Kommentar zu den Filmstarts vom 30. Juni 2016

Die Neustarts dieser Woche sind ein Filmfest für sich, wobei es mit diesem auch Überschneidungen gibt; schwer, einen Film vor allen anderen herauszuheben.

CARACAS, EINE LIEBE
Dem Begriff „faggot“ geht’s hier nass eini.

HIGH RISE
Kapitalismus-Architektur-Bashing der leinwandergiebigen Art mit einem gezackten Wohnhochhaussolitär als Protagonisten.

MA MA – DER URSPRUNG DER LIEBE
Julio Medem verfugt meisterlich und poetisch dicht im Vorwärts-, Rückwärts-, Seitwärtsmodus die Seinseigenschaften vom Werden und Vergehen von Liebe und Mutterschaft.

NUR WIR DREI GEMEINSAM
Bringt mehr Wahrhaftigkeit über die Widersprüche der Flüchtlingsexistenz an den Tag, als uns lieb sein kann.

THE ASSASSIN
Ein Gewehr sollte nicht denken – illustriert in der Art exquisit chinesischer Porzellankunst.

VÄTER UND TÖCHTER – EIN GANZES LEBEN
Jugendtraumata können nachhaltig in ein Erwachsenenleben hineinagieren und dieses schwer beeinträchtigen – oder: wird ein Mensch schwierig?

PARAISO – WAS WIEGT DIE LIEBE?
Botero-Frauen machen besser einen weiten Bogen um Schlankheitsinstitute, denn das nächste Kochstudio liegt so nah.

90 MINUTEN – BEI ABPFIFF FRIEDEN
Die ultimative Lösung für den Nahen Osten – Alternative zur Glotzen-EM.

ICE AGE – KOLLISION VORAUS!
Kollisionen von Kometen und Haselnüssen mit Vulkanpowerabwehr – und ein Hochzeitsfilm dazu, denn ohne Hochzeit keine Familie und ohne Familie kein amerikanischer Unterhaltungsfilm.

LOU ANDREAS-SALOMÉ
Vier Darstellerinnen reichen nicht aus, um diese komplexe Figur leinwandrezipierbar darzustellen.

Ice Age – Kollision voraus!

„Scrat stößt bei seiner endlosen Jagd nach der unerreichbaren Nuss in neue Dimensionen vor. Er wird ins Universum katapultiert, wo er versehentlich kosmische Kettenreaktionen auslöst, in deren Folge die Gefahr besteht, dass sich die Ice Age-Welt verändert oder gar zerstört wird. Sid, Manny, Diego und der Rest der Herde verlassen notgedrungen ihre Heimat und begeben sich auf eine Reise voller Spaß und Abenteuer. Dabei durchqueren sie exotische Länder und begegnen einer Vielzahl von neuen schillernden Charakteren.“

So weit die Inhaltsangebe aus dem Pressetext. Dieses bisschen Story dürfte aber nicht das Entscheidende sein an diesem Film von Mike Thurmeier und Galen T. Chu nach dem Drehbuch von Michael, Yoni Brenner u.a.

Wesentlich für die aniviserten kleinen Besucher dürfte sein, was sie selbst täglich erleben, dass sie aufstehen und es sie wieder hinknallt und dass sie wieder aufstehen und es sie wieder hinknallt. Nur passiert das hier überdimensioniert, im Sternenmaßstab, der noch dazu mit Computertrick angereichert wird.

Lustig ist vielleicht auch der Zusammenhang zwischen dem Titel „Ice“ für Eis und den animierten Figuren, die allesamt Stofftiere sind. Eis und Stofftiere, ein nicht ganz harmonischer Zusammenhang. Aber die Stofftiere werden es auch mit einem Vulkan zu tun bekommen und mit elektrifizierenden Materialien, denn sie müssen einen Meteor, der auf die Welt zu rast mit einer hochkomplizierten Vulkanmanipulation rechtzeitig vor der Zerstörung der Erde ablenken.

