Fiona: Ansonsten schweben mir auch noch Vorführungen von „Marios Destino“ in einem künstlerischeren Kontext vor, zum Beispiel mit Ausstellungen oder literarischen Lesungen, oder aber eingebunden in Installationen mit Video. Wenn es da konkrete Termine gibt, findet man das immer als erstes auf dem Instagram-Account des Films, auf marios destino film. Und die Kinovorführungen natürlich auch! Neben diesen Veranstaltungen konzentriere ich mich gerade selbst auf das Schreiben, von Artikeln, von literarischen Formen und brainstorme nebenbei schon an der nächsten Filmidee.

Marios Destino

Künstlertum

Ende Oktober stellten Fiona Rachel Fischer und Nicolas Cassardt ihre gemeinsame Dokumentation über den Künstler Mario Steigerwald in einer Sonntagsmatinee im Kino Neues Maxim in München vor. Siehe auch das Interview mit den beiden, das morgen um 11 Uhr an dieser Stelle online geht, eine empfehlenswerte Wochenendlektüre!

Die Kooperation von Filmmensch und Journalismusmensch hat gefruchtet.

Das Motto, dem Film vorangestellt, bezieht sich auf den Lidschlag, den Augenblick, es weist auf Momente hin, die dem Menschen unauslöschlich im Gedächtnis bleiben.

Dreh- und Angelpunkt des Films ist der zentrale Schmerz des Protagonisten, ein doppelter Schmerz. Darüber spricht der Künstler in einer theatralen Installation, die auch die Dokusituation offenlegt. Er sitzt vor Schwarzwand auf einer Bühne, um ihn herum in engem Kreis ein Team von fast einem halben Dutzend Menschen, die meisten mit Kamera. Hier soll er über seine tiefsten Dinge sprechen. Ein Akt, der Überwindung kostet, der aber auch mit einem Befreiungsgefühl belohnt wird.

Da ist der Schmerz aus dem Elternhaus. Das Wort Eltern nimmt Mario kaum in den Mund. Er nennt sie nur eiskalt seine Erzeuger. Keine Herzlichkeit, keine Wärme, nur Eingesperrtsein.

Mario Steigerwald ist in Uruguay aufgewachsen. 1973 gibt es dort einen Staatsstreich mit nachfolgender Militärdiktatur. Da Steigerwald mit Flugblattaktionen die Tupamaros unterstützt, wird er verhaftet, gefoltert.

Über sein Elternhaus und auch deren deutschen Namen ist kaum was zu erfahren, lediglich, dass sein Vater ihm nach der Haftentlassung ein Flugticket zu einer Tante in der Schweiz organisiert hat und einen Pass für einen dreimonatigen Aufenthalt. Der ‚Erzeuger‘ hatte gnadenlos kein Rückticket organisiert. Abschiebung.

Der Film steht im Kreuz mehrer starker Fäden. Es sind dies die Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gab es Auswanderungsbewegungen nach Lateinamerika. Nach dem zweiten Weltkrieg waren lateinamerikanische Staaten oft ein sicherer Hafen für gesuchte Naziverbrecher, ein Thema, was auch das Kino immer wieder beschäftigt, zuletzt mit einem Schwarz-Weiß-Massenmörder-Film, der die Gräueltaten in Farbe zeigt. Speziell bekannt ist die Beziehung zwischen Bayerns Franz Josef Strauß und der chilenischen Diktatur.

Weniger im öffentlichen Bewusstsein dagegen ist, dass es in München eine starke Latinogemeinde gibt, die vermutlich im Vergleich zu ihrem Gewicht weit unter dem Radar fliegt. Hier schließt der Film eine Lücke, hier macht er auf einen Immigrantenkünstler aufmerksam.

Mario Steigerwald ist ein innerlich getriebener Künstler, getrieben von seinem Schmerz, der teils im Bewusstsein ist, teils in einem Koffer verschlossen, Traumata. Ein Künstler, der Spuren hinterlassen möchte, der sich als Sozialarbeiter für die Jugend einsetzt; sein Helfersyndrom, wie er selber meint. Ein Künstler, der seiner Tochter all die Liebe geben wollte, die er nicht erhalten hat. Seine Tochter ist eine von den wenigen und angenehm spar- und behutsam eingesetzten Talking Heads. So wie sie über ihren Vater redet, kann man sich gut vorstellen, dass er ein Stück seines Traumas unwillkürlich an sie weitergegeben hat.

