Der lange Sommer der Theorie

Geistige Auseinandersetzung auf die Leinwand!

Einer aus einer ganzen Reiher jüngerer, unabhängig produzierter Filme, vornehmlich aus Berlin, die Ausdruck sind einer neuen Generation von Filmemachern, die sich das Denken und Fragen bewahren will, die nicht nach der nächsten Subvention und dem sie befördernden Zugstar und fördergerechten Themen schielen, sondern die eine Position in dieser Welt suchen, eine Position als Mensch, als Künstler, als denkender Filmkünstler, falls das denn kein Widerspruch ist.

Das sind Leute, die wie hier Irene von Alberti, ihre Auseinandersetzung mit der Theorie und der vor ihnen stehenden Lebenspraxis anregend auf die Leinwand tragen.

Fürs Auge gibt’s attraktive Protagonistinnen: Nola (Julia Zange), sie will eine Dokumentation über Lebens- und Kunstfragen herstellen, fast schon seminargemäß, wenn man das Literaturverzeichnis im Abspann konsultiert. Sie lebt in einer Künstlerinnen-WG in einem zur Sanierung bestimmten Altbau mit Katja (Katja Weilandt) und Martina (Martina Schöne-Radunski).

Fürs Auge auch hübsche Männer. Die werden aber auf der Stelle in Stehlampen verwandelt, wie der DHL-Bote. Es wird sich zeigen, ob ein Leben mit Männern als Stehlampen und mit Theorie als Kompensation einen Film lang durchzuhalten ist.

Die Frauen erweitern durch den geistigen Weg im Film, durch die Recherche und die Interviews mit Autoren, Literaten ihr Weltbild, befestigen es.

Fürs Auge auch die Stadtlandschaft im Widerspruch zwischen Futurismus, Gentrifizierungshochhäusern und zum Abbruch oder zur Modernisierung bestimmten Altbauten und Brachen.

Es formulieren sich in diesem Film Positionen, die an die 68er anknüpfen, die eine Utopie suchen oder wie der Autor des titelgebenden Buches meint, an den Marxismus oder die Geschichtsphilosophie anknüpfen, die aber nicht in die RAF-Falle tappen wollen.

Es geht um breite gesellschaftspolitische Themen und wie die Einzelne dazusteht, zu welchen auch immer wieder Buchautoren befragt werden oder auch der Dramaturg der Volksbühne: Frau, Mutterschaft und Beruf, selbstredend das Filmemachen, Routineberuf im Büro, Theorie und Praxis mit der berühmten Frage „was tun?“, das Recht auf Faulheit, Freiheit, Dominanz der Frauen im Niedriglohnsektor, das selbstoptimierte Individuum, Frauenfeindlichkeit im Kino (Bechdel-Test), Glück als Lebensziel, Staatsfeminismus, Freiheit des Denkens, das Kino und der Held, das Kino und der Wunsch nach Veränderung, Kunst und Kommerz, Freiheit und die ökonomischen Zwänge, Life-Balance, das Glück der Waschmaschine, Bindungslosigkeit, Netzkultur und verringerte Hemmschwelle zum Schreiben, Identität, Heimat und Anpassung an die Zukunft.

Eine kleine Story im Film ist die Filmerei selbst, die in einem Ah-Erlebnis mit Drohnenflug kulminiert – die Drohne erhebt sich weg von der WG über die Stadt, vom Privaten zum Allgemeinen.

Die schönsten Zitate zum Berlin im rasanten Wandel finden sich um die 100 Jahre zurück, in den 20ern bei Robert Walser und Robert Musil.

Im Unterschied zu den 68ern, die Theoretiker von Rang hervorgebracht haben, gibt es heute, das fällt auf, offenbar keine Autoren, die über ihre Fachbereiche heraus eine gesellschaftliche Diskussion auslösen wie anno 68 Adorno oder Habermas; es scheint in unserer Zeit an solchen Autoritäten zu fehlen; damals aber sollen solche die Jugend innerhalb der Theorie gelähmt haben. So steht denn in der WG hinterm Sofa dick auf der Wand „KOMA“, der Widerspruch zwischen Theorie und Praxis?

Interssant ist bei dieser Recherche von Irene von Alberti allerdings auch die gänzliche Abwesenheit der Nouvelle Vague, ihrer Praktiker und Theoretiker von Godard bis zu Bazin und den Cahiers du Cinéma. Geschichte kann auch vergessen oder übersehen werden. Denn das französische Kino war für das deutsche Kino der 68er ein Spiritus Rector der Sonderklasse.

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