Und doch geht es im amerikanischen Kino, ob animiert oder fiktional, immer um die Familie. Dazu gehört erst mal das Heiraten – ein Hochzeitsfilm obendrein, die Liebe, die Liebe, die zwitschert zwischen Hundertausenden von Comic-Einfällen, die alle systematisch-industrieller Natur sind, vor allem geht es um das Fliegen durch den Raum, um den Aufprall, die Kollision (in der Sternendimension oder mit dem nächsten Pingpongball); dann wird die Figur vielleicht überrollt von einem Gegenstand, den sie selbst in Bewegung versetzt hat, wird platt gewalzt und im nächsten Moment reckt und streckt sie sich wieder und ist munter wie eh und je, Stehaufmännchenmechanismen, untötbar, wie sie den Kleinen nicht unbekannt sind – und die Erwachsenen sollten sich ein Beispiel daran nehmen, Kollisionen mal wieder spielerischer zu sehen.

Ein bisschen ist der Film auch wie ein Zoorundgang, alles mögliche Getier kommt darin vor, damit auch eine breite Palette von Geschmäckern erreicht wird, wer vieles bringt, wird vielen etwas bringen.

High Rise

Dieser Film von Ben Wheatley („Sightseers“) wirkt wie ein gigantisches, grell-schrilles Mural, gebeamt auf die dröge Betonfassade der zentralen Figur im Film, einem 40-stöckigen Wohnhochhaus, was sich mit einem überragenden Zacken auf einer Seite fast wie im Himmel festhaken möchte, wirkt wie der Protest der Jugend von damals gegen den Glauben an den Beton.

In Reih und Glied stehen die schönen, besseren Autos aus jener Zeit auf riesigen Parkplätzen um das Gebäude. Was in den 70ern als Protest angefangen hat, meines Wissens mit dem Sprayer Nägele aus Zürich als kriminalisierter Underground-Kunst, ist heute längst etablierte Popkultur.

Der Film von Wheatley versucht, sich genau an die Frische des Protestes aus jener Zeit zu erinnern, dekonstruiert mit einem irrsinns Schnitt- und Szenentempo genüsslich die Perfektion und die Ordentlichkeit, die die Architektur zum eingeordneten, angepassten, entindividualiserten Wesen macht, immer eiligen Schrittes im Anzug durch die kühlen Hallen hetzen und hecheln, superdeodoriert, nur zuhause im 25. Stock in der neuen Wohnung der menschlichen Hauptfigur in diesem Gebäudefilm, Tom Hiddleston als Dr. Laing, ist alles noch in Kartons verpackt und allein lebt er auch, will er auch, möchte seine Ruhe haben.

In seinen Vorlesungen reißt er toten Menschen die Fassade herunter, die Gesichtshaut, um den Kopf zu öffnen, die Schädeldecke aufzusägen, aufzuhämmern.

Statt Ruhe zu finden im 25. Stock, die Nachbarn bedrängen Laing mit Einladungen, Parties noch und nöcher und immer extremer und orgiastischer werden diese und auch einen antiautoritären Kindergarten gibt es.

Der Architekt des Gebäudes, der Hauptschuldige, Jeremy Irons als Royal, haust opulent im Penthouse. Es gibt deutliche Klassenunterschied zwischen Oben und Unten. In der Mitte gibt es den Supermarkt, der Regalreihen hat mit „günstig“ und andere mit „besonders günstig“. Es gibt die Müllschlucker, die der Film weidlich exploitet.

Die menschliche Dekadenz nimmt von Filmminute zu Filmminute zu, die Parties verlieren jede Facon, der Umgang der Menschen untereinander ist rüde und die Musik nimmt ab und an Wagnersche Dimensionen an, während in Zwischenschnitten vor oszillierendem Himmel das Hochhaus plötzlich wie ein Spukschloss wirkt.

