Kommentar zu den Reviews vom 20. Juli 2017

Von der Anzahl Reviews her sieht es nach Urlaub aus. Stimmt ja auch ein bisschen. Allerdings ist allein VALERIAN nahrhaft genug, ein unterhaltsames Kompendium cineastischer Zukunftsbilder präsentiert vom fröhlichen Auge eines Luc Besson. Ganz gegenwärtig dagegen ist – ebenfalls aus Frankreich – DAS UNERWARTETE GLÜCK DER FAMILIE PAYAN, so gegenwärtig, heftig und zukunfts-(oder auch:zeit)los wie das Familienmodell nur sein kann. Am ernsthaftesten ist heute der Rumäne Mihaileanu, der hat sich tiefgreifende Literatur vorgenommen mit DIE GESCHICHTE DER LIEBE, was nicht ganz unkompliziert ist – aber: war das mit der Liebe je einfach?

Auf DVD geht der erfolgreiche LION erneut seiner abenteuerlichen Geschichte nach.

Zur Entspannung hat sich stefe mit Vergnügen ein voglwuides Musikvideo aus Passau aus dem Internet reingezogen (PNP: „das irrste Musikvideo, das je aus der Region kam“): JazzPunkMafia – VOGLWUID.

Valerian – Die Stadt der tausend Planeten

Die Herkunft der Zukunft.

Zur Schilderung einer integalaktischen Zukunft von 2150 plus 400 Jahren, die er in einem kurzen Entwicklungsabriss über Andockungen und Besuche von Raumstationen zwischen 1975, 2020, 2031 und 2150 schildert, blättert Luc Besson, der Buch und Regie für diesen Film nach den Comics von Pierre Christin und Jean-Claude Mézières entwickelt hat, die menschliche Kulturgeschichte sämtlicher Kontinente bis weit ins Altertum zurück und hat gewiss auch manchen Almanach mit Fantasietierfiguren gewälzt, um schließlich in 500 Jahren bei der Megapolis Alpha irgendwo im Weltraum das Hauptbetätgiungsfeld für seinen Filmhelden Valerian (Dane DeHaan) zu finden.

Vorher schon hat Besson das friedliche Leben auf dem Planeten Mül paradiesisch entworfen. Ästhetische Figuren wie schlanke, silberne Schaufensterpuppen leben in Frieden, wie im Endzustand der Eurythmie. Sie leben davon, Perlen, die unglaubliche Energiegeneratoren sind, zu sammeln und von einem Transmutator vervielfältigen zu lassen. Der ist ein süßer kleiner Drache, der in einem kleinen Kistchen aufbewahrt wird. Ein Perlenscheißerchen.

Da das reine Paradies, der Frieden, langweilig und dem Zuschauerinteresse nicht zuträglich ist, zumindest auf Dauer eines Kinofilmes auf der Leinwand, lässt Besson die Apokalypse auffahren.

Bald darauf werden in Alpha Veränderungen festgestellt. Eine nicht betretbare Zone entwickelt sich zur Gefahr für die ganze Stadt. Valerian soll dieses Unheil zusammen mit seiner Kollegin Laureline (Cara Delevingne) abwenden, die Ursache ergründen.

Vorher gabs schon einen kaleidoskopbunten Ausflug zum Planeten Krian, dessen Markt eher an einen orientalischen Souks erinnert. Noch bunter gemischt ist Alpha. Unendlich hohe Hausfronten in allen vertikalen und horizontalen Lagen lassen riesige Fluchten von Gassen entstehen, in denen Luc Besson seine Verkehrselemente aus „Das fünfte Element“ noch potenzieren kann.

Auf der Suche nach der Ursache der drohenden Katastrophe treffen Laureline und Valerian auf eine unvorstellbar vielfältige Welt, auf ein Panoptikum wie aus einer Freak-Show an Miniwelten, auf merkwürdige Riesen, die offenbar mit phosphoreszierenden Schmetterlingen wie fliegenfischen und welche sich verfolgte und suchende Menschenkinder auch ganz anders zunutze machen können.

Sie erleben erstklassige Bar-, Striptease- und Transformationsnummern im Rotlichtviertel ‚Paradise Alley“. Hier begegnet Valerian, der seine verschwundene Kollegin sucht, der Gestaltwandlerin Bubble (Rihanna), die für sich und sogar für einen Begleiter die denkwürdigsten Transformationen vornehmen kann und somit unbemerkt eindringen in den archaisch anmutenden Thronsaal eines bulligen Imperators, einer Welt mehr von elefantösen Bullen als Menschen in einem prächtigen Thronsaal und die Rituale fest durchgetaktet wie bei einem G20-Gipfel.

Gleichzeitig müssen sie Kontakt halten zur modernst eingerichteten Kommandozentrale – Hologramme, Ortung etc. inklusive – mit recht menschlichen Offizieren und Chargen darin. Die selbst wiederum einen Hofstaat bilden mit einem merkwürdigen Trio an Hofschranzen, so groß wie Enten aber mit Rüsseln wie Rüsseltiere und einem Geschnatter, wie nur ein Hof es hervorbringen kann und Geheimnissen, die unterm Siegel der Verschwiegenheit und gegen kleines Entgelt umgehend zu Geheimnissen von neuen Geheimnisträgern werden.