Mario Steigerwald ist ein Künstler, den nicht der Markt interessiert, nicht das Branding, nicht die Berühmtheit, nicht die Geldmacherei. Obwohl man ihm ansieht nach dem Screening, dass die Aufmerksamkeit des Publikums Balsam für ihn sein muss. Er hat ein paar Werke von sich in einer Ledermappe dabei. Die können die Leute nachher anschauen, anfassen, aber verkaufen möchte er sie nicht.

Da ist er, der Künstler aus Neuperlach, der schon auf der Kleinkunstbühne Pepper gestanden hat mit einem sehr persönlichen Stück. Es ist ein Künstlerfilm, wie er sich angenehm abhebt vom großen Anschwall der Biopics und Künstlerbiographien von lauter berühmten Leuten, die oft nur dem Marketing dienen (zuletzt Bruce Springsteen, Spielfilm). Vielleicht am ehesten noch in der Nähe von der Doku Mona Mour zu sehen.

Vor allem sollten die Redakteure der BR-Lebenslinien sich diesen Film anschauen, der ja auch eine Art Lebenslinie darstellt, noch dazu von einem Künstler mitten in Bayern, mitten aus der Subkultur, und sich Impulse für eine Revitalisierung des arg arthritisch und viel zu oft promipusselig gewordenen Formates zu holen. Man stelle sich vor, Fischer und Cassardt hätten der Versuch gestartet, mit Mario Steigerwald frühere Wohnungen oder Schulen von ihm zu besuchen, das wäre doch absolut lächerlich, da er so viel Anderes, Interessanteres und Tieferes zu sagen hat.

Ein Thema von ihm sind die kleinen Unebenheiten, die den Mobiles, die er gerne baut, erst die Bewegung ermöglichen. Die musikalische Untermalung halten die Filmemacher angenehm diskret im Hintergrund mit leichtem Saitenzupfen und Sound dazu. Und nicht zu vergessen: Mario Steigerwald ist selbst ein passionierter Fotograf. Es gibt Aufnahmen von der zarten Angela, die bestimmt jeder schon mal im Unter- oder Zwischengeschoss von Marienplatz oder Stachus gesehen hat, wie sie gebückt einfach dasteht. Wie bei vielen anderen Künstlern, kommt auch bei ihm eines Tages die Frage, was wichtiger sei, die Kunst oder die Familie … ein eigenes Atelier, das ist schon was.

Kommentar zu den Reviews vom 13. November 2025

Der Lockruf des Kinos ist unüberhörbar. Lerne kennen, wie Kino zu reiner Lyrik werden kann. Schau zu, wie Sinnlichkeit gegen die Lebensroutine aufbegehrt. Halte den Atem an, wenn ein zorniger, junger Mann das Leben für seine Familie riskiert. Lass Dich beeindrucken von stark-plakativen Bildern zum Thema Kirche, Krieg und Menschlichkeit. Mach Dich lustig über den Geschenkewahnsinn. Surf wie wild in den Auswuchtungen der B-Movies. Versuche mit Magie, Dich aus einer Genreüberlast zu befreien. Nimm Humor/Zynismus (?) als Munition angesichts von realem Horror und Kriegsgrauen in Nahost. Und gehe als Mann die Wechseljahre mit einem Maximum an Selbstmitleid an. Lass Dich auf DVD mit bester Komik unterhalten oder verführen in eine besonders leichte Architekturwelt. Wappne Dich gegen die Übergriffigkeit des öffentlich-rechtlichen Fernsehen mit Minderqualität von historischem Brei oder Baustellenstaub; aber wende Dich nicht ab, es gibt dort auch Ermutigendes.

Kino
YUNAN
Kino gewordene Lyrik

DIE MY LOVE
Zur Sinnlichkeit geborenen, zur Mutter und Hausfrau geworden

THE RUNNING MAN
Ein angry man, der alles für die Familie tut.

ANEMONE
Kirche und Krieg richten viel Unglück an, aber Versöhnung ist möglich.