Es gibt Schlägereien, Suizid, Kopulationen, es gibt, auf Nachfrage der Polizei, was denn hier los ist, nichts, was nicht unter den Teppich gekehrt werden könnte – denn das Wohl des Gebäudes geht über alles, obwohl auch dieses arg in Mitleidenschaft gezogen wird, so dass es zu einer kurzen Verschnaufphase des Aufräumens kommt.

Einmal zeigt Laing Charakter, er weigert sich am Ende, am Dokumentarfilmer Wilder, Luke Evens, die Lobotomie durchzuführen.

Wheatley brilliert hier mit kontraintentioneller Betrachtung des Glaubens der 70er-Jahre-Architektur an den Beton; er zeigt die Kehrseite der Beton- und Höhenhybris, den Urprotest des Menschen gegen die Fesseln von Architektur und Kapital.

Ganz am Ende sitzt ein Nachwuchs hoch auf einem originell zusammengebastelten Hochsitz mit einem Funkgerät ins All, empfängt einen Speech von Maggie Thatcher, die den Kapitalismus über den grünen Klee lobt. Das kann man so nicht stehen lassen, werden sich die Filmemacher energisch gesagt haben.

Väter und Töchter – Ein ganzes Leben

Frauen können ohne Liebe nicht leben (Männer schon?!), das ist die Quintessenz dieses Filmes von Gabriele Muccino nach dem Drehbuch von Brad Desch.

Wenn Frauen keine Liebe haben oder sie verlieren, so führt das zu Störungen, sie werden schwierig und brauchen Langmut und Verständnis.

Die Hauptfigur ist Kate, Amanda Seyfried. Sie ist Psychologin und hat ihre eigene Geschichte. Eine Kinderdarstellerin spielt die Szenen ihrer Kindheit. Erster Liebesverlust ist der Tod der Mutter bei einem Verkehrsunfall. Die Eltern hatten Streit.

Ihr Vater Jake, Russel Crowe, ist ein Erfolgsschriftsteller und Pullitzer-Preisträger. Er ist Epileptiker und muss deshalb für einige Monate in eine Klinik. Das ist der zweite Liebersverlust für Kate, gerade weil er ein hingebungsvoller Vater ist.

Kate verbringt diese Zeit bei ihrer Tante Elisabeth, Diane Kruger. Wie Jake Kate nach seinem Klinikaufenthalt zurück haben will, fangen Onkel und Tante an, juristisch ums Sorgerecht zu kämpfen, womit Angst vor weiterem Liebesverlust für Kate ins Spiel kommt, denn Kate möchte beim Vater bleiben.

Jake hat nach einem gefloppten Buch finanzielle Probleme und der Anwalt pocht auf fünfstelligem Vorschuss. Deshalb schreibt Jake jetzt Tag und Nacht an seinem nächsten Buch, das wird das Vater-Tochter-Problem behandeln und heißt wie der Filmtitel „Väter und Töchter“. Für Kate bedeutet dieses Schreiben ein weiterer Liebesverlust, denn Jake hat keine Zeit mehr für sie, gerade weil er wegen ihr so viel arbeitet. Die Verlegerin, Jane Fonda, ist bass erstaunt über das schnell geschriebene Buch, „in drei Monaten? – dafür brauchen andere Jahre“.

Diese Geschichte des Mädchens Kate wird zwischengeschnitten in die Szenen aus dem erwachsenen Leben und Lieben von Kate als junger Frau und Psychologin mit einem besonderen Betreuungsfall, Lucy, und ihren Männergeschichten.

Bis sie mit Cameron, Aaron Paul mit einer beachtlichen, typologischen und stylishen Schnittmenge eines Wiedergängers des Vaters, glaubt, Halt und Liebe im Leben zu finden.

Ihr Erwachsenenleben wird geprägt von Echos auf die Liebesverluste der Kindheit. Das wirft sie wie schicksalshaft immer wieder in Situationen, die sie Kindheitstraurigkeit erinnern lässt und vor Konflikte stellt, schier unlösbare.

