Kommentar zu den Reviews vom 25. Januar 2018

Heilmittel? Gegen die geheimen Wünsche eines jungen Mannes? Heilmittel gegen die Gefühlskrise einer koreanischen Schauspielerin? Heilmittel gegen erlittenes Unrecht durch Polizeischlamperei? Heilmittel gegen die Brachialgewalt der Musikbranche? Heilmittel gegen Vorurteile wegen entstellten Gesichtes? Heilmittel gegen deutsche Waffenlieferungen in den Irak? Heilmittel gegen die deutsche Drehbuchkrankheit? Und auf DVD: gegen die amerikanische Provinzialität gibt es kein Heilmittel, da hilft nur Soderbergh.

Kino
BEACH RATS
Unter Kumpels ist er Kumpel, aber etwas ist anders an ihm; er entdeckt gerade ein diskretes, zweites Leben.

ON THE BEACH AT NIGHT ALONE
Die pastellene Renaissance der Nouvelle-Vague als koreanisch-deutscher, existenzphilosophischer Konversation.

THREE BILLBOARDS OUTSIDE EBBING MISSOURI
Die Exposition erklärt hammerhart den Titel – der Film aber unterläuft sauber die damit geweckte Selbstjustizerwartung.

ANNE CLARK – I’LL WALK OUT INTO TOMORROW
Fürs Kino eine selten intensive Persönlichkeitsbegegnung.

WUNDER
Klar, schon der Titel zeigt, dass es hier um eine Heilsgeschichte geht.

DAS MILAN PROTOKOLL
Deutschland sollte keine Waffen in Krisengebiete liefern!

NUR GOTT KANN MICH RICHTEN
Deutscher Kanackenfilm, das hat Methode, das Drehbuch leider nicht.

DVD
LOGAN LUCKY
American Provinz First! (grinst Soderbergh)

Beach Rats

Hanging around im Coming-of-Age.

Und wieder Cony Island! Wie bei Woody Allens Wonder Wheel kommt das Riesenrad auch vor. Und auch um wundersame, vielleicht gar nicht so weit hergeholte menschliche Verhältnisse geht es.

Menschliche Verhältnisse, in denen nicht alles ausdiskutiert wird, in denen überhaupt nicht so viel geredet wird, in denen sogar ganze Teilwirklichkeiten unter den Tisch fallen, nichtexistent sind trotz aller schwulen Emanzipationsbewegungen, trotz Ehe für alle, trotz formal fortschreitender Toleranz und Akzeptanz von anderen außer heterosexuellen Verhältnissen.

In der schwierigen Sphäre des Coming-of-Age.
Frankie (Harris Dickinson) ist die Hauptfigur in diesem wunderbar, ruhig-atmosphärischen Film von Eliza Hittman. Der Film schwingt sich förmlich hinein in den Zwiespalt von Frankie. Er ist ein junger Mann. Er hängt rum mit seinem Kumpels, von denen er ausdrücklich sagt, dass sie nicht seine Freunde seien. Sie rauchen, sie nehmen Dope. Er nimmt auch Tabletten.

Frankie lebt zuhause bei seiner Mutter, hat eine auch schon pubertäre jüngere Schwester und einen bettlägrigen Vater mit Krebs im Endstadium. Der wird bald sterben. In seinem Zimmer chattet Frankie in Gay-Portalen.

Das zeigt Eliza Hittman mit großer Feinfühligkeit, wie Frank zusehends von dieser Welt sich angezogen fühlt. Wie er sich die ersten zaghaften Schritte in diese Richtung chattenderweise traut, wie es zu ersten Treffen, zu erstem Sex kommt. Gleichzeitig bandelt Frankie mit Simone (Madeline Weinstein) an. Sie merkt bald, dass das mit ihm nicht reibungslos verläuft. Immerhin kann er sie zuhause vorzeigen, die Mutter ist offen und angetan. Und auch die Freunde kriegen das mit. Mit denen hängt er nur noch halbherzig und nicht mehr dauernd rum.