DAS PERFEKTE GESCHENK
das kann schnell mal daneben gehen

MAKE ME FEEL
Abtauchen ins Genreparadies

DIE UNFASSBAREN 3
An der Magie der Magie scheinen die Autoren zu zweifeln; deshalb muss zusätzlich Action, ein Diamantenthriller, eine Dynastiestory und ein Nachwuchstrio reingepfercht werden.

YES
Israelischer Nationalismuszynismus

DAS LEBEN DER WÜNSCHE
Mannes Wechseljahrlarmoyanz

DVD
DIE NACKTE KANONE
Funktioniert aus Prinzip und erst recht mit der neuen Besetzung mit einem Actionstar

SEP RUF – ARCHITEKT DER MODERNE
Gemeint ist die Bonner Bundeskanzler-Bungalow-Moderne

TV
NÜRNBERG ’45 – IM ANGESICHT DES BÖSEN
TV-Historien-Brei

LEBENSLINIEN – DER KAMPF UM MEINE WÜRDE
Porträt einer Kämpferin

DIE WÜRZBURGER FESTUNG – HERZSCHLAG EINER BAUSTELLE
Pulsierend wie Bauschutt

The Running Man

Alles für die Familie

Nein, Ben Richards (Glen Powell) will die Welt nicht verändern. Er hat nur das Wohl seiner Familie im Auge. Allerdings ist er ein widersprüchlicher Charater, unbequem, er ist ein angry man, handelt uneigennützig – so mögen sich viele mit ihm identifizieren, ob sie selbst nun so sind oder nicht. Er verliert dadurch dauernd seine Jobs, weil er kein Opportunist und kein Karrierist ist. Das wirkt sich negativ auf das Haushaltseinkommen aus.

Dass Bens Frau (Emilia Jones) in einer Nachtbar arbeitet, passt ihm auch nicht. Dort gibt es wenigstens gutes Trinkgeld. Das Töchterchen der beiden ist krank. Die Eltern brauchen Geld für Medikamente und für gute Ärzte. Geldnot.

Der Film von Edgar Wright (Last Night in Soho, The Sparks Brothers), der mit Michael Bacall auch das Drehbuch nach Stephen King geschrieben hat, baut viel TV-Show-Footage ein, selbstverständlich brillant geschnitten.

Es laufen Spielshows. Bekannte Ratespiele und auch das Millionenspiel – wie eine Verfilmung desselben Stoffes in Deutschland durch Tom Toelle vor Jahren hieß. Es ist inzwischen zum Milliardenspiel geworden.

Bei den Ratespielen kann man mal 50 oder 70 oder auch ein paar hundert Dollar gewinnen. Beim ‚Running Man‘ aber stellt der veranstaltende Fernsehsender eine Milliarde in Aussicht. Der geneigte Zuschauer wird bald erfahren, dass die nie ausbezahlt werden, da die Kandidaten meist längst vor den 30 Tagen schon tot oder vom Sender anderswie ausgetrickst worden sind.

Ein ausführliches Casting, auch sowas setzt Edgar Wright billant in Szene, sucht drei Menschen aus. Sie bekommen einen Vorsprung und werden dann von Profikillern gejagt, die von sogenannten RoverCams, also fliegenden Robotern, unterstützt werden.

Das Ganze ist ein landesweites, riesiges TV-Spektakel in Anlehnung an die Spiele im Alten Rom, wo es auch um Leben und Tod geht. Es beschert dem Sender Traumquoten. Alles macht mit, wer einen Kandidaten entdeckt und dem Sender meldet, kann Geld bekommen. Menschenjagd im großen Stil.

Der Kino-Zuschauer bekommt für sein Eintrittsgeld ein prima gearbeitetes Kinospektakel, das nicht mit Medienkritik spart, das einen spannenden Hauptdarsteller hat und eine abwechslungsreiche Mischung aus Jägern und Verrätern einerseits und ulkigen bis seltsamen bis raffinierten Unterstützern andererseits, was zu einem atemlosen zweieinviertelstündigen Hit-and-RunFilm verknüpft wird. Das ist alles nicht neu und in x Varianten schon verfilmt, aber neu und frisch und zeitgemäß aufgetischt.

