Kommentar zu den Reviews vom 21. September 2017

Einmal beste Unterhaltung und viele, komplexere Verhältnisse. Als Unterhaltungsbonbon der Extraklasse mit Eggsy gefahrvoll um die Welt jagen. In New York jüdisch gschafteln und doch auf keinen grünen Zweig kommen. Im Amerika aus chaotischen Familienverhältnissen zu einer Karriere finden. In Frankreich über den eigenen Humanismus stolpern. In der Ukraine und in Russland der Vergangenheit nachspüren. In Neuengland hinschauen auf Kindsmissbrauch. In den Bergen Südtirols aufs Asthma pfeifen (das ist nicht ganz so komplex). In Deutschland aus einer Vorbildschule harte Lebensentscheidungen treffen müssen. In Ungarn auf kriminaltechnischem Umweg zur Liebe finden. Weltweit ist die industriell erzeugte Milch ein problematisches Unternehmens-, Subventions- und Ernährungsprodukt. In Deutschland blind im Thema Blindheit rumtappsen. Im Fernsehen startete ein unausgegorene Serie und es gab ein flauschig aufbereitetes Erinnerungsalbum an den Wackersdorf-Widerstand, spät, spät, nachts – psst!

KINGSMAN: THE GOLDEN CIRCLE
Wenn der Drogenhandel nicht kriminell wäre, dann gäbe es diesen bestens unterhaltenden Geheimagentenstreifen auch nicht.

NORMAN
Die Details sind von stupend realitätsnaher Glaubwürdigkeit – aber wo laufen sie denn, wo läuft das Ganze hinaus?

SCHLOSS AUS GLAS
Trotz (oder gar wegen?) fantasievoll anarchistischem Familienbackground schafft es Jeanette, Journalistin zu werden.

HEREINZSPAZIERT!
Was sind wir Intellektuellen doch tolerant und offen – wenn es um das Verhalten anderer Menschen geht. Wie aber, wenn plötzlich ein Roma-Clan Unterschlupf in der eigenen Villa begehrt …

LEANDERS LETZTE REISE
Mit 92 die Jugendliebe aus dem Zweiten Weltkrieg in Osteuropa suchen.

THE BOOK OF HENRY
Wie umgehen mit Kindsmissbrauch in der Nachbarschaft?

AMELIE RENNT
Tiroler Bergluft befreit Berliner Stadtkind von der Atemnot.

SCHULE SCHULE – DIE ZEIT NACH BERG FIDEL
Die toleranten Zeiten von Berg Fidel sind vorbei: jetzt müssen die Schüler Entscheidungen für den weiteren Bildungs- und Lebensweg fällen.

KÖRPER UND SEELE
Wenn es im Schlachthof keine kriminaltechnische Untersuchung gäbe, wären Endre und Maria nie darauf gekommen, dass sie für einander bestimmt sind.

DAS SYSTEM MILCH
Weil die Chinesen größer wachsen wollen, kann die subventionierte, europäische Milchwirtschaft ihre höchst problematischen Produkte dort bestens propagieren.

BLIND & HÄSSLICH
Mietprobleme. Die Mietpreise steigen, Wohnung und Zimmer sind schier unerschwinglich. So ergreift Jona die Chance zum Unterkommen in einem Blindenheim und spielt mehr schlecht als recht die Blinde. Dabei fällt eine ebensolche Liebesgeschichte ab.

TV
5VOR12
Wenn man ein Serie von 24 Folgen plant, so kann man schludrig anfangen, es gibt ja genügend Zeit, sich zu derrappeln. Dazu wird allein die Drehgewohnheit beitragen.

GESCHICHTE IM ERSTEN – ATOMSTREIT IN WACKERSDORF
Entschärft, weichgekocht und zu dunkler Mitternacht gesendet ist dieses nette TV-Clip-Album. Der Text bei Wikipedia ist deutlich drastischer, informativer und spannender.

Kingsman: The Golden Circle

Leben retten – legalisieren!

Das ist ganz klar die Message dieses Filmes von Matthew Vaughn, der mit Jane Goldman auch das Buch verfasst hat nach dem Comic von Mak Milar und Dave Gibbons „The Secret Service“. Drogen legalisieren, das hieße, den Drogenkrieg beenden, das hieße viele Leben retten, das hieße für den Staat Milliarden an Gefängniskosten sparen und stattdessen Milliarden an Steuern einnehmen; Drogen legalisieren würde eine gesellschaftsverändernde Lawine lostreten; allerdings kämen wir nicht mehr in den Genuss bester Unterhaltung wie in diesem Film.

Aus dem ersten Kingsman-Film ist der kleine, feine Maßschneiderladen mit dem Namen ‚Kingsman‘ in einer vornehmen diskreten Londoner Straße noch in bester Erinnerung. Eine fantastische Tarnung für einen der geheimsten Geheimdienste, snobistisch britisch umschrieben. Feine Kleidung für Herren, die Unfeines tun.

Das ist auch der Modus der Erzählweise, der Dialoge, gerne mit Wortspielen: zu einem Roboterarm zu sagen: ‚Arm a Geddon‘ oder den Champagner als ‚Champ Aign‘ zu bezeichnen. Wie goldflüssige Getränke wie Skotch oder Whisky nicht nur zum Savoir-Vivre gehören, sondern ebenfalls schöne Tarnnamen abgeben, oder wie in einer amerikanischen Brennerei „The Statesman“ (weil ja Amerika keinen König hat) sich das amerikanische Pendant der britischen Kingsman eingenistet hat. Humoristisches Product-Placement zu Whiskey (Whisky?) oder Coca-Cola (am verruchtesten Ort in altehrwürdigem Hochglanz) gehört hier zur Methode.

