Wieder so viele neue Filme. Mein Favorit ist The Whispering Star, der mit einer ungeheuren Leichtigkeit die größte Distanz zur Kleinkariertheit und zum Hickhack der Welt schafft, ohne diese zu ignorieren, ja indem er das sogar großartig einbaut und zudem einen stark dokumentarischen Blick auf Fukushima und die Folgen wirft. Einblick in die Flüchtlingsarbeit in Persien bietet Sonita, wobei die Dokumentaristin zur glücklichen Wendung der Geschichte gegen das Prinzip des Dokumentarfilms einen starken Schubs verleiht, während Urmila über das Mitleidige mit der jungen Frau, die sich in Nepal aus der Sklavschaft befreit hat, nicht hinausreicht. Hollywood-Klassenclown George Clooney beschäftig sich in Money Monster nonchalant und nicht allzu betroffen mit den Folgen mieser Finanzbetrügereien, bietet dem reingelegten Kleinanleger voodoomäßig die Chance, Rachegefühle auszuleben. Mit deutlich mehr Biss und Humor wartet zum Thema Demokratie Mein Praktikum in Kanada auf, mit einem unverdorbenen, wachen Geist aus Haiti namens Souverain. In Sing Street verschmelzen die Nostalgie nach der Musik der 80er und dem Coming of Age zu einer runden, gefühlvollen, nichtsdestotrotz präzisen Story, während Warcraft: The Beginning mit Dolby Atmos und viel