Gleichzeitig nimmt sein Doppelleben Fahrt auf. Er wird mutiger, erlebnishungriger. Selbst in der Kirche bei der Abdankungsfeier für seinen Vater springt ihn ein religiöses Bildchen mit dem Heiligen Sebastian drauf an. Das ist so eine der subtilen Szenen, in der die Gespaltenheit und Faszination von dieser anderen Welt von Frankie großartig zum Vorschein kommt. Oder wie er vor seinem Computer sitzt, die nackten Männer anschaut, wie er die Finger vor die Augen hält und nur Sehschlitze offenlässt, als glaube er nicht, was er da sehe. Solche Szenen, die kaum artikuliert diese Doppelwelt erzählen, gibt es mehrere.

Vermutlich ist es eines, Gender Liberation zu propagieren und sogar politisch durchzusetzen, und sie – je nach Verhältnissen, in denen jemand vielleicht aufwächst – in der eigenen Familie auch zu akzeptieren und zuzulassen. So dass der Film auf vermutlich gar nicht zu seltene Verhältnisse hinweist. Dass bei aller Toleranz es immer noch Bereiche der Sprachlosigkeit gibt. Es kann auch nicht jeder gleich offen über alles reden.

On the Beach at Night Alone

Zeit zum Sein.

Ein Film in der Heutezeit. Und nicht ein Handy, das klingelt, oder das jemand erwartungs-, hoffnungsvoll hervorzieht; es werden lediglich ab und an erwähnt: SMS, Email, eine Nachricht schicken. Balsam für die Nerven.

Ein sanft existenzphilosophisches Konversationsstück des Nouvelle-Vague-geschulten Meisters aus Südkorea, Hong Sang Soo, umrahmend untermalt mit einem Schubert-Saiten-Quintett.

Eine Frau aus Südkorea, die Schauspielerin Younghee (Minhee Kim) hält sich an einem schönen Ort in Europa auf. Sie ist grundsätzlich melancholisch, nicht versessen auf einen Mann, offen für Gespräche und fürs Zigarettenrauchen und ab und an einen Schluck Alkohol.

Die Gespräche mit einer anderen Frau finden statt auf dem Balkon, in einem Kaffee, in einem Park. Sie drehen sich um die Liebe, die Männer, solche, die alt und schlecht aussehen, solche, die unter dem Pantoffel stehen, das Verhältnis von Männern zu Frauen an Beispielen, über Trennung und Zweisamkeit, über das Spaßhaben oder auch nicht, über das Bücherlesen, das Am-Leben-Hängen, die Liebe, den Gemütszustand, über Zeit und Veränderung, Freundschaft, das Alter und die Wehwehchen, Kopfschmerzen bei Männern und auch noch um eine künstlerische Krise, in der sich Younghee befindet, weshalb sie sich vermutlich die Auszeit in Europa genommen hat; das hängt mit dem Verhältnis zu einem verheirateten Regisseur zusammen – das verfolgt sie bis in die Träume. Ihr Ziel ist, herauszufinden, was sie wirklich will. Wozu ist der Mensch auf der Welt? Sie will die Gefühlskrise bewältigen. Diese eine Beziehung hat sie hinter sich. Es ging halt nicht. Sie glaubt, er kam mit ihr nicht zurecht.

In Teil 2, der über einer langen Schwarzphase die Titel der koreanischen Schauspieler dieses Teils einblendet, bleiben die Themen weiter virulent in Gesprächen mit den Menschen, die Younghee für ihre Auszeit hinter sich gelassen hat.

Themen und Szenen: der Unterschied zwischen europäischen und koreanischen Männern. Über Kinder. Spazieren und plaudern. Essen und kochen. Man ist zu Gast oder in einem Hotelzimmer. An einem deutschen Ort. Oder in Korea. Der Mann, der erwartet wird. Und der Mann, der im Park nach der Uhr fragt, Symbol für die direkte Anmache in Europa.