Diese geheimen Geheimdienste haben es mit einem raffiniert und weltweit und technisch auf dem neuesten Stand operierenden Gegner zu tun, mit der Drogenkönigin Poppy (Julianne Moore; die vielleicht einen Touch zu viel Kindertheater spielt, wenn einer ihrer Angestellten wiedermal einen anderen durch den Reisswolf drehen muss; aber dem Charme der Komödie schadet das keineswegs) und ihrem Golden Circle, den ihre Mitarbeiter in die Haut eingraviert bekommen.

Poppy schickt den Briten ihren Topagenten Charlie (Edward Holcroft) auf den Hals, der mit einem Roboterarm verstärkt ist, der bald ein für Kingsman gefährliches Eigenleben entwickeln wird. Es geht heutzutage – eine Schlüsseltechnologie – um das Knacken von Firewalls.

Zuallerst führt das schon mal zu einer halsbrecherischen Verfolgungsjagd durch London mit viel Blechschaden, die mit allen Mitteln der Unterhaltsamkeit und des Tempos bestens ausgearbeitet ist.

Die Hauptfigur, Nachwuchsagent Eggsy (Taron Egerton) bekommt – als Entschädigung für seine Flucht durch die Kloake – eine wunderbare Liebesgeschichte zur Schwedischen Prinzessin Tilde (Hanna Alström) zugeschrieben, auch die wird britisch-humoristisch ausgeschlachtet; Form und Pli und Etikette sind einer der elementaren Spielbälle der Kingsmen.

Allerdings strapaziert das per Handy transmittierte Ansinnen von Eggsy, er müsse dienstlich bei einem Popmusikfestival kurz mit einer anderen Frau vögeln (um ihr einen Spion in die Schleimbahnen hineinzutransportieren, ein trickreiches Unternehmen) die Toleranz seiner Prinzessin – sie ist dann einverstanden, wenn er ihr die Hochzeit verspricht (womit die Chance des Agentfilmes zu einem Hochzeitsfilm zu mutieren, deutlich steigt).

Die Aktionen dehnen sich bald auf die ganze Welt aus, denn Poppy ist eine durchtriebene Erpresserin mit einem Virus – tja, das sind so Bilder: ein ganzes Stadion in Amerika gefüllt mit Menschen in Quarantänekäfigen aufgetürmt wie Container im Hafen. Die Krankheit selbst ist subtil: die Blutadern fangen überall auf der Haut an, blau zu schimmern. Unheimlich.

Es gibt nur ein Mittel, die Menschheit vor der Ausbreitung zu retten und die Infizierten wieder zu kurieren. Dieses zu finden jagen Merlin (Mark Strong), Eggsy, und Harry (Colin Firth) mit Augenklappe, der Lepidopterologe geworden ist nach einem Gedächtnisverlust – und filmreif spannenden Manövern, dieses wieder zu triggern – und noch Kollegen von den Amis rund um die Welt von Italien bis Singapur in unverwüstlicher und upgedateter James-Bond-Tradition.

Wie bei James Bond sind die Darsteller noch im dichtesten Dschungel in Kambodscha bestens frisiert und sie verfügen über allerlei trickreiche Geheimwaffen, die sie garantiert anwenden werden in einer inzwischen halbroboterisierten Welt und mit Internetzugang über die Brille, also in einer schon mal grundsätzlich doppelten Realität; außerdem steht ihnen noch eine wahnwitzige Seilbahnnummer in den verschneiten Bergen Italiens bevor.

Und Elton John als himself ist das Tüpfelchen auf dieser Erste-Sahne-Unterhaltung

Hereinspaziert!

Tempo- und abwechslungsreich exerziert hier bewährtes. französisches Komödienhandwerk lustvoll und glasklar das Stolpern eines linksintellektuellen Autors über die eigenen Moralansprüche durch.

Das neueste Buch „Hereinspaziert“ von Fougerole (Christian Clavier), in welchem er Toleranz Zuwanderern gegenüber predigt, läuft nicht so recht. Seine Agentin schickt in ihn eine TV-Talk-Show, in welcher er sich mit dem Nachwuchsstar Barzach (Marc Arnaud) auseinandersetzen soll. Dieser ringt ihm das Versprechen ab, gemäß der Message seines Buches zu handeln und Roma in bei sich zuhause aufzunehmen.

Roma-Clanoberhaupt Babik (Ary Abittan) sieht das im Fernsehen in seinem Wohnwagen ‚Baronesse‘, fühlt sich angesprochen und eingeladen. Er taucht vorm Tor zum großzügigen Anwesen von Fougerole auf, pocht auf die versprochene Gastfreundschaft. Fougerole windet sich mit den faulsten Ausreden. Babiks Drohung mit den Medien erinnert ihn schlagartig an seine tolerante Moral. Er kann nicht umhin, dem Wunsch Babiks zu entsprechen, seinen Wohnwagen im Garten abstellen zu dürfen, inklusive vielköpfiger Familie.

Fougeroles Frau Daphné (Els Zylberstein) hat die größeren Probleme. Sie hält sich für eine bildende Künstlerin. Sie arbeitet gerade am Triptichon „Weggehen“ und braucht den Raum und die Ruhe für ihre Inspiration.