Je größer der Stress der Mission, desto mehr meldet sich in Valerian, der über eine nicht auf Anhieb gefällige Mischung aus noch vorhandener kindlicher Naivität und verwunderten Augen aber auch an männlichem Durchsetzungsvermögen und Imponierkraft verfügt, der Liebhaber im Hinblick auf Laureline, die aber viel zu selbstbewusst ist, um gleich einzuknicken. Sie wird ihm eine Lektion erteilen. Eine Liebesgeschichte mit herbem Charme und fernab jeglicher kinoglatter Klischeeromanze.

Der Cast ist eine wunderbare Mischung aus noch blutjungen Akteuren auch in der Kommandozentrale, nebst den beiden Protagonisten und gestandenen Mimen wie John Goodman, Rutger Hauer, Clive Owen, Matthieu Kassovitz.

Auch die surrealistischen Traumwelten fehlen nicht, durch die ein Valerian unter Umständen in rasendem Tempo hindurchrauscht. Kämpfe werden nötig und eine hartnäckige Verfolgungsjagd eines unbekannten Fluggerätes, das aus der Ferne aussieht wie ein fliegender Diamant.

Die Szene mit der Referenz ans Fliegenfischen, die zeigt vielleicht am deutlichsten, mit welchem indivuellem Zugriff und Charme, der Dingen mit leichter Fantasie eine zweite Deutung zuordnet, Luc Besson an sein Werk rangeht.

Und wenn beim Verlassen des Kinos der Blick von oben auf den Garten des Mathäsers in München fällt und der Gedanke sich meldet, oh, da habe ich doch ein Stück Alpha vor mir, so hat der Film zumindest eine Sofortwirkung auf das Sehen erzielt.

Und falls Valerian inzwischen gelernt hat, dass die Hochzeit vor den Flitterwochen kommt, so hat sich auch bei ihm ein Stück Realität begradigt.

Die Geschichte der Liebe

Die unerfüllte Geschichte der Liebe von Leo Gursky (Derek Jacobi) und Alma Singer, später Mereminski (erst Sophie Nélisse, dann Gemma Arterton). Leo ist einer von den drei Jungs im Stedtl in Polen, die um die Gunst von Alma buhlen. Sie will sich nach der literarischen Qualität der potentiellen Dichter entscheiden, nebst Leo noch Zvi Litvinoff (Claudiu Maier) und Bruno Leibovitch (Elliott Gould).

Das Wort Nazizeit kommt in diesem Film von Radu Mihaileanu nach dem Roman „Die Geschichte der Liebe“ von Nicole Krauss nicht vor, nur das Stedtl. Im Krieg aber wurzelt die Geschichte, vertreibt die Menschen aus Polen, lässt sie sich aus den Augen verlieren – und wiederfinden, Stoff für große Geschichten.

Alma entscheidet sich für Leo. Sie flieht nach N.Y. Der Briefwechsel bricht ab. Die drei Freunde emigrieren auch nach New York, später. Zvi bekommt keine Einreiseerlaubnis und macht in Chile Karriere als Dichter.

Alma ist inzwischen verheiratet. Sie will dem Kind von Leo, das schon unterwegs ist, eine Familie und einen Vater bieten. Das Kind soll nie erfahren, wer der richtige Vater ist. Leo schreibt die Geschichte auf. Veröffentlichen tut sie ein anderer – Zvi in Chile und auf Spanisch.

Jahre später soll die Geschichte ins Englische übersetzt werden. Die Übesetzerin ist ein Fan des spanischen Originals immer schon gewesen. Sie tauft ihr Töchterchen, das in der jüngsten Spielphase des Filmes, 2006, pubertierend ist, Alma.

Das ist in etwa der Ansatz der Story, die der Zuschauer aus dem Film wie aus einem Vexierbild herausklauben muss. Denn Mihaileanu springt in seiner Drehbuchbearbeitung ständig zwischen der Zeit des Krieges, der Anfangszeit in New York, 1996 und dann 2006 und auch zwischen der Geschichte der Übersetzerin und dem Autor hin und her.

Wobei je nach Zeitpunkt auch verschiedene Darsteller die Rollen verkörpern. Dadurch entsteht eine gewisse Erzählnervosität, der Zuschauer wird durch Zeit- und Storyfäden durchgeschüttelt und -gerüttelt und versucht jedes Storyteilchen, das er erwischen kann, selbst zu verknüpfen.

Das ist vielleicht das Problem dieser Romanumarbeitung fürs Kino, dass Mihaileanu sich nicht auf einen Protagonisten oder eine Protagonistin konzentrieren wollte und dieser Figur genau durch den Lebensweg folgt. Das verursacht eine gewisse Storykonfusion. Dieser wiederum will er mit empathischer Musik und auch im Inszenatorischen mit viel Pathos begegnen, ständig ist zu spüren, wie wichtig ihm die Geschichte ist, das ist der Untertext, den er aufdringlich mitinszeniert.