Gabriele Muccino erzählt dieses Liebesgeschichte sanft wie in Watte verpackt und unterlegt sie über weite Strecke mit orchestralem Sound für große klassische Kinogefühle bis auf eine Krisensituation, in der auf die Musikbox zurückgegriffen wird und über dem Abspann spielt sie ein melancholisches Liebeslied. Untertext: man muss schon Verständnis haben für diese Frau, sie ist ja nicht von Natur aus schwierig.

Leider verleiht die deutsche Routinenachsynchronisation der Geschichte einen leichenhaften Anstrich. Die Stelle des Geburtstagsständchens für die kleine Kate im Schnellimbiss, vorgetragen von drei Köchen, die mit den Originalstimmen belassen wurden, zeigt den doch fleischlicheren Zugriff der Amerikaner, macht die Differenz an Lebendigkeit deutlich.

Jakes Cosenamen für Kate: Kartoffelchip.
Schönes Symbol für die Verbindungshaftigkeit, aber auch die Kappungsmöglichkeit der Liebe sind diese alten, damals hochmodernen Schnurtelefone.

Klang-, Gefühls- und Gedächtniswolke zur getragenen Erzählweise, die den Zuschauer in eine leicht schwingende Hängematte legt zu einem großen Liebeskonzert. Möglicherweise wird er oder vor allem sie (?) das Kino wie nach einem Heilbad verlassen: denn, „man darf niemals aufgeben“.

The Assassin

Die Erörterung ist die, ob ein Mensch, der in staatlichem Auftrag tötet, denken und eigenverantwortlich handeln, ob er sich moralische Grenzen setzen soll.

Der Mensch, der diesen Konflikt hat, ist hier im Film von Hsia-Hsien Hou nach dem Drehbuch von Cheng Ah, Tien-wen Chu + 3, die Protagonistin Qi Shu als Nie Yinniang. Sie hat bei einer Nonne eine elitäre Kampfausbildung genossen. Jetzt soll sie im Auftrag ihrer Mutter, die eine Schwester des Kaisers ist, ihren Cousin töten, der Gouverneur ist und den sie einst hätte heiraten sollen.

Die Gründe für den Auftragsmord sind in der Staatsraison zu suchen. Denn das politische Gleichgewicht zwischen Kaiser und den Provinzen ist verloren gegangen. Die Provinz Weibo möchte ihre Eigenständigkeit gegen den Kaiser wahren. Deshalb soll der Gouverneur im Auftrag des Kaisers geötet werden.

Nie Yinniangs Konflikt entsteht, wie sie bei ihrem ersten Tötversuch ihren Cousin mit seinem Kind sieht. Das bringt sie nicht übers Herz. Weitere Versuche misslingen ebenso. Auch möchte sie ihm klar machen, durch wessen Hand er sterben werde, sie will sich ihm erst in einer Begegnung zeigen.

Diesen politischen Konflikt, der dem beispielsweise in Schillers Maria Stuart nicht unähnlich ist, Töten aus Gründen der Staatsraison, Töten aus Machtgründen, wird von Hsia-Hsien in sagenhaft schönes, ruhiges Kino verpackt mit viel Raum für die Schilderung des höfischen Lebens im Palast des Gouverneurs, die Gouverneursfamilie fast wie ein Standbild fürs Familienalbum und die Klatschpresse und der Bub darf mit einem Fußball spielen, trautes Gouverneursheim.

Die Ankleide und Schminkaktivitäten der Frauen unter Mithilfe von viel weiblichem Personal. Oder auch Krankenpflege. Es ist auch ein Interieurfilm, der viel Wert legt auf gediegene Ausstattung, Vorhänge, die leicht beweglich sind, spielen eine wichtige Rolle, auch für die Kamera, die diese Bewegung für traumhafte Farbeffekte nutzt und für Spiele mit Unschärfen.