Anemone

Kirche und Krieg

sind zerstörerisch, das ist die pathetische, drastische und unüberhörbare Message dieses Filmes von Ronan Day-Lews, der mit Daniel-Day-Lews auch das Drehbuch geschrieben hat. Aber nicht nur. Es gibt noch den Glauben. Man kann der Herrn direkt anprechen. Und Versöhnung, ein Wieder-Zueinander-Finden ist möglich.

Der Sünder, das schwarze Schaf, der verlorene, wenn nicht Sohn, so doch Vater, ist Ray (Daniel Day-Lewis). Der haust seit 20 Jahren tief im Wald im britischen Hügelland.

Der Film erzählt es anders, fragmentarischer. Er fängt bei seinem Bruder (das weiß man zu dem Zeitpunkt auch noch nicht) Jem (Sean Bean) an. Der wohnt mit Nessa (Samantha Morton) und dem 20-jährigen Brian (Samuel Bottomly) in Sheffield. Er macht sich auf zu einer offensichtlich abenteuerlichen und geheimen Mission. Sein Aufbruch erinnert an Killer- und Agentenfilme.

Der Film ist so erzählt, dass jedes Schreiben darüber in Spoilerei ausartet. Wer sich also mit Jem auf Abenteuerreise begeben will, der sollte Reviews erst nachher lesen. Zudem ist die Erzählweise, gerade zu Beginn, kleckshaft im Sinne der Spannungserhöhung.

Es dauert bis sich herausschält, wer die Protagonsten sind und bis ihre Gesichter zu sehen sind. Informationen darüber, was der Film erzählen will, rückt er nur bruchstückhaft raus. Vielleicht ein Mittel, den Zuschauer die Message selber nachformulieren zu lassen.

Es dauert, bis erste Worte fallen. Ein schwer zu identifizierbarer Gegenstand, den Jem Ray mitbringt, wird mit dem Kommentar „ Erbe“ auf den Tisch gelegt, ein Metallstück, mit dem man ein Klackgeräusch machen kann.

Das Erbe der beiden Brüder ist nicht großartig. Ein gewalttätiger Vater. Aber vor Jem haben sie alle Respekt gehabt. Vor Ray weniger. Bei der Wiederbegegnung der beiden Brüder im Wald wirft Jem die Bemerkung ein, Pater Sowieso sei gestorben. Das ist das Entree für eine der plakativ herausgehobenen Szenen: Ray schildert wie er sich am ihm gerächt habe für Dinge, die er ihm angetan hat – nichts für zarte Gemüter.

Der Krieg der IRA in Nordirland findet Erwähnung, dazu gibt es drastische, emblematische Illustrationen. Es geht um ein Kriegsverbrechen, das Ray begangen habe.

Zwischendrin schaut der Film wieder nach Sheffield rüber zu Nessa, die ihrem Sohn Brian Geständnisse macht und sich entschuldigt, dass sie ihn vor Wahrheiten beschützen wollte und versucht, die Sache mit dem verschwundenen Vater zu erklären.

Gerne werden Bilder pointiert ausgestellt, ob es eine Location ist, ein Lagerfeuer, die Protagonisten oder auch die titelgebenden Anemonen könnten symbolträchtiger kaum auf die Leinwand gebracht werden. Auch zu theatralischen Mitteln wie einem Hagelsturm wird zurückgegriffen.

Die Unfassbaren 3

Magie braucht Erzählung

Sie ist Teil des Tricks des Magiers, sie baut Spannung auf und sie dient der Ablenkung vom realen Vorgang des Tricks, die Erzählung als Vorbereitung und gleichzeitig Ablenkung.

Die ‚Reiter‘ sind die besten Magier der Welt und die Protagonisten dieser fiktionalen Filmreihe. Das mit der Erzählung und der Magie scheint die Autoren dieser dritten Folge aber wenig zu scheren (laut IMDb sind es Seth Grahame-Smith, Michael Lesslie und Rhett Reese). Sie scheinen es darauf abgesehen zu haben, so viel Zauberei wie möglich in einen Film zu packen mit schier enzyklopädischem Ehrgeiz.

Das reicht den Autoren nicht, sie haben die Ambition, das Prinzip der Erzählung umzukehren: den Haupttrick des Filmes verraten sie erst ganz am Schluss, was, soll hier nicht gespoilert werden, also ein magischer Trick, dessen Erzählung erst am Ende, wenn alles vorbei ist, verraten wird. Hm.

