Dancing Beethoven

Zufallsbekanntschaft.

Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Zug der Schweizer Bundesbahn und fahren dem Genfer See entlang in Richtung Lausanne. In Nyon legt der Zug einen außerplanmäßigen Halt ein, weil ein Mensch sich vor den Zug geworfen hat. Ihnen gegenüber sitzt eine aparte junge Frau, dunkle Haare, direkter, offener Blick, vielleicht ein Hauch von Traurigkeit darin. Es ist Februar, Winter, vor dem Zugfenster ein schneebedeckter leichter Abhang, mitten drin ein trauriger, blattloser Baum, leicht gebeugt wie eine Traurerweide. Die junge Frau fängt an zu sprechen, auch Beethoven habe an Selbstmord gedacht, wie er das Gehör verloren hat. Sie plaudert und plaudert ungefragt und schon sind Sie mitten drin im Film von Arantxa Aguirre.

Sie ist auf dem Weg zum Béjart Ballett in Lausanne. Die berühmte Tanzkompanie will Moritz Béjarts Choreographie zu Beethovens Neunter aufführen. Neun Monate lang wird die junge Frau den Probenprozess verfolgen.

Einzige Systematik im sehr persönlichen Film werden die Jahreszeiten sein. Das erste Kapitel ist der Winter. Der Frühling findet in Tokyo statt, denn die Schweizer Kompanie wird für das große Werk verstärkt mit einer japanischen Tanztruppe. Sommer wird wieder in der Schweiz sein und die Endproben und die Premiere finden in Tokyo statt mit großem Orchester, Chor und Tanzkomparsen und mit dem Höhepunkt eines wilden, ekstatischen Ringelreihens, der von oben aussieht wie die Steinchen in einem bunten, außer Rand und Band geratenen Kaleidoskop-Effekt.

Oft sehen wir Arantxa Aguirre, die sagt sie sei Schauspielerin, den Proben zuschauen, so wie das Corps de Ballet oft den Solisten zuschauen muss, wie sie ihre Pirouetten und Sprünge und Hebungen vollbringen.

Nach und nach erfahren wir, dass das Filmprojekt kein reiner Zufall ist, dass Arantxa Aguirre tief verwurzelt ist in dieser berühmten Balletttruppe, deren Gründer Béjart 2007 starb. Dass sie ein Kind dieser Truppe ist, selbst aber nie Tänzerin werden wollte. So schaut sie denn mit einem gewohnten wie verwunderten Blick auf die Arbeit. Sie setzt sich ab und an mit einem Tänzer, mit dem Choreographen, mit anderen Beteiligten zusammen, befragt sie zu ihrer Haltung, was diese Neunte Symphonie für sie bedeute.

Das Thema der Brüderlichkeit kommt auf, alle Menschen sind Brüder. Irak, Syrien werden erwähnt. Die Diversität sei wichtig. Sie spiegelt sich in der Zusammensetzung der Truppe.

Ab und an schneidet Arantxa Aguirre verspielte Impressionen aus der Natur oder einer Stadt dazwischen. Sie schaut auf Details, wie ein Balletschuh gebunden wird. Sie beobachtet die Choreographen bei der Arbeit. Sie verfolgt aufmerksam eine schwangere Tänzerin, die Produktion aus diesem Grund nicht mitmachen kann. Sie unterhält sich mit einer älteren Tänzerin darüber, die das auch erlebt hat. Sie zeichnet auch einen Unfall kurz vor der Premiere in Tokyo auf, wie eine Tänzerin einen Knöchel verstaucht und somit nicht tanzen kann.

Es ist ein merkwürdig verhalten distanzierter und doch faszinierter Blick, den sie auf den Probenprozess und die Kunst als solche wirft – als schaue sie in einen Spiegel, so musternd wie introspektiv. Wie intuitiv zusammengewürfelt wirken die Bilder. Es ist ein persönlicher, privater Erzählfluss, der vom Thema bestimmt ist, von ihrer Verwobenheit mit Thema und Truppe; womit der Film die Qualität eines privatistischen Unikates erhält und vielleicht am ehesten geeignet ist für jenen Kinogänger, dem so eine Zufallsbekanntschaft, über die er im Laufe des Filmes doch einiges erfährt, genießen kann.

Als geistige Klammer fungiert Heinrich von Lausanne und seine Ansicht, dass Gut und Böse unterschiedliche Welten seien; dem will der Film widersprechen mit der Rosette der Kathedrale von Lausanne und der getanzten Rosette des Schlussbildes der Tanzaufführung.

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