Kampfszenen sind wichtig, Martial Arts, knapp und präzise inszeniert, auffallend hier vor allem auch durch ihre Lautlosigkeit. Und auch Tian, der in die Verbannung geschickt werden soll, weckt das Interesse von Kämpfern mit Tötabsichten; obwohl er die Verbannung lebendig erreichen soll.

Die Quintessenz ist so traurig wie bekannt, dass Menschen, die selbständig denken und gegen eine vermeintliche Staatsraison handeln, hier nichts zu suchen haben.

Es gibt andere einprägsame Figuren nebst dem Gouverneurshaushalt. Es gibt den Magier mit dem langen weißen Haar, der sein undurchsichtiges Spiel im Machtgame spielt mit von Hand ausgerissenen, papierenen Vodoo-Figuren, die ein Stück Eigendynamik entwickeln und es gibt den Spiegelhersteller, der sogar gut für eine Amoure mit der Protagonistin ist. Er weicht in seinem Bewegungsablauf leicht ab von der Geschmeidigkeit der professionellen Martial-Arts-Kämpfer im Film, er ist sofort individuell unterscheidbar, seine Bewegung ist geerdeter, nicht ganz so höfisch geschliffen, dassselbe gilt auch für sein Kostüm.

Im Vorspann skizziert Hsia-Hsien Hou knapp den Mordauftrag und setzt dem gegenüber eine höchst diffizile Szene mit dem anvisierten Mordopfer, dem Gouverneur, seinem Buben und einem Schmetterling.

Es ist eine hochstilisierte und auch hochsymbolische, stark reduzierte Kunst, mit der Hsia-Hsien Hou sein These bebildert, seine Geschichte erzählt mit Tendenz zur Porzellankunst. Auch das Schmucksymbol der Jedo Jade spielt eine Rolle und steht für Entschlossenheit – der Träger sollte wohl nicht fragen, wozu.

Der Film macht eine kleine Reise durch verschiedene Locations, hält ausgiebig inne (und kommt hierher auch immer wieder zurück) im Gouverneurspalast, macht Station beim General, beim Magier, beim Spiegelhersteller und streift als Außenpunkt wenige Male eine bäuerlich-ländliche Siedlung in Sichtweite zu Korea.

Es darf wohl als augenzwinkernde Ironie verstanden werden, dass nach dem Satz, dass das Schwert keine Emotion kenne, also der Satz für die Staatsraison, ein Schnitt zu einem ausführlichen Stilleben mit wiederkauenden, sich ausruhenden Ziegen bei diesem Außenposten der Provinz folgt.

Vom Musikalischen her baut Hsia-Hsien Hou viel Spannung auf mit konstantem, verhaltenem Trommeln im Hintergrund: es dräut etwas über der unbotmäßigen Provinz.

Paraiso – Was wiegt die Liebe?

Variation zu Botero.

Mexikanischer Diät-, Koch- und Liebesfilme aus einer beleibten Mittelschicht mit einem beleibten Paar, bei dem der Mann am Schluss des Filmes schlank geworden ist.

Es sind dies Alfredo, Andrés Almeida, und Carmen, Daniela Rincón, die konfliktlos noch bei den Eltern von Carmen auf dem Land leben. Sie wollen in die City ziehen. Die Umgebung warnt vor den Gefahren. Der Umzug wird geschildert mit vielen Details.

Das Leben läuft in diesem Film von Marina Chenillo nach einer Geschichte von Julieta Arévalo so alltäglich ab wie in einer Telenovela, jedoch nicht ganz so seifig.

Das Landeier Ehepaar wird beim ersten Bankempfang in der großen City belächelt. Alfredo arbeitet als IT-Spezialist bei einer Bank, während Carmen vorher noch bei der Steuerkanzlei ihres Vaters beschäftigt war. Die Angst wird artikuliert, dass sie in der City doch nichts zu tun haben werde.