Darunter leiden Vermittlung und Nachvollziehbarkeit der Story, obwohl er mitteilt, dass es sich um eine erzählenswerte Geschichte handelt. Ich denke, sie würde nicht an ihrer menschlich-literarischen Qualität leiden, wenn sie gradliniger einer Figur gefolgt wäre.

Gegen das Emphatische arbeitet die schmerzhaft sterile deutsche Synchro, deren Regie zwar jegliches Nuscheln eliminiert, was aber nicht gegen die Drehbuchdefizite hilft, diese vielleicht nur noch klarer herausstellt und auch wie ein Hammer gegen die emphatische Intention des Erzählers wirkt. Wobei der Beruf als Mann vom Schlüsseldienst von Leo nicht nur reizvoll ist, sondern auch zu einem dramaturgisch wichtigen Kniff wird.

Das unerwartete Glück der Familie Payan

Gefahr der Eklampsie.

Am liebsten würde man ins Chalet der Familie Payan irgendwo in einem Tal der französischen Alpen einziehen, die sind zwar nicht lieblich, aber so herzerwärmend lebendig und munter und schenken sich nichts. – Aber ich wüsste dann doch nicht, wie lange ich es mit ihnen aushalten würde.

Und dann ist da noch ein Kleines unterwegs. Als ob es nicht reicht, dass Mutter Nicole (die fabelhafte Karin Viard) was Kleines unterm Herzen trägt. Es ist kein Irrtum, obwohl sie 50 ist. Aber Papa Jean-Pierre (von der süßen Enkelin nur Opa JP genannt), ist heiß auf seine Ehefrau und in dem Alter kann eh nichts mehr passieren, denkt er, schon gar keine Verhütungspanne, wie er einmal seiner Tochter Arielle (Hélène Kneusé) an den Kopf wirft.

Diese Tochter lebt mit ihrem wohlgenährten Toussaint aus dem Quebec und der kleinen Zoé auch im Chalet. Aber Arielle ist keine begabte Mutter und Hausfrau, sie glänzt dadurch, dass sie kaum da ist und wenn schon, dass sie nichts zum Haushalt beiträgt. Alles im Haushalt erledigt die Mutter und dann auch noch einen Fulltime-Job bei der Mautstelle der Autobahn. Und auch noch für die Oma Mamilette ( die entzückende Hélène Vincent) zu sorgen und sich um sie zu kümmern, bei der nie ganz klar ist, ob sie schon dement ist oder mal bloß wieder aus Scherz die Tote spielt, hören tut sie jedenfalls ganz gut und man wünschte ihr ein ewiges Leben.

Papa ist auch nicht sehr nützlich in der Familie; er ist arbeitslos, trainiert aber eine Mädchen-Akrobatik-Gruppe. Und auch Bruder Vincent (Raphael Fenouillet) gehört zur Familie. Er ist insofern der Pechvogel, als immer, wenn in seinem Leben etwas Wichtiges passiert ist, die Familie gerade nicht pässlich ist. So verpassen sie gemeinsam den Abschied vor seinem nächsten U-Boot-Tauchgang, so fängt der Film an.

Vincent ist U-Boot-Koch. Jetzt ist Mama schwanger – selbstverständlich hat die Erkenntnis und die Bekanntgabe einer solchen Zustandsänderung in dieser warmherzigen Komödie von Nadège Louise nach dem Buch von Fanny Burdiono + 4, eine eigene Dramaturgie, die wunderbar sichtbar macht, wie diese Leute mit einem Geheimnis umgehen.

Wobei solche Geheimnisse, wenn man so eng zusammenwohnt, sicher dazu gehören. Oder eine Geheimsprache, wie die beiden Geschwister sie als Kinder benutzt haben, die aber offenbar im Telegramm an den Bruder im U-Boot nicht mehr so richtig funktioniert.

Der Arzt verschreibt der schwangeren Oma Nic, wie die künftige Nichte Zoe in Erwartung ihres künftigen Onkels sie nennt, Stressfreiheit. Sie soll ein paar Tage im Spital bleiben. Wie sie zurückkommt ruft sie laut aus, es sei eingebrochen worden… ist es natürlich nicht. Aber ob der Rest der Familie kapiert hat, was diese Frau leistet, das bleibt zweifelhaft.

Vergessen zu erwähnen: Damien (Côme Levin) den Arbeitskollegen von der Maut und den Doktor Gentil (Grégroie Bonnet), der die Schwangere, wenns ans Hantieren geht, zu verzückten Träumen hinreißen lässt. Es entsteht der Eindruck von so prallem Familienleben, dass man befürchtet, das Bergtal könnte das gar nicht fassen. Der Doktor meint, eine solche späte Schwangerschaft berge das Risiko einer Eklampsie.