Fougeroles Agentin wittert die Chance für einen PR-Coup, der sich auf die Verkaufszaheln positiv auswirken würde. Also muss diese Gastfreundschaft öffentlich gemacht werden. Komisch genug für sich, allein wie Diener Ravi (Armen Georgian) weggeschummelt werden muss.

So beißen sich denn die Fougeroles ständig knirschend auf die Zähne, versuchen sich ihrer linken Jugendideale zu erinnern. Dem Buch hilft es. Und da Philippe de Chauveron schon eine erfolgreiche Vorurteilskomödie (Monsieur Claude und seine Töchter) gemacht hat, besteht kein Grund zur Sorge, dass der Film so gemütlich rührselig – und irgendwie auch verlogen – wird wie das deutsche Gegenstück Willkommen bei den Hartmanns in welchem just eher links anzusiedelnde Künstler diese Wilkommenskultur predigen, im Interview zum Film aber treuherzig zu verstehen gegeben haben, dass sie in ihren Villen in Grünwald oder am Starnberger See niemanden aufnehmen können, da sie zu oft nicht da seien: genau dieses Argument entkräftet Babik; denn selbstverständlich sind die Fougeroles gar nicht so viel anders als ihre deutschen Pendants; gerne links im Wort, aber zuhause hält man sich einen Diener.

Das Drehbuch von Guy Laurent und Marc de Chauveron kennt kein Pardon, erspart seinen Möchtegerntoleranzlern auch Roma-Kopfnüße nicht. Es arbeitet sich französisch-rational an der Mechanik solcher Vorurteile und intellektueller Präpotenz ab. Das macht zwar vieles vorhersehbar. Aber da es konsequent ist, dürfte es den Genuss nicht mindern, was ich von der deutschen Synchronisation nicht unbedingt behaupten möchte.

Es gibt pikante Details, die die Geschichte würzen. Nebst dem indischen Diener Ravi den die Fougeroles beschäftigen, ist da dieser Pleite-Typ, der sich bei den Roma eingeschlichen hat. Es gibt Details wie dasjenige, dass die Roma sich zum Betteln als Peruaner verkleiden; und Fougerole darf sie in seinem Wagen zur ‚Arbeit‘ fahren. Da ist der halbwüchsige Sohn Lionel (Oscar Berthe) von den Fougeroles, der sich in das Zigeunermädchen Lulughia (Nikita Dragomir) verliebt. Oh Jungerfernhäutchen, oh Jungerfernhäutchen, jetzt bist du aber in Gefahr. Oder Crouch (Inan Cicek), der mit bloßen Händen Maulwürfe fängt – 3 Stück in der Stunde.

Amelie rennt

Gegen das Asthma: prickelnde Mischung aus Berliner Schnauze und Südtiroler Bergluft.

Amelie (Mia Kasalo) leidet unter Asthma. Sie lebt in Berlin, Großstadt, viele Dieselfahrzeuge – dies ist mehr die Assoziation des Zeitungslesers; im Film wird die Frage nicht gestellt, woher das Asthma kommt.

Dieser Film ist die Verarbeitung einer persönlichen Geschichte, jene der Autorin Natja Brunckhorst mit ihrer eigenen Tochter. Am Drehbuch hat außerdem Jytte-Merle Böhmsen mitgearbeitet, die Regie besorgte Tobias Wiemann.

So wird denn die Exposition eher kursorisch abgehandelt. Es beginnt im Berlin. Amelie wird vorgestellt, bald schon muss sie zum Inhalationsgerät greifen. Es sieht so aus, als gehe es um einen Themenfilm, gar um einen Lehrfilm über den Umgang mit Asthma. Es folgen auch diverse Informationen dazu.

Nebenbei ist zu sehen, dass die Mutter von Amelie (Susanne Bormann) als Schaufensterdekorateurin arbeitet. Die Eltern sind getrennt, Amelie wechselt die Elternteile alle paar Tage, Mutter, Vater (Denis Moschitto).

Das Asthma verschlimmert sich. Es muss ernsthaft behandelt werden. Ein Aufenthalt in den Bergen Südtirols wird ärztlicherseits empfohlen. Auch hier gibt es Einblicke in Asthma-Therapien, teils recht amüsant.

In der Bergfreiheit Südtirols wandelt sich der Film sanft zur AlpenRomCom. Denn Amelie, die harte Nuss, begegnet Bart (Samuel Girardi), ein heutiger, junger Luis Trenker vielleicht, aufgestellt, frisch, klaren Kopfes und kernig hübsch dazu.

Die beiden sind ein wunderbares Gegensatzpaar, das widerborstige, eigenwillige, kränkelnde Berliner Stadtgeschöpf und der Südtiroler Bauernbub mit dem Berglertemperament, der von sich behauptet, Herdenmanager zu sein (auch zu diesem ‚Management‘ gibt es ein kurzes Insert, wie moderne Landwirtschaft vom Computer aus gesteuert wird – hierzu gibt der ebenfalls heute startende Film Das System Milch detaillierte Einblicke, und auch das Tirol spielt dabei eine Rolle).

Die erste Begegnung der beiden passiert im Kuhstall und bringt die moderne Landwirtschaft durcheinander, Aufruhr im Kuhstall als Symbol für den Aufruhr der Gefühle; der wird aber streng kanalsiert mittels knapper, gut gearbeiteter Dialoge.

Wobei ich ab und an den Verdacht hatte, dass der Regisseur gelegentlich mit der Peitsche den Sprechern Druck machte, damit ja keine Lahmheit aufkomme, auch bei den anderen Darstellern.