Dem Zuschauer wird das Hauptvergnügen an der Magie, nämlich die Neugier, ob ein Trick gelingt, vorenthalten. Stattdessen wird er mit einer Fülle an Tricks hingehalten. Und, das dürften die Autoren instinktiv gespürt haben, das ist dünn.

Also bringen sie ein zusätzlich belebendes Element in das Gefüge der Reiter, indem sie drei Nachwuchsmagier auffahren. Diese werden professionell und unterhaltsam eingeführt. Aber: an der Tragfähigkeit dieser Idee scheinen die Autoren ebenfalls ihre Zweifel zu haben.

Also muss noch eine eine kriminelle Industriellengeschichte reingeworgt werden. Die südafrikanische Diamantendynastie Vandenberberg plant eine neue Mine und braucht dafür Investoren. Chef des Clans ist Veronika Vanderberg (Rosamund Pike). Für eine Trade-Show in Antwerpen lässt sie den teuersten Diamanten, den die Familie besitzt, nach Antwerpen bringen.

Das Magier-Genre räubert im Diamanten-Thriller. Ach, herrjemineh, man möchte nicht Ruben Fleischer sein, der bei diesem Mix Regie führen musste/durfte, denn auch die Formel 1 und Dubai werden von den Autoren noch bemüht.

Hinter diesem Diamanten sind die Reiter samt Nachwuchs hinterher, quälen sich durch sämtliche von den Drehbuchschreibern irgendwo zusammengeschusterten und -geflunkerten Trick-, Befreiungs- und Verfolgungssituationen, denn das Actiongenre wird auch noch gefleddert.

Die Chose wirkt dadurch heillos overloaded. Was einen entschädigt, das sind die Akteure. Sie kommen gut rüber, sie fesseln, sie sind sympathisch und glaubwürdig: Jesse Eisenberg, Woody Harrelson, Dave Franco, Isla Fisher, Dominic Sessa, Justice Smith, Morgan Freeman, Ariana Greenblatt und wie schon erwähnt Rosamund Pike.

Yes

Exzesse der Dekadenz auf den Schaumkrönchen des Irrsinns

Mit dem Irrsinn ist der politische Rahmen dieses Filmes von Nadav Lapid (Synonymes) abgesteckt: der Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 einerseits und die Vergeltung Israels in Gaza, mittlerweile über zwei Jahre lang, der Begriff des Genozids wird immer öfter damit in Zusammenhang verwendet, andererseits.

Mit dem Schaumkrönchen auf diesen zwei Irrsinnen ist die sorglose Society in Tel Aviv gemeint, die feiert, als gebe es kein Morgen, die nicht genug bekommt von Dekadenz, als ob sie mit Salo von Paolo Pasolini wetteifere. Es ist ein Tanz auf dem Vulkan oder vielleicht auch auf der Titanic, die Nadav Lapid im ersten Kapitel seines Filmes extensiv, gleichzeitig schrill und plakativ schildert.

Mittendrin ist der Pianist Y. (Ariel Bronz) mit dem blond gefärbten, kurzen Haar. Er ist mehr als nur Pianist, ein Entertainer, der auch mal mit einer Gans auf der Schulter auftritt. Der gibt mit Yasmin (Efrat Dor) ein strahlendes ViP-Paar ab. Sie haben ein Baby. Sie leben so gedankenlos wie die Gesellschaft um sie herum.

Die eingestreuten News vom 7. Oktober oder aus Palästina wirken eher wie würzende Beilagen. Sorgen macht sich keiner. Den ganz großen Erfolg scheint das Entertainerpaar nicht zu haben. Sie arbeitet in einem Gym und kämpft dort um das ihr zustehende Geld. Er ist auf der Suche nach einem Durchbruchshit. Schon in diesem Teil fällt ihm ein nationalistisch-israelischer Text in die Hände, der zur Vernichtung der Palästinenser aufruft.

Dass mit dem Paar nicht alles zum Besten steht, offenbart der Film im zweiten Teil. Dieser schickt Y. in die Wüste. Erst entspannt er in einem Spa am Toten Meer. Er trifft auf Leah (Naama Preis). Die hat er jahrelang nicht gesehen. Man verbringt einige Zeit zusammen.