Langweilen wird sich Carmen aber nicht. Ein belauschtes Gespräch in der Damentoilette hat sie aus ihrem In-sich-ruhendem Glücklichsein aufgeweckt, ob sie denn schön und attraktiv sei, fragt sich die Mollige, bleibt vor einem Institut zur Gewichtsabnahme stehen und lässt sich reinziehen.

Alfredo entdeckt die Broschüren. Und macht mit. Er wird das Programm erfolgreich absolvieren. Eine gegenläufige Bewegung. Er schenkt ihr ein Kätzchen. Sie mag Kätzchen nicht. Sie entdeckt ein Kochstudio im Wohnblock gegenüber. Sie fängt ein heimliches Leben gegen das Abnehmen an; so nimmt sie nicht ab.

Er hat eine flüchtige Begegnung mit einer Kollegin. Das trifft Carmen tief, die sich selbst den Seitensprung mit dem Kochen leistet.

Immer wirkt der Film, als sei die Regisseurin von der leinwandfüllenden Präsenz einer Botero-Frau, auf ihn gibt es einen kleinen Recherchehinweis, fasziniert, wie die in sich ruht, wie die nicht auf Kleinkariertheit sich einlässt, die wie ein Gestirn ein Eigenleben führt, ohne mit anderen in Konflikt oder in Wettbewerb zu geraten.

Momentweise wiederum wirkt der Film wie eine Lebenshilfefilm, ein Film, der Aufklärung zum Thema Übergewicht betreibt. Wobei er auf die Schilderung der schlimmen Folgen verzichtet, sondern genießbar einen attraktiven Gewichtsabnahme-Lehrer einsetzt und eine etwas ältere, bestechliche Gewichtsabnahmelehrerin.

Dann wiederum ein Film nach dem Motto: Geschichten, die das Leben schreibt. Angenehm und erheiternd, dass der Film aus Mexiko kein Drogenkriegsfilm ist und auch keiner, der in Lateinamerika immer noch so häufigen, die im Milieu und der Spannung aus Herrschaft und Bediensteten spielt.

Für wen dieser Film gemacht ist? Für den Mexikofreund, für den Lateinamerika-Freund, für den Freund des lateinamerikanischen Filmschaffens sowie die Freunde von Filmen mit dicken Frauen und auch jene, die die unaufgeregte RomCom der besonderen Art, über die die Regisseurin einen Sahneguss der allerüblichsten Art streut, nachdem sie sich eine Filmlänge davor bewahrt hat, insofern auch für die Freunde des leicht skurrilen Geschichtenerzählens, das sich nicht ständig dafür rechtfertigt, dass sie dies tut.

Am ehesten trifft es vielleicht die Behauptung: freie Fantasie inspiriert durch Botero und aufs Heute übertragen. Alfredo nennt Carmen „Speckelchen“ (laut deutscher Untertitelung).

Lou Andreas Salomé

Der Frau ist nicht beizukommen.

Lou Andreas-Salomé hat ein reiches Leben, ein kompliziertes Leben, ein produktives Leben geführt, einen vielseitigen, geistreichen Umgang gepflegt, über 75 Jahre von 1861 bis 1937 mit vielen Reisen und Beziehungen. Das ist in 113 Kinominuten nicht zu packen.

Aus all den Texten, Briefen, Büchern von ihr und über sie so viel rauszuholen und damit eine spannende Geschichte entstehen zu lassen auch für den Nichteingeweihten, dürfte ein Ding der Unmöglichkeit oder jahrelanger Arbeit sein oder ein Filmmacher müsste sich auf spezielle Themen und Aspekte, Beziehungen oder Lebensphasen beschränken.

Cordula- Kablitz-Post, die mit Susanne Hertel auch das Drehbuch geschrieben hat, will alles, will die ganz Lou erfassen.

Dieses Vorhaben erschwert sie sich selbst dadurch, dass sie vier Darstellerinnen für verschiedene Lebensalter der Lou verpflichtet und außerdem in der Chronologie hin- und herspringt.