Der lange Aufstieg auf einen Berggipfel der Ausreißerin Amelie und des Herdenmanagers Bart ist das, was bleiben dürfte von diesem Film; eine knorrige Gefährtenschaft. Es schlägt der Blitz in unmittelbarer Nähe in einen Baum ein oder die beiden bauen sich aus Ästen ein Nachtlager und liegen dialogisierend nebeneinander, einprägsame Bilder.

Das Asthma verliert sich dabei etwas aus dem Film. Derweil sorgen sich weiter unten im Tal im Sanatorium die Ärzte, Pflegekräfte, Betreuer wie Matthias (Jerry Hoffmann) oder Frau Dr. Murtsakis (Jasmin Tabatabai, die sich nicht zu schön ist, diesen ansprechenden Film mit einer Charge zu adeln) um das Kind.

Die Geschichte wird nicht bierernst, tv-realistisch erzählt, sondern in einer Art ‚mutual understanding‘ mit dem Publikum, das primär unterhalten und weniger über Asthma aufgeklärt werden wolle.

Bei der Musik greift mir der Regisseur allerdings zu tief in die Tasten, überhöht oder unterstreicht die Handlung massiv, was bei der sympathischen Geschichte nicht nötig wäre. Und den Trick, mit einer Geschichte überraschend zum Ende zu kommen, das ist eine Kunst, die er und mit ihm die Autorinnen noch lernen müssen.

Leanders letzte Reise

Roadmovie in die Ukraine.

Wann gibt es bei uns schon Filme aus der Ukraine, Filme, in denen die heutige Ukraine zu sehen ist, der Maidan, Straßensperren?

Das Roadmovie von Nick Baker-Montey, er hat ein Drehbuch von Alexandra Umminger zu seinem eigenen Drehbuch weiterbearbeit, führt von Berlin in die Ukraine und sogar über einen See illegal nach Russland, und das in Zeiten, in denen Putin gerade die Krim erobert hat.

Im Gegensatz zu seinem früheren Film, der auch eine Art Roadmovie war, Der Mann der über Autos sprang, geht die Reise hier vorwärts, sind die Schauspieler nicht überschminkt, ja sie spielen sogar richtig gut, richtig spannend.

Jürgen Prochnow, bald 80, gibt einen 92-jährigen Kosakenveteran, vom Gesicht her eindrücklich, im datterigen Bewegungsablauf gelegentlich etwas zu sehr auf der komödiantischen Spur, der längst in Berlin lebt, dem eben seine Frau gestorben ist und der sich störrisch auf den Weg in die Ukraine aufmacht, um dort die Liebe seiner Jugend wiederzufinden.

Ihn begleitet, ihm von seiner Tochter Uli (Suzanne von Borsody) aufs Auge gedrückt, seine Enkelin Adele (Petra Schmidt-Schaller bringt überzeugend das wachsende Interesse an der Vergangenheit ihrer Familie, die Suche nach der Antwort auf die Frage, „warum wir sind, wie wir sind“, rüber).

Als russischer Tour-Guide gesellt sich Lew (Tambet Tuisk) dazu. Sie haben ihn im Zug nach Kiew kennengelernt. Wie menschen- und koummnikationsfreundlich so ein alter Zugwaggon doch ist mit den abschließbaren Sechserabteilen, in denen die Passagiere ins Gespräch kommen können; das schildert Bake-Monteys so, dass einem richtig nostalgisch zumute wird.

Lew ist auch sprachliches Bindeglied, denn Adele kann maximal Englisch und Eduard Leander hat noch einige Brocken Russisch auf Lager aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges.

Rein theoretisch stimmt auch die Begründung für das Roadmovie. Denn Eduard ist nach dem Tod seiner Frau frei. Diese Frau hat er nie geliebt. Seine Liebe galt der Frau aus der Ukraine, die er aus den Augen verloren hat. Das muss eines der Geheimnisse sein, weshalb es in der Familie von Eduard, auch zwischen Tochter und Enkelin, frostig zu und her geht.

Diese Ausgangslage für das Roadmovie bleibt im Film allerdings reichlich akademisch. Sie wird mit ganz wenigen Szenenskizzen kurz eingeführt. Leanders Frau stirbt im Sitzen im Lehnstuhl. Er wird aufmerksam, beugt sich zu ihr, stellt nüchtern wie ein Arzt ihren Tod fest, lehnt sich dann wieder ausdruckslos zurück. Das ist arg wenig, um dem Zuschauer die Familienverhältnisse glasklar zu schildern, es gibt zwar noch weitere Hinweise, dass nach der Beerdigung der Leichenschmaus abgesagt wird, auch der Ton zwischen Mutter und Tochter. Aber diese Hinweise sind für mich nicht zwingend genug, emotional-empirisch die Familienverhältnisse als so kaputt zu schildern, dass Aufklärung bitter not täte, dass man am Ausgang des Roadmovies und der Lösung kleben bliebe.

Im Gegenzug wiederum fesselt der Film durch ein messerscharf-elegantes Teamwork von Schnitt und überraschend agiler Kamera, was stupende Effekte erzeugt, wie ein Magier, der unterm gedeckten Tisch das Tischtuch mit einem kalkulierten Zug wegzieht, so kann vielleicht die Schnitttechnik in manchen Momenten charakterisiert werden.

