The Woman Who Left

Was sich doch aus der Anregung durch eine Kurzgeschichte von Tolstoi für ein vierstündiger, epischer Schwarz-Weißfilm machen lässt, der einen bannt und das Thema Mensch, Menschlichkeit und Würde in einer seltenen Tiefe, Vielschichtigkeit und Differenziertheit aufschimmern lässt, so dass einem so viele Filme drum herum, die vorgeben sich mit dem Menschentum zu beschäftigen (allen voran deutsche Themenfilme mit erfundenen Menschen), schal und armselig vorkommen und auch vieles an unserem modernen, hektischen Luxusleben. Dem Regisseur und Autor dieses Filmes, Lav Diaz, wollen über 30 Kinos in der Bundesrepublik mit dem Lav Diaz Day Aufmerksamkeit widmen.

Darum geht es: während Hongkong gerade in die chinesische Freiheit entlassen wird, hat Horacia Somorostro (Charo Santos-Concio) bereits 30 Jahre auf den Philippinen unschuldig im Gefängnis gesessen.

Der Film fängt mit der Schilderung des Alltages im Frauenknast an. Es ist im ersten Moment gar nicht klar, dass es sich um einen Knast handelt; die Szenen strahlen Ruhe, ja Geborgenheit aus. Die Frauen arbeiten auf dem Feld, es gibt Bewacher, sie wohnen in großen Schlafräumen mit doppelstöckigen Betten, sie sitzen beisammen und Horacia, die Lehrerin war, versucht den Frauen Bildung beizubringen oder erzählt Geschichten oder sie gehen in die Kirche.

Unverhofft endet diese scheinbare Idylle. Die wahre Täterin für den Mord, für den Horacia fälschlicherweise verurteilt wurde, stellt sich; Horacia kommt frei. Sie kennt den Mann, der ihr das eingebrockt hat. Es ist Rodrigo Trinidad (Michael De Mesa). Der war in sie verliebt, aber sie wollte ihn nicht heiraten. Das hat er nicht ertragen, er wollte sie zerstören.

Heute zelebriert Rodrigo mit großem Gepränge sein glückliches Familienleben. Es gibt im Film eine brillante Schilderung der Gesellschaftstruktur von Cavite in einer leeren Kirche: wer wo sitzt beim Gottesdienst und mit wie vielen Bodyguards, die die wahren Dämonen seien. Eine jener vielen Szenen einfacher Eindringlichkeit und Anschaulichkeit, die die profunde Qualität dieses Filmes ausmachen.

Vorher begleitet der Film Horacia auf dem Weg vom Knast in die Nähe von Rodrigo, der überzeugt ist, ihr Leben zerstört zu haben. Das ist die große Frage im Film, wie geht sie damit um? Selbstjustiz wäre eine naheliegende Antwort oder auch, den gerichtlichen Weg beschreiten. Rache und Gerechtigkeit, Abrechnung?

Horacia entscheidet sich für eine andere Möglichkeit. Sie bleibt unauffällig, so wenig Leute wie möglich sollen erfahren, dass sie frei ist. Sie besucht ihre Tochter, die hat sie zum letzten Mal mit sieben Jahren gesehen. Sie verkauft ein Grundstück und hat etwas Geld. Sie will erfahren, wo ihr Sohn abgeblieben ist.

Aber vorher nähert sie sich dem Unhold Rodrigo auf der der Insel Cavite. Sie nennt sich Renata. Sie verhält sich wie eine Urchristin, nach dem Satz aus Matthäus 11.28 „Kommet her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid…“ , umgibt sich mit den Elenden, den Gestrauchelten, den Benachteiligten, den Obdachlosen, den Randfiguren. Aber sie ist kein Apostel.

Renata kreist in ruhiger Geduld und beobachtend als Kreatur im Dunkeln unerkannt um das prunkvoll ausgestellte, christliche Familienleben ihres Übeltäters. In aufrechter Haltung steht sie da, horcht, schaut, nimmt auf.

Sie sucht das Umfeld zu Rodrigo. Sie macht einen kleinen Imbiss auf, eine Eatery, beschäftigt Leute, beobachtet immer wieder den protzenden Menschen. Sie wirkt wie eine Heilige. Sie ist barmherzig. Eine Mitteilung, die in den Film Eingang findet, ist die, dass Mutter Teresa gestorben sei. Aber sie ist keine Mutter Teresa.

Tatsächlich kauft sie eine Pistole. Sie übt sogar damit. Auch diese Variante wird angedeutet.

Aber nicht aus dem Racheimpuls oder aus einer Bilanz der Gerechtigkeitsbuchhaltung heraus, sondern daraus, wie Renata sich spürbar in der Nähe von Rodrigo aufhält – und nichts dergleichen unternimmt -, bezieht der Film seine enorme Spannung, und wie sie mit diesem schreienden Unrecht, was er ihr angetan hat, umgeht.

Gleichzeitig transportiert er das auch auf den Philippinen brisante Problem der Ungleichheit zwischen Arm und Reich. Renata praktiziert nicht die Idee christlicher Verzeihung.

Der Film lässt sich Zeit für die Entwicklung von Beziehungen zu gesellschaftlichen Randfiguren im Umfeld von Rodrigo. Es sind Outsider wie sie. Der Eierverkäufer (er bietet Balut an) war selber im Knast, musste dort als Sexsklave dienen (von ihrer Gefängnisvergangenheit wird er nicht erfahren; nix mit Me Too), Hollanda (John Lloyd Cruz), der Schwule, ist aus seinem Heimatort geflohen nach hier, wo ihn keiner kennt, wird aber vergewaltigt und wagt es nicht, das zu melden oder eine Frau, die immer wieder epileptische Anfälle hat. Horacia ist für diese Menschen da, greift ihnen unter die Arme. Aber sie spielt nicht die abgehobene Heilige; das ist für sie kein Selbstzweck; es ist eine Selbstverständlichkeit; das macht vielleicht ihre Würde und ihr Geheimnis aus; dass sie durch das Unrecht, das ihr angetan wurde, nicht mechanisch und automatisch auch zur Unrechtstäterin wird, sich vom Hassmechanismus verführen lässt – sie will sich nicht schmücken mit ihren Wohltaten. Sie verfolgt ein anderes Projekt. Es scheint, sie wartet auf eine Lösung der Geschichte mit Rodrigo. Die wird sich überraschend ergeben.

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