In langen, unkoplizierten Einstellungen, meist stehende Kamera, nur selten ein Schwenk oder ein Zoom, nie Schnitt und Gegenschnitt, lässt Hong Sang Soo die Gespräche sich entwicklen, das existenzielle Thema sich häuten. Der Sinn des Lesens. Sie malt sein Gesicht in Sand. Am deutschen Strand. Dann am koreanischen Strand.

Wunder

Modell von Menschlichkeit, das möglicherweise in demjenigen von Thornton Wilders Unsere kleine Stadt fußt, das besonders nach den Gräueln des Zweiten Weltkrieges die Menschen angesprochen hat.

Ein Modell von Menschlichkeit, das die hellen und die dunklen Seiten im Menschen als gegeben ansieht, so Direktor Tushman (Mandy Patinkin) von der Beecher Prep School, das aber die dunklen Seiten in seine Schranken zu weisen versteht.

Und ein Menschenbild, das die Seiten sich versöhnen lassen will.

Die dunklen Seiten werden in diesem Film von Stephen Chbosky (Die Schöne und das Biest), der mit Steve Conrad (Das erstaunliche leben des Walter Mitty, Außer Spesen nichts gewesen -Big Business) auch das Drehbuch geschrieben hat, provoziert durch das entstellte Gesicht von Auggie (Jacob Tremblay).

Auggie ist 9 Jahre alt. Bisher hat ihn seine Mutter (Julia Roberts) zuhause unterrichtet. Sein Vater Nate (Owen Wilson) ist Schauspieler, Mutter arbeitet an ihrer Doktorarbeit. Auggie läuft am liebsten mit einem Raumfahrerhelm herum, so sieht keiner sein Gesicht.

Jetzt soll Auggie auf die öffentliche Schule gehen. Mental ist er gut vorbereitet von den Eltern. Und auch die Schule hat sich ihm vorm ersten Schultag mit einem Kennenlerntag geöffnet, indem drei seiner künftigen Mitschüler ihn schon mal zu Gesicht bekommen und ihn durch die Räumlichkeiten führen können.

Auggies Stärke sind die Naturwissenschaften. Da ist er seinen Altersgenossen überlegen.

Die dunkle Seite der Menschen wird sich in verschiedenen Reaktionen ihm gegenüber zeigen, Mobbing, blödes Anglotzen, Tuscheln und anderes mehr.

Der Film würde nicht Wunder heißen, wenn Auggie nicht schließlich doch Freunde machen würde, mit zwischenzeitlichen Komplikationen allerdings. Es ist spannend, wie die Dialektik der beiden Menschenseiten abläuft, besonders auch durch Chboskys Regie, der den Schauspielern eine enorme, dem Menschen zugewandte Präsenz abverlangt, die Vielschichtigkeit durchschimmern lässt, die kaum je, bis vielleicht auf die Eltern von Jack, jemanden nur in die gute oder nur in die böse Ecke stellt. Es ist ein Menschenbild, das Hoffnung macht.

Auch in Auggies Familie ist nicht nur Sonnenschein. Auggies ältere Schwester Via (Izabella Vidovic) zieht den Kürzeren, durch die massive Aufmerksamkeit, die Auggie verlangt. Er wird als die Sonne in der Familie bezeichnet, die anderen sind die Planeten drum herum.

Schwerer wird es für Via nach den Schulferien. Ihre Busenfreundin Miranda (Danielle Rose Russell) hat sich von ihr entfremdet. Aber bei so einem Menschenbild gibt es auch dafür mehr als Entschädigung, nicht nur lernt sie Justin (Nadji Jeter) kennen, die Dramaturgie hält für sie in der Theater-AG noch eine ganz andere Überraschung bereit.