Überraschend für den Zuschauer kommt an den Tag, dass sie seine große Liebe gewesen ist; eine solche würde man ihm nach seiner bisherigen Performance gar nicht zutrauen und vor allem: diese Liebe scheint immer noch zu glühen. Dadurch, dass sie vollkommen unvorbereitet in den Film eingeführt wird, wirkt sie klischeehaft und auch, wie sie wieder auflebt.

Aber der Film hat anderes mit Leah vor: er setzt sie dafür ein, ausgiebig die Grausamkeit des 7. Oktobers zu schildern. Der Film versucht aber alle Seiten zufriedenzustellen. Er weist in Dialogen immer wieder auf den problematischen Einsatz des Militärs in Gaza hin, er bringt Berichte über vernichtende, israelische Aktionen oder er lässt eine Yasmin ihrem Kind wünschen, dass es nie zur Armee gehen werde und in Europa aufwachse.

Somit wird der Film zum Spiegel einer tiefen Verunsicherung in Israel selbst über seinen jetzigen Zustand. Dazu passt, dass Y. sich zusehends als schwacher, opportunistischer Charakter herausschält.

Einen kunstgeschichtlichen Hinweis hat der Film parat mit dem Zitat von Georg Grosz und seiner Karikatur „Die Säulen der Gesellschaft“ – dort geht es um das Nachkriegs-Deutschland.

Es ist ein Film, der von einer durchgeschüttelten Gesellschaft erzählt; der vielleicht versucht, überhaupt sich klar zu machen, was abgeht in diesem Land, ohne eingreifen zu wollen, ohne ein Agit-Prop-Film sein zu wollen; ein Stück weit sicher selbstkritisch, was die feine Gesellschaft angeht, aber eben nicht nur.

Der Film selbst scheint in einer ihm kritisch erscheinenden Situation zu versuchen, die Balance zu halten. Das dürfte kein Vorteil für seine Rezeption außerhalb des Krisengebietes sein, außer vielleicht für Leute, die ein spezielles Interesse an der Region haben und wie sie versucht, sich selbst darzustellen. Wobei auch hier möglicherweise nicht außer Acht gelassen wurde, wie die vielfältigen Koproduzenten aus Europa das Land gerne sehen möchten; aber auch Israel muss ja als Produktionsland eingebunden sein und einverstanden mit seiner Darstellung.

Die My Love

Vom Grundwiderspruch in der Liebe
oder von den zwei Seiten einer Medaille

Liebe ist, wenn sie neu ist, prickelnd und aufregend und beseligend, zu schweigen von den Schmetterlingen im Bauch und all den Glücksgefühlen, die nicht nur der Sex selber, sondern auch die Erwartung darauf oder die Erinnerung daran bringt.

Grace (Jennifer Lawrence) und Jackson (Robert Pattinson) sind ein glückliches, verliebtes Paar. Sie möchten am liebsten ewig zusammen sein. Grace ist sexy und liebt den Sex und Jackson ebenso.

Der Film von Lynne Ramsay, die auch das Drehbuch mit Alice Birch nach dem Roman von Ariana Harwicz geschrieben hat, schildert das junge Glück in einer langen, einführenden Szene, wie das Paar ein geräumiges, leeres Haus auf dem Lande besichtigt – später werden wir von einer Autonummer auf den Garden State New York schließen dürfen.

Vielleicht fängt die andere Seite dieses Glücks mit dessen höchsten Moment an, mit der Geburt eines Kindes und damit, dass Jackson weiterhin arbeitet und Grace, die sinnliche, allein zuhause bleibt. Sie lässt nicht alles mit sich und ihrem Kind machen. Das zeigt eine Szene in einem Supermarkt, wie die Verkäuferin drauflos plappert und Grace gar nicht erfreut ist.

Grace träumt weiter von wildem Sex, sie hat dazu auch Fantasiefiguren; Jackson aber kauft stattdessen einen Hund. Der nervt.

Den Film machen nicht nur seine prima ausgewählten und geführten Darsteller attaktiv, auch das beinah quadratische Format verleiht ihm etwas Apartes, die Bildausschnitte, das Mittel, sehr oft im Zwielicht zu drehen (Nacht am Tag). Grace allein unterwegs in der Gegend.