Am dominierendsten ist Katharina Lorenz, die die Altersspanne von 21-50 Jahre abdeckt. Sie spielt vor allem eine große Schauspielerin, die Darstellerin einer großen Rolle, der man gerne zuschaut, bei der alles sitzt, wobei aber die Info, die eingestreut wird, dass sie eine der ersten Psychoanaltyikerinnen gewesen sei, doch eine merklich Diskrepanz zwischen Spiel und Berufsbehautpung spürbar werden lässt.

Das mag an Regie und Drehbuch liegen. Der waren vor allem die Männerbeziehungen, die als verrucht gegolten haben zu der Zeit, wichtig.

Hier ist es der milchgesichtige Rainer Maria Rilke, ein naives Jüngelchen, Julius Feldmeier, dann der Alkoholiker, der näher bei einem Fuhrmann als bei einem Dichter anzusiedeln wäre, Friedrich Nietzsche, Alexander Scheer, und als weitere Beziehung Paul Rée, der wenig Chancen zur Profilierung hat, nicht mal einen Schnauzer wie die beiden anderen und schließlich der Ehemann, der Russe Friedrich Carl Andreas, Merab Ninidze, dem sie die Scheinehe schenkt mit dem Verbot des Bettes. Man sieht, in welchen Wust der Berichtsversuch einen hoffnungslos hineinzieht.

Erzähltechnisch dröselt Cordula Kablitz-Post die Geschichte von der 72 Jahre alten Lou her auf. Nicole Heesters nimmt man ein vielseitiges, gelebtes Leben durchaus ab. Sie diktiert ihre Biographie einem Ernst Pfeiffer, Matthias Lier, in eine alte mechanische Schreibmaschine.

Die Schauspieler wirken wie Schauspieler, die ihre Texte für eine ehrerbietige Lesung vorbereitet haben; wodurch allerdings ihre Individualität, vor allem der entsprechende Eros, der zu Lou funken sollte, zu kurz kommt.

Dann tritt auch noch Sigmund Freud auf und Lou legt sich auf die Couch, offenbart Geheimnisse ihren positiven Narzissmus betreffend, der alle Männer unglücklich gemacht habe; ein Schlüssel zu dieser Eigenschaft liege im frühen Verlust des Vaters, der eine Ablösung von dieser Figur vereitelt hat (wobei hier im Film auffällt, dass alle diese Männer bereits unglücklich sind, wenn sie Lou das erste Mal begegnen).

Prickelnd ist die Szene mit dem verheirateten Pastor Gillot, der sich in die erblühende Lou verliebt; hier wird sie aufregend verkörpert von Liv Lisa Fries.

Frösteln macht einen Katharina Schüttler als von der alten Lou adoptierte Marie, die sich von Pfeiffer in ihrer Position gefährdet sieht.

Alle diese Geschichten kommen nicht über das Anskizzierte hinaus, so können auch die Figuren nicht genügend studiert werden und der Kamera von Matthias Schellenberg bleibt kaum eine Chance, Räume plausibel einzuführen; schön sind die Szenen, die aus Postkarten entstehen, resp. in denen sich die Akteure in Postkartenbildern bewegen oder in alten Fotografien; das ist nett gemacht.

Die Wuselmusik trägt wenig zu einem klaren Bild bei, was sich im Gedächtnis festmachen könnte. Ob das so ein glücklicher Einfall ist, die alte Lou ihr Leben der Schreibkraft erzählen zu lassen?

90 Minuten – Bei Abpfiff Frieden

Gegenüber der vorgeblichen Komödie „Atomic Falafel“ ist dieser Film von Eyal Halfon nach dem Buch von Itay Meirson ein Glanzlicht. Während im „Atomic Falafel“ die platte Realität geschildert wird, aber so getan, als sei es eine Komödie, nutzt Eyal Halfon das Genre des falschen Dokumentarfilmes, um die unglaublichen Zustände zwischen Israel und den Palästinensern drastisch zu schildern.