Wenn die Welt nur aus Menschen wie hier dargestellt, bestehen würde, gäbe es wohl keine Kriege, bräuchte es keine Waffenproduktion mehr, wäre der Reichtum gerechter verteilt. Das ist der Optimismus, den dieser Film verbreitet, dass das doch möglich sein sollte.

Three Billboards Outside Ebbing, Missouri

Ziviler Aufstand gegen Polizeischlamperei.

Die Tochter von Mildred (Frances McDormand) im Kaff Ebbing in Missouri wurde misshandelt und ermordet. Mildred hat die Untätigkeit der Polizei satt. Mit einer aufsehenerregenden Aktion will sie darauf aufmerksam machen. So fängt der Film von Martin McDonagh (7 Psychos) an.

In dieser hochspannenden Exposition werden die drei titelgebenden, überdimensionierten Plakatwände, die eine wenig befahrene Straße säumen, eingeführt. Seit Jahren hat hier niemand mehr etwas angepriesen, niemand mehr Werbung gemacht. Red Welb (Caleb Landy Jones) ist der Vermieter.

Mildred mietet sie an, um Plakate mit einem Text nach ihrem Need anzubringen. Es ist ein Aufruf und Fragen an den örtlichen Polizeichef Gilloughby (Woody Harrelson). Die Aktion verfehlt ihre Wirkung nicht. Zeitigt aber Folgen, die durch die individuellen Rechtsansichten der Beteiligten eine nicht vorhersehbare Entwicklung nehmen, setzt nicht, wie es verspricht, einen mustergültig demokratischen Prozess in Gang. Das ist die Enttäuschung nach der vielversprechenden Einführung. Aber das ist gewollt von McDonagh.

Der Film wird also kein Lehrfilm über passiv-aktiven Widerstand. Involviert in diese Entwicklungen sind der Polizist Dixon (Sam Rockwell), der für die willkürliche Seite der Polizei steht, für provinzielle Auswüchse, auch im Zusammenhang mit dem Rassissmus, der im Süden der USA, auch wenn der Film einige Jahr zurück spielen mag, immer noch gang und gäbe ist.

Weitere sorgfältig charakterisierte Figuren, die hineingezogen werden in die Dramatik, die immer wieder in dialektischer Konsequenz zu bitteren Pointen führt, sind eine Freundin von Mildred, ihr Sohn, die Mutter von Dixon, der Ex von Milddred mit der strohdummen, 19-jährigen Pamela (eher: Penelope), über die sich leicht Witze reißen lassen, weil sie der Prototyp einer jungen Tusse ist, die Polo und Polio nicht unterscheiden kann und der Pfarrer gibt Anlass für ein paar Reflektionen zum Thema Gang.

Polizeikollege Cédric, der neue Sheriff und auch das Fernsehen spielen den Multiplikator-Effekt aus; die sozialen Netzwerke gibt es noch nicht und auch keine Handygeschichten.

Angenehm an diesem Film ist der sparsame Gebrauch von Waffen; die sind primär geistiger Natur. Der einzige Schuss, der fällt, ist für einen Selbstmord gut. Und einmal wird eine Knarre noch in ein Auto geladen, aber die Fahrer schwanken in ihrer Mordabsicht.

Schlägereien gibt es, körperlich gehen sich die Figuren hart an, schenken sich nichts, da wirft ein Bulle schon mal einen nicht genehmen Bürger zum Fenster hinaus auf die Straße oder eine Bürgerin wirft Molotow-Cocktails auf das Polizeirevier. Und einen romantischen Zwerg gibt es auch. Der ist Symbol dafür, dass McDonagh sich nicht primär für den konsequenten Fortgang der Plakataktion interessiert, dass ihn das Zirkus- und Possenhafte an der Provinz genauso reizt, was aber den Storyfaden ins Schlingern bringt. Aufgemerkt: schöne Spitalzimmer haben sie in Ebbing Missouri!

Nur Gott kann mich richten

Dramaturgisch verknurzt.