Und da sind auch noch Graces Schwiegereltern Harry (Nick Nolte) und Pam (Sissy Spacek). Harry ist zittrig und Pam pflegt mit einem Gewehr in der Hand in der dünn besiedelten Gegend nachtzuwandeln.

Auch Grace ist mal mit einem Messer in der Hand so anzutreffen.

Der Film lässt offen, und auch das verleiht ihm einen Reiz, ob Grace an postnataler Depression leidet oder einfach darunter, nur Mutter zu sein, allein in diesem Haus, mit Verwandten und Bekannten, zu denen sie nicht unbedingt das innigste Verhältnis hat. Ihr selbst wird eine unglückliche Kindheit zugeschrieben.

Schön dosiert erhöht die Regisseurin die eskalierenden Konfliktsituationen, in denen Grace, das Vakuum in sich explodieren lässt. Sparsam eingesetzte Rückblenden füllen Informationslücken.

Die Regisseurin ergeht sich darin, diese zwei grundsätzlich gegensätzlichen und sich nicht vertragenden Seiten der Liebe zu schildern, was bei dem Teil der Beziehung, der glaubt den kürzeren zu ziehen, bis in die Psychiatrie führen kann; sie pinselt diese Vorgänge gouachenhaft auf die Leinwand.

Der Film schildert das als logische Folge eines zur Sinnlichkeit geborenen, aber nicht erfüllten Lebens. Er schildert es dicht und bannend. Er berichtet, auch wenn er den Schluss versöhnlich gestaltet, im Gegensatz zum neuen Dracula-Film von Luc Besson, von der Sterblichkeit der Liebe. Das sagt auch der Titel.

Make Me Feel

Erfrischend undeutsch,

so als ob das deutsche Kino an die Giallo-Tradition oder an die längst vergangene Zeit eines Sigi Götz mit Filmen in den 70ern wie „Griechische Feigen“ anzuknüpfen versucht, als wolle es sich die volle Genre-Dröhnung geben, koste es was es wolle.

Die Grundidee des Buches von Erkan Acar, Timur Örge und Michael David Pate ist einfach. Tito (Erkan Acar) wird bei einem Autounfall so verletzt, dass er nur noch im Koma mit lebensrettenden Massnahmen am Leben erhalten werden kann. Der Unfall ist filmisch knapp abgehandelt. Regie führen Timur Örge und Michael David Pate.

Tito liegt seit einem Jahr in der Klinik, die Ärzte stellen abnehmende Gehirntätigkeit fest. Keine Aussichten auf Besserung. Titos Frau Ella (Charleen Weiss) wird vor die schwierige Entscheidung gestellt, die Maschinen abschalten zu lassen.

Ärztin Sarina (Charlotte Stoiber) hält einen letzten Strohhalm parat. Ihr Vater Dr. Buchenwald (Jürgen J. Straub) hat so ein Experiment schon einmal gemacht. Seither sitzt er im Rollstuhl. Aber die Methode der transneuralen Verbindung stehe kurz vor der Zulassung.

Dabei begibt sich eine vertraute Person in die Träume des Patienten, hier also Ella. Sie wird auf ein Bett neben dem Patienten gelegt und mit Drähten verbunden. Es ist bei derart erfundenen Geschichten immer von Vorteil, wenn sie über eine konkrete Installation Glaubwürdigkeit verpasst bekommen.

Tatsächlich funktioniert das auf Anhieb mit dem ersten Traumtauchgang, insofern als Ella in eine Mafiawelt, das ist direkter Giallo!, eintaucht und dort eine Rolle spielt, während Tito den Mafia-Boss gibt. Es zeigen sich tatsächlich minimale Wirkungen beim Komapatienten.

Inzwischen kommt Ella dahinter, dass sie ein von Tito geschriebenes Drehbuch erlebt hat. Es gibt eine Menge davon. Hier schwant dem Zuschauer, dass es ein Eintauchen in diverse Drehbücher diverser Genres folgen wird. Tatsächlich: Western, Schwarz-Meer-Türken, Nazizeit und Piratentum stehen an. Da muss man als Filmemacher allerdings mit der Dosierung vorsichtig sein, wenn so ein System kenntlich gemacht ist.

Für den Protagonisten ist es traumhaft und bestimmt ein traumhafter Spaß und auch der Filmemacher dürfte sich begeistert haben wie sein Team. Für den großen Kinoerfolg allerdings gilt nach wie vor die Regel von den Darlings, die es zu killen gilt. Es kann leicht zu viel werden dieser Selbstbegeisterung, bei allem Geschick, was die Macher an den Tag legen, es kommt eine gewisse Absehbarkeit ins Spiel und dadurch ein Gefühl von Länge.

Das perfekte Geschenk

Da hast Du das Geschenk.

Ein Themenfilm. Aber mit Esprit. Wie richtig schenken, vor allem aber, wie umgehen mit Geschenken, die man gar nicht schätzt und was Leuten schenken, die keine Geschenke mögen?

Ein Weihnachtsfilm, der am 22. Dezember mit Last-Minute-Geschenkeinkäufen beginnt und mit einer Familienzusamenführung zur Bescherung am 24. aufhört und der gleichzeitg eine neue Eskalationsstufe im Genre der Holocaustaufarbeitungsfilme erklimmt, wie man sie in Deutschland vermutlich nie sich trauen dürfte, mit dem Schlager „Tochter von Auschwitz, Tochter von Birkenau“ gesungen von der berühmten Sängerin Océane (Vanessa Guide) als gut gemeintes Geschenk für Tante Rivka (Liliane Vorère), einer Auschwitz-Überlebenden; zuerst hatte sich die Sängerin überlegt, ihr „Das Tagebuch der Anne Frank“ zu schenken, aber ihr Macker, ihr Freund Jérôme (Max Boublil) aus der Familie Stein, hat davon abgeraten.

Es gibt die deftigeren und die spitzeren, intellektuelleren Pointen. Oma ist mit dem eher ordinären Attribut des Pupsens und der Gehörlosigkeit ausgestattet. Jemand empfiehlt jedes Jahr den Concourt und die Reaktion ist, das müsse wohl ein schlechter Autor sein, der jedes Jahr dasselbe Buch schreibe.

Es gibt die typischen Weihnachtsfilm-Pointen. Julie Stein (Mélaney Doutey), eine der Töchter von Michel (Gérard Darmon), erhält von ihrem lieben Ehegatten Adrien (Gringe) einen Pullover mit Schulterpolster; sie mag aber nur Pullover ohne. Michel wiederum kauft in der Apotheke nebst seinen Medikamenten wahllos Dinge wie Thermometer, um sie zu verschenken.

In der Ehe von Julie und Adrien kriselt es. Wenn er nicht mitkäme zur Weihnachtsfeier, so behauptet es Julie, würde ihre Mutter (Chantal Lauby) einen Schlaganfall bekommen. Vater Michel wiederum schiebt Panik, er könnte am Weihnachten, wenn er just das Sterbealter seines Vaters erreicht, sterben. Charlotte (Camille Lellouche), die Schwester von Juliette, Jérôme und Charlotte (Camille Lellouche), eine vertrocknete Buchhändlerin und Geschenkehasserin, erhält von ihren Freunden und Kollegen zur überraschenden, unerwünschten Geburtstagsparty nebst diversen Dildos und einem Quietschentchen einen Men-Strip performed von Dan (Tom Leeb).

Der Film von Raphaele Moussafir, der mit Christophe Offenstein die Regie geführt und mit Stéphane Kazandijian auch das Drehbuch geschrieben hat, fängt als austauschbarer, zum einmaligen Gebrauch bestimmter, typischer Weihnachtsfilm an, wie sie jedes Jahr aufs Neue auf die Leinwände schwappen, fügt sich aber überraschend zum Familienfilm.

Aus dem Rummelplatzweihnachten wird die Bekanntschaft mit den verschiedenen Figuren einer Familie, die sich nichts schenkt, wenn man so will, und die als Betroffene der Holocaustaufarbeitung eine neue Farbe und neue Variante des Umgangs verleiht. Eine Familie, die guter Kunde beim Psychiater Di Ferrazzino (Jean-Jacques Vanier) ist, noch so eine bemerkenswerte Figur in diesem charmanten wie skurrilen Familienpanoptikum, das mit Pointen gut bestückt ist.

Go ahead, make my day.