Den Vorwand für diese Schilderung liefert die geniale Idee zur endgültigen Lösung des jahrzehntelang schwelenden, immer wieder von grausamen Kriegen unterbrochenen Palästinenserkonfliktes, der durch die aktuelle israelische Regierung noch weiter vom Frieden weg sich entfernt denn je: ein Fußballspiel zwischen den beiden Nationalmannschaften soll entscheiden: der Sieger darf im Land bleiben, der Verlierer muss sich eine neue Heimat suchen und ausziehen.

Dieser Prozess wird jetzt sozusagen dokumentiert. Dem kommen ständig die Divergenzen zwischen den beiden Völkern oder Staaten in die Quere. Allein schon die Suche nach einem geeigneten Stadion. Es wird sich für Portugal entschieden.

Wer darf in welcher Mannschaft spielen? Ist die Herkunft der Spieler auch lupenrein? Wie wollen die Palästinenser trainieren, wenn sie ständig an der Grenze zu Gaza hängen bleiben, schikaniert von den Israelis? Wie kann man einen israelischen Staatsbürger und Fußballer, der aber Palästinenser ist und dort spielen möchte, unschädlich machen? Wer bekommt welche Freikarten für das Spiel?

Klar ist auch, dass sich Halfon mit dieser Story ein Problem für das Ende eingehandelt hat, das so oder so eine Einstaatenlösung bringen wird. Und klar ist auch, dass er sich nicht entscheiden wird für einen bestimmten Sieger. Mehr soll nicht verraten werden, allerdings hätte ich mir für die Lösung doch etwas mehr abgründigen Zubeiß-Humor gewünscht, der sich aus der Illusionslostigkeit über die Unlösbarkeit des Konfliktes nährt.

Der Film illustriert die total zerfahrene Situation, dass eigentlich kein Gespräch zwischen den beiden Parteien möglich ist, nicht mal im Fußball, immer geraten sie sofort aneinander; weil es kaum Worte und Begriffe gibt, die nicht mit einer Bedeutung und einer Beziehung zum Konflikt belastet sind. Das ist gut für viele Pointen.

Die FIFA heißt hier IFA. Zumindest von der haben wir noch nicht gehört, dass sie korrupt ist, weil wir noch nichts von ihr gehört haben. Der Trainer der Israeli ist ein Mann namens Müller, Detlev Buck spielt ihn als einen, der sich nur für Sport interessiert und für nichts anderes.

Der Hintergrund für die Geschichte wird anfangs mit einem raschen Zusammenschnitt von Schwarz-Weiß-Fotos aus Israel und Palästina geschildert, der keinen realen Horror auslässt.

Wobei mir ein Problem scheint, dass die Palästinenser weniger zu verlieren haben, sie leben auch heute noch überwiegend provisorisch und oft ärmlichst, während die Israelis seit über 60 Jahren ihre Festung und ihr Gärtlein ausbauen, mit Siedlungen sich völkerrechtswidrig ausdehnen, mit allen Mitteln verteidigen und um sich schießen wie wild und töten dafür und mörderische Kriege mit irre überlegener Militärmacht führen. Sie haben 60 Jahre Aufbau zu verlieren.

Die Palästinenser haben Lager zu verlieren und vielleicht eine korrupte Regierung und ein Angriffsziel für Terror – das könnte die größte Leere hinterlassen. Und natürlich gibt es in beiden Ländern Protest dagegen; die Aussicht auf Veränderung erschreckt die Menschen. Da das Spiel nur fiktiv stattfindet, werden Palästinenser und Israeli fortfahren, sich gegenseitig das Leben zur Hölle zu machen und ihre politischen Führer holen persönlichen Profit aus den Feindbildern, bauen ihren Thron auf der Armierung durch Feindbilder. Die Komödie jedoch, hat durch diese Ausgangslage einen leicht schiefen Boden, auf dem sie sich aber immer noch recht vergnüglich abspielt.