Der Plot scheint mir gut gedacht, es werden später auch noch Fragen zu Schuld im Krieg, Tötung von Kriegsgefangenen, Faschismus etc. behandelt, aber die Exposition ist mir zu strichhaft-theoretisch gezeichnet, als dass der Zuschauer sich emotional involvierte, wobei der Duktus der Bilderzählung und die Inszenierung mit den Schauspielern für sich allein durchaus fesselnd sind.

The Book of Henry

Nicht wegschauen!,

das ist die Moral dieses Filmes von Colin Trevorrow (Jurassic World) nach dem Buch von Gregg Hurwitz. Denn Christina (Maddie Ziegler), die Stieftochter des Dreckskerls von Nachbarn Glenn Sickleman (Dean Norris), scheint zuhause Dinge zu erleben, die nicht in Ordnung sind.

Einzuschreiten oder wenigstens etwas zu unternehmen ist schwierig, noch dazu, da Gregg mit den lokalen Behörden und der Polizei bestens vernetzt ist. So jemand wird nicht so ohne weiteres amtlich behelligt.

Der das herausfindet, ist die Titelfigur im Film, der elf- oder auch zwölfjährige Henry (Jaeden Lieberher), ein Hoch- und Sonderbegabter, der druckreif spricht wie ein Jurist oder ein Professor. Er führt ein Tagebuch, das überquillt vor wissenschaftlichen Aufzeichnungen und Überlegungen und Formeln.

Henry organisiert auch den Haushalt. Denn seine Mutter Susan (Naomi Watts) ist dazu nicht fähig. Sie jobbt in einem Imbiss, raucht, trinkt und ist eine fanatische Videogamerin, Gewaltspiele selbstverständlich. Sie hängt gerne mit ihrer Berufskollegin Sheila (Sarah Silverman) ab. Die Kinder sind sich selbst überlassen.

Henry beaufsichtig auch den kleiner Bruder Peter (Jacob Tremblay), der darunter leidet von seiner Mutter als Nummer Zwei bezeichnet zu werden. Der hochintelligente Henry kann jedoch gut auf so einen Titel verzichten, genau so wie auf eine unachtsam aufbewahrte Sportmedaille.

Tüftler Henry hat ein großartiges Baumhaus für sich und seinen Bruder eingerichtet. Er beobachtet mit dem Feldstecher und nächtens Vorgänge im Nachbarhaus, die suspekt sind. Er macht seine Mutter darauf aufmerksam, dass es mitmenschliche Pflicht sei, vermuteten Missbrauch zur Anzeige zu bringen.

Die Geschichte, in die diese Moral verpackt wird, fährt nun allerdings einen merkwürdigen Parcours durch verschiedene Genres. Ihre Exposition ist die Schilderung der Lebenssituation von Henry, seiner Familie, der Schule. Sie wirkt wie ein ausgewalzter Kurzfilm oder wie eine überlange Filmeinführung.

Dann bekommt Henry gesundheitliche Problme. Der Film schwenkt kurzfristig ins Genre des Tumorfilmes. Es schmerzt, nach knapp einer Stunde Spielzeit den Protagonisten, und so einen attraktiven, klugen, altklugen und dazu humanistischen Jungen zu verlieren. Das hält der beste Film nicht aus, so dass er sich kurzentschlossen ins Doppelgenre flüchtet.

Einerseits hat die Aktion, die die Mutter mit der Stimme von Henry aus dem Jenseits, resp. dem Tonband, ausführen soll, etwas von einem Revengefilm, die Bestrafung des Kindsmissbrauchers. Erstaunlich ist allerdings, dass so ein kluger und gescheiter und vor allem humanistischer Mensch wie Henry die Erschießung eines Menschen vorschlägt und dafür prae mortem minutiös alles vorbereitet; Anleitung für Mom auf Tonband.

Andererseits wandelt sich der Film nach dem schnell und zügig skizzierten Beginn von der sympathischen Sozialromanze zum sozialrealistischen Drama, gar zum Moralfilm und bleibt irgendwie in diesen Seilen hängen.

Der Ineinanderschnitt von genau getakteter Racheaktion der Mutter und den Step- und Ballettnummern der Showabends an der Schule als Count-Down-Pas-de-Deux ist von wenig Erkenntnisgewinn, hilft kaum, Spannng zu erzeugen und kann keine Erleichterung verschaffen gegen die Moralschwere. Am schönsten ist dann doch das häufig zu sehende Neuengland-Herbstlaub. Die deutsche Synchro fügt sich prima in den Kontext.

Norman

Alles für den Frieden.

Michael Eshel (Lior Ashkenazi), israelischer Politiker, will in seiner Karriere ein unmögliches Ziel erreichen: den Frieden im Nahen Osten. Auch mit Kompromissen.

Diesem Friedensziel, das seit 70 Jahren nicht erreicht wurde, ordnet er alles unter. Damit macht er seinen Aufstieg zum Premierminister. Damit begründet er für sich korrupte Verhaltensweisen. Wie diese auffliegen, bringt er dafür ein Bauernopfer.

Diesem beispielhaften Bauernopfer der chronisch korrupten israelischen Politik widmet sich dieser satirisch-ironische Film von Joseph Cedar. Es ist Norman Oppenheimer (Richard Gere). Mit ihm fühlt er mit. Er ist ein ‚Fixer‘, ein Gschaftler könnte man vielleicht übersetzen, eine glanzlose Rolle, die Richard Gere glanzvoll auf die Leinwand bringt. Fast immer im selben Aufzug, einem hellbeigen Wollmantel, einer Umhängetasche, einer Schiebermütze und oft ist er am Handy, das ganz modern ist.