Es ist schon schwer genug, im Kino eine Geschichte spannend zu erzählen; aber Özgür Yildirim (Blutzbrüdaz), der vor Jahren mit seinem Erstling ‚Chico‘ einen Zufallstreffer gelandet hat und seither ein förderungswürdiger Name ist, ohne offenbar das Schreibhandwerk zu beherrschen, ist eine Geschichte zu wenig, gleich zwei Geschichten müssen her.

Eine zerbröselt es dabei vollkommen. Die andere lässt sich wenigstens aus den Schmetterteilen im Film in etwa rekonstruieren und es lässt sich erkennen, wieso sie spannend sein könnte, wenn sie sauber erzählt würde und auch, dass sie allein mehr als abendfüllend wäre.

Es ist die Geschichte der Polizistin Diana (Birgit Minichmayr, die macht das wirklich gut!). Sie hat ein herzkrankes Kind, Lili. Das braucht so schnell wie möglich ein Spenderherz. Um auf der Warteliste nach vorne zu rücken, sind 30′ 000 Euro (Bestechungsgeld) nötig – immerhin ein deutlicher Hinweis auf Arges bei der Gesundheitsversorgung in diesem unserem Lande.

Auf einer Streife bei einer Verfolgungsjagd fallen Diana 2,5 Kilogramm reinstes Heroin in die Hände. Da sie 30′ 000 Euro nicht hat, aber das Mutterherz für das Kind spricht, kommt sie in einen abgrundtiefen Konflikt zwischen ihrem Job, der das Gesetz schützen soll, und ihrer Mutterrolle, der sie in diesem Moment nur mit einem Gesetzesbruch, nämlich mit dem Verscherbeln des Heroins, gerecht werden kann.

Das wäre bei weitem Stoff für einen tiefen, ergreifenden, berührenden Kinofilm.

Aber Özgür Yildirim weiß es besser. Und die vielen fördernden Anstalten lassen sich vom Besserwiß an der Nase herumführen, machen Gelder locker für einen Film, von dem nicht klar wird, was er will.

Denn Yildirim schreibt auch noch, verhackstückt, die Geschichte von Ricky (Moritz Bleibtreu), seinem kranken Vater (Peter Simonischek) und dessen Bruder Rafale (Edin Hasanovic) und von Rickys Freundin oder Ex-Freundin, wird nicht so klar, einer Ballettlehrerin.

Der Film wirkt von der Ästhetik her, als wolle er alle bekannten Klischees über Kanackengangstertum in Deutschland noch aufmotzen, auch mit den simplen Lichtgebungen, die auf Grell gemacht sind und mit diesem Immigranten-Fernsehdeutsch von den entsprechenden Darstellern – vielleicht eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, eine Subventionsabgreifmaßnahme (weil ja Minderheiten gefördert werden müssen)?

Schon beim Verlassen des Kinos kann ich mir nicht erklären, was es mit dem Titel und dem Herrgottstattoo von Ricky auf sich hat. Er ist ein Gangster. Er war im Gefängnis. Jetzt ist er verwickelt in den Heroin-Deal oder den Klau des Heroins, weil er seinen Traum hat, eine Bar irgendwo im Mittelmeerraum aufzumachen.

Nebst der Unausgewogenheit der beiden Geschichten, die ineinanderrennen, indem Diana das Heroin aus Rickys Klau findet, wird viel laut geredet bis geschrieen, es wird auch viel geschossen in diesem Frankfurt.

Andererseits wird Frankfurt charakterisiert als eine Stadt, in welcher in einem ruhigen Wohnviertel nachts eine Schießerei stattfindet und kein Mensch aus der Nachbarschaft wacht auf. In vielen dunklen Locations wird viel geschossen und gerangelt, es fließt Blut, Frankfurt ist eine gesetzlose Stadt, in der auch eine Polzistin Leute abknallt, die ihren Muttertierweg kreuzen.

Könnte eine supergrelle Groteske werden, so vom Gedanken her. Von der Realisierung her ist es vor allem: leeres Klischee, sich Aufgeilen des Regisseurs an der vermeintlichen Schilderung dieses Kriminellen- und Zuwanderermilieus, so wie der öffentlich-rechtliche Fernsehzuschauer (Durchschnittsalter ab 72 oder mehr) es sich vorstellt. Und die Mümmelgreise von Redakteuren.

Rote Karte des Zwangsgebührenzahlers!

Anne Clark: I’ll walk out into Tomorrow

81 kathartische Minuten Begegnung mit Anne Clark ermöglicht Claus Withopf mit diesem Film über die Sängerin und Lyrikerin.

Fast 10 Jahre lang suchte Withopf sie immer wieder auf bei Auftritten, Konzerten, im Studio, im Probenraum, zuhause beim Schreiben und er machte mit ihr sogar eine kleine Tourismusfahrt in die Gebiete ihrer Jugend in einem Arbeiterviertel in London. Dieses war kunstfeindlich eingestellt. Jemand, der mit Singen und Texten sein Geld verdienen wollte, wurde hier schief angesehen. Eine intellektuelle Diskussion fand in der Familie nicht statt. Das Schreiben war Annas Ventil.

Claus Withopf hat aus diesem vielseitigen Material einen fessselnden Videoclip mit vielen Songs und Bildspielereien dazu montiert.

Der Film wirkt durchgehend musikalisch, obwohl gelegentlich, wenn Anne Clark erzählt, die Musik ganz wegbleibt, aber sie hallt nach und dann setzt sie schon wieder ein, wodurch dieser nüchterne dokumentarische Duktus einer Anlehnung an die Haltung der Künstlerin zu Leben und Beruf weicht.

Clark verdankt ihren Einstieg dem Punk und der New Wave. Die wollten tun und machen unabhängig von den etablierten Studios und Markthirschen. Das war für sie, die keine Beziehungen zum Business hatte, die einzige Möglichkeit. Sie hat sie genutzt.

Bald schon hatte sie sogar kommerziellen Erfolg. Geld wie nie. Aber ein untreuer Tourmanager ist mit dem ganzen Geld abgehauen. Eine bittere Erfahrung. Sie hat sich nach Norwegen in die Stille zurückgezogen. Und dann unbefangen wieder angefangen.

Kommerzielles Denken liegt ihr nicht. Sie weicht von ihrer Punkhaltung nicht ab, das zu singen, was sie bewegt. Es sind die elementaren Dinge von Angst und Liebe und Sehnsucht und dem Alleinsein.

Die Intonation ihrer Songs könnte bildlich dargestellt werden als die Haltung eines Menschen, der etwas Ersehntes vor sich sieht, es nicht greifen kann und ganz konzentriert die Hand darnach ausstreckt.

So ein Mensch ist für menschliche Tricks nicht zu haben. So ein Mensch macht keine Angst. So ein Mensch gibt auch den Menschen um ihn herum das Gefühl, Mensch zu sein, nur Mensch – ohne jedes Bedeutungsgetue.

Ihre Interviewantworten sind in keiner Weise Image- oder Selbstdarstellungstexte wie bei so vielen, sie sind Ausdruck ihrer künstlerischen Selbstreflexion. Starhabitus ist ihr fremd. Sie hat eine klare Vorstellung von ihrer Musik, da kommt es durchaus zu Auseinandersetzungen mit den Musikern.

Und sie hat ein Faible für Deutschland, für die Dichter und die Kultur. Sie vertont Rilke. Withopf hat aus diesem Material über die Künstlerin Anne Clark selbst ein kleines, filmisches Kunstwerk geschaffen, das so anregend ist, wie das Betrachten eines Bildes eines großen Künstlers in einer Pinakothek, wobei gleichzeitig noch ein Konzert gegeben wird.