Auf seiner Visitenkarte steht „Oppenheim Strategies“, welche Strategien er auch immer entwirft. Es geht darum, Geld zu machen. Der Name ist belastet und belastend. Aber ihn kennt in New Yorks Society keiner, schon gar nicht die Oppenheim-Kenner.

Norman ist ab und an in der Synagoge zugange. Er versucht ständig, Verbindungen herzustellen, Empfehlungen zu erhalten, Beziehungen zu knüpfen. Er riecht überall Geschäfte, wo es keine gibt. Es bleibt unklar, dem Zuschauer wie auch den Figuren im Film, mit denen er zu tun hat, wo er überhaupt wohnt.

Cedar erzählt die Geschichte in einer Abfolge aphoristischer Bilder, die Norman pausenlos beim Kontakten und Geschäften zeigen, der ruhelose, ewige Jude. Aus diesen Bildern lässt sich nicht unbedingt eine juristisch belastbare Story ablesen.

Den dramaturgischen Rahmen gibt Cedar der Geschichte andererseits mit Akten wie in einem Drama. Der erste Akt heißt, ‚den Fuß in die Tür bekommen‘. Der zweite: ‚auf das richtige Pferd setzen‘. Der dritte: ‚der anonyme Sponsor‘. Womit deutlich wird, dass es um Spekulation, um Risikospiel geht – oder auch um Windmacherei, um Aufschneiderei.

Norman begegnet Eshel in einem Moment, wie der auf einem Tiefpunkt ist. Norman sieht den Menschen, spürt die Gelegenheit, er geht ihm nach, sie kommen wie zufällig ins Gespräch.

Norman mimt den Spendablen, kauft dem Möchtegern-Politstar ein Paar Schuhe für 1200 Dollar. Der Kontakt bricht ab.

Drei Jahre später steigt Eshel als Stern am Polithimmel zum Premierminister auf. Norman dringt zu ihm vor. Steht in seinem Licht. Und dreht ein größeres Rad. In sein Spiel spannt er auch seinen Neffen Philipp ein (Michael Sheen), dem das gar nicht recht ist.

Norman bezirzt Rabbi Blumenthal (Steve Buscemi) mit der Aussicht auf eine anonyme Millionenspende. Er knüpft Kontakte zur diplomatischen Vertretung in New York mit einer Mitarbeiterin auf einer längeren Zugfahrt. Die Ärmste kommt ihm nicht aus. Er versteht es, Menschen in Beschlag zu nehmen. Ein späterer Besuch bei ihr wird ganz nebenbei die hochkomplizierten Sicherheitsvorkehrungen der Vertretung schildern.

Der Reiz dieses Filmes von Joseph Cedar scheint mir in der gelungenen Verwertung eines Widerspruches zu liegen. Die einzelnen Szenen inszeniert er mit großem Ernst und faszinierend-brillanter Glaubwürdigkeit mit einem erstklassig besetzten und agierenden Ensemble.

Aber das ganze gesellschaftliche Räderwerk, das abgeht und was die Figuren betreiben, erscheint wie eine einzige Farce, wobei allerdings der kleine ‚Macher‘ unter die Räder – und oben kein Frieden zustande kommt.

Jüdisch selbstironisch at its best! Wobei Cedar zu verschiedenen Mitteln auch des Streams of Consciousness und der Bildmontage oder auch mal mit einem Freeze-Effekt das Porträt des jüdischen Ashavers, Machers, Gschaftlers, Fixers großartig aufhellt und abrundet.

Das System Milch

Milch macht Chinesen größer.

Das ist die Werbestrategie der europäischen Milchindustrie (Umsatz: 100 Milliarden Euro mit 200 Millionen Tonnen Milch und Milchpulver), um den Absatz ihrer Produkte in Asien anzukurbeln und weiter anzuheizen. Denn ihr Motor ist kapitalistische Wachstumsideologie. Sie glaubt, nur durch Wachstum und dauernde Optimierung der immer kurzlebigeren, zweckoptimierten Hochleistungskühe, der Prozesse und Produkte, könne sie überleben.

Das hat einen Rattenschwanz von Folgen. Denen geht Andreas Pichler in seiner Dokumentation weltweit nach, setzt dieser Ideologie aber speziell mit dem Tiroler Ökobauern Alexander Argetle, der tagelang seinen Kühen beim Weiden zuschauen könnte und Selbstvermarkter seiner Produkte ist, ein schlagkräftiges Argument entgegen.

Der Slogan der exportierenden europäischen (und mit 45 Milliarden Euro hochsubventionierten) Milchindustrie, dass die Chinesen, wenn sie Milch in ihren Ernährungsplan aufnehmen würden, größer würden, wirft sogleich die Frage nach der Ernährungssinigkeit von Milch auf. Die weitherum beachteten Studien von Walter Willet lassen Zweifel aufkommen.

So stehen sich zwei Positionen konträr gegenüber: die Milchwirtschaft, die auf Wachstum setzt und die Wissenschaft, die zu Erkenntnis kommt, dass Milch nicht so viel Anteil an der menschlichen Ernährung haben soll, dass in Gegenden mit hohem Milchkonsum bei Erwachsenen häufiger Knochenbrüche zu beobachten sind und auch auf die karzinogene Eigenschaft von Milch, besonders hinsichtlich Prostatakrebs, wird hingewiesen.

Die Folgen dieser kapitalistischen, dazu noch subventionierten Wachstumsideologie der industriellen Landwirtschaft sind gravierend: Stress für die Tiere, Entfremdung von der Weide, Ernährung mit genveränderten Soja-Beimischungen, die wiederum zur massiven Rodungen im Amazonasgebiet führen, das Problem mit der Gülle und dem Methanausstoß, die Hochzüchtung von Kühen, die vor lauter Euter kaum mehr gehen können (Bilder von der Züchter-Messe Fiera die Cremona), Stress für die Bauern, die zu Unternehmern werden und Tag und Nacht nur noch an die Optimierungen denken (Peter Mauritzen, Dänemark), die brutal verkürzte Lebensdauer der Hochleistungskühe, die nur noch Nummern sind.

Als weitere verheerende Folge der Milchüberproduktion und des Wachstumswahns der europäischen, subventionierten industriellen Landwirtschaft kommt der Export von Milchpulver zu Dumpingpreisen nach Afrika hinzu, womit ein direkter Zusammenhang zu den Ursachen der Flüchtlingsbewegungen in Europa hergestellt wird.

Als Gegenthese schlagen Studien von Weltbank und UNO die Förderung kleinteiliger Landwirtschaften vor (Beispiel einer Molkerei im Senegal, die schlecht aussgestattet ist und die örtliche Produktion beleben möchte, preislich aber nicht konkurrenzfähig ist mit den europäischen Subventionsimporten). Diese Studien sind nicht im Interesse der kapitalistischen Agrarindustrie.

Die Dokumentation ist von Pichler sehr persönlich gehalten. Er hat durch seine Herkunft einen Bezug zur Landwirtschaft, hat als Junge selber Kühe gehütet und hat in Jakob Stark einen beachtlichen Kamermann, der vereinnahmend klare Bilder bereitstellt.

Ein weiterer, gelungener Film in einer ganzen Reihe, die uns etwas über die Herkunft unserer Nahrungsmittel und über die Folgen von deren Herstellung und die Perspektiven hinsichtlich einer langfristigen Sicherstellung der Ernährung der Menschheit erzählen und die inzwischen auf einem Extraregal als Grundausstattung an Allgemeinwissen eines jeden Haushaltes, der sich auf dem Ernährungssektor weiterbilden und verbessern möchte, gehören – im Sinne einer Verbesserung der eigenen Lebensqualität.

Perverses Symptom für das grundsätzliche Übel in der Landwirtschaftspolitik: es gibt inzwischen Bauern, die mit Gülle mehr Geld verdienen als mit Milch.

Schule, Schule – Die Zeit nach Berg Fidel

Ende der Idylle.

Nach Hella Wenders rundem, kompakten Vorgängerfilm „Berg Fidel“, der für einen Dokumentarfilm einen beachtlichen Kinoerfolg mit über 40’000 Besuchern verbuchen konnte, greift jetzt der Prankenschlag der nahenden Lebenspraxis, des Konkurrenz- und Selektionsprinzipes in die bis anhin fast idyllisch zu nennende beispielhafte Inklusionsschule ohne Noten, Klassen, Sitzenbleiben ein.

Das macht auch dem Film zu schaffen. Freundschaften und Beziehungen werden auseinandergerissen, gehen in Brüche. Jetzt geht es um Noten, Versetzungen, das Erreichen des Zuganges zu dieser oder jener Schule, die möglichst viele Chancen im Leben oder zum Weiterstudieren bitetet.

Früh müssen die Schüler oder die Eltern entscheiden. Jetzt wird über die Startbedinungen in ein Berufsleben, in eine Karriere oder zu einem Traumberuf entschieden – mit wenig Spielraum: Hauptschule, Förderschule, Berufsvorbereitungsschule, Gymnasium oder private Montessori-Schule.

Die Biographien der Schüler machen sich von den Socken. Das schlägt sich im Film wieder, der in der ersten Phase einen etwas zerfaselten Eindruck macht.

Die Schüler machen rasante Entwicklungen durch, ihre Persönlichkeiten verpuppen sich, schälen sich mit klaren Konturen heraus.

Jakob mit dem Downsyndrom bleibt weiter ein Wonnepfropfen, hält eine Referat über Pinguine und spielt Schlagzeug. Sein älterer Bruder David, der schon als kleiner Bub im Vorgängerfilm (die Szene wird hier eingespielt) über das Weltall und die Unendlichkeit philosophierte, wird zum in sich gekehrten Einser-Schüler (in den meisten Fächern) und zum Komponisten, dessen Songs zum Teil auf der Tonspur zu hören sind und einer davon erlebt am Abschlussabend seine öffentliche Premiere.

Er selbst verdrückt sich beim Applaus bescheiden zur Seite. Er sei in ein Mädchen verliebt, aber die wisse es wohl nicht. Man muss in dem Alter nicht alles ausplaudern. Sein Bruder Jakob dagegen läuft Annilin hinterher und sie erklärt ihm ihre Liebe. Diese Liebe ist allerdings noch eine ziemlich junge.

Trotzdem: Freundschaft ist für alle wichtig und hilft Schwierigkeiten zu bewältigen. Das gilt besonders für die Außenseiterin Samira, deren Probleme durch den Schulwechsel nicht weniger werden; aus der vorherigen Schulzeit ist ihr die Nepalesin Sabine geblieben, mit der sie sich im Vorgängerfilm noch heftig gefetzt hat, auch die Szene wird eingespielt.

Anita ist inzwischen zu einer junge Frau von unübersehbarer Körperfülle geworden und von ebensolcher Disziplinlosigkeit. Am versuchsweisen Arbeiten als Kosmetikerin findet sie keinen Gefallen, auch nicht an der Idee, einen Beruf zu erlernen, das ist ihr alles zu anstrengend. Sie arbeite inzwischen in einem Fastfood-Restaurant. Die Übungssituation eines Vorstellungsgespräches vor den Augen der kritischen Mitschülerinnen meistert sie allerdings respektabel.

Zur hohen Qualität dieses Dokumentation tragen besonders zwei Dinge bei: das Vertrauensverhältniss, das Hella Wenders in den vielen Jahren zu ihren Protagonisten, den Eltern und Lehrern, Mitschülern und Mitschülerinnen aufgebaut hat, was dem Film eine hohe Glaubwürdigkeit verleiht und die Kamera von Luca Lucchesi, die den Film unbedingt ins Kino verweist. Durch diese Faktoren erwecken die Schicksale der Protagonisten beachtliche Empathie.

Schloss aus Glas

Nach einer wahren Gschichte.

Die wahre Geschichte ist die von Jeannette Walls (Brie Larson) vor dem Hintergrund der Geschichte der Familie Walls mit Vater Rex (Woody Harrelson) und Mutter Rose Mary (Naomi Watts) sowie den Geschwistern Lori, Brian und Maureen.

Es ist eine Künstlerfamilie, die spürt, dass sie Großes leisten und die Welt verändern will. Vater Rex hat Pläne, das heruntergekommene Anwesen, in dem die Familie in Virginia nach ruhelosem immer wieder Umziehen, bevor Miete fällig wurde, ein Zentrum findet. Bei den Plänen bleibt es auch. Aber es gibt noch eine Oma in Welch.

Rex ist der Charakter eines unbestechlichen Mannes, visionär, unfähig, eine Familie zu ernähren oder den Kindern eine Ausbildung zu erlauben und der nach und nach immer mehr im Alkohol ertrinkt mit den entsprechend ungerechten und gewalttätigen Ausbrüchen.

Zur Zeit des Beginns des Filmes, 1989, leben er und seine Frau als Obdachlose in New York. Sie durchwühlen den Müll nach Ess- und Verwertbarem. Die Mutter hatte Ambitionen für die Malerei aber kein Feeling oder Händchen fürs Haushalten und Kindererziehen. Gleichzeitig wird eine große Herzlichkeit in der Familie behauptet. Vater ist hochintelligent. Er fährt mit der Familie in die Wüste hinaus, erklärt ihnen die Natur. Sie sollen vom Leben lernen.

Er will umweltschonende Verbrennungsmethoden erforschen und entwickeln. Er hat auch literarische Ambitionen. Und wenn er Geld braucht, geht er zocken. Er ist einer, der keinem etwas vormacht. Die Kinder scheinen vom Vater nicht nur die Intelligenz geerbt zu haben. Sie lernen, sich allein zurechtzubuddeln (Beispiel: Jeannettes selbstgebastelte Zahnspange).

Das ist vielleicht das Krasse an der Geschichte, dass ein Kind aus dieser Familie, Jeannette, nicht nur ein Studium schafft, sondern es bis zur angesehenen Position einer Klatschkolumnistin in New York bringt.

Jeanettes Freund David (Max Greenfeld) scheint aus ordentlichem Bürgertum zu stammen, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Sie leben in New York in einer feinen, protzig ausgestatteten Wohnung.

Destin Daniel Cretton, der mit Andrew Lanham auch das Drehbuch nach den Erinnerungen von Jeannette Walls aufgeschrieben hat, erzählt die Geschichte nicht chronologisch und auch nicht als die subjektive Biographie von Jeannette, (worin sie sich der filmischen Biographie von Stefano Knuchel CLOCLO UND ICH noch mehr annähern würde in der Parallelität, dass jemand aus – aus bürgerlicher Sicht – aus ‚unmöglichen‘ Verhältnissen doch etwas ‚Anständiges‘ werden kann, Knuchel ein beachtlicher Filmemacher), sondern versucht, es als eine Familiengeschichte darzustellen, beginnend mit einer Einladung bei Jeannette und ihrem Mann in New York, in die ihre verwahrlosten Eltern hineinplatzen, um dann mit Rückblenden zu verschiedenen Momenten dieser Familiengeschichte und je nach Alter mit wieder verschiedenen Darstellern fortzufahren. Schwierige Erzähltechnik, für mich jedenfalls, immer genau zu kären, wer ist jetzt wer und wo sind wir – aber dieses Problem ist hier recht gut gelöst worden.

Insgesamt schafft es Destin Daniel Cretton ein lebendiges Bild einer unmöglichen Familie zu zeichnen, allerdings auch mit absehbar versöhnlerischem Schluss. Zwischendrin möchte sich die Tochter von den penetranten Eltern lossagen und dieser Konflikt überträgt sich, dass sie das Gefühl hat, das sei doch unmenschlich, denn an sich tun die Eltern ja nichts Böses – es ist der böse Geist des Alkohols.

Ein Thema was dabei immer wieder erörtert wird, ist dasjenige der Wahrheit, wie lange soll man über so eine Familie lügen, wie weit soll man die eigene Herkunft verleugnen – dabei gibt es noch Geheimnisse, was war zwischen dem Vater und seiner Mutter? Was war das für eine Szene zwischen der Großmutter und dem Buben Brian – alles nur Einbildung der Schwestern? Das Kreatürliche, was diese Familie nach der Idee des Vaters zusammenhält, ist das Wolfsgebrüll, sie halten sich für graue Wölfe, ein Rudel. Aber seine Tochter nennt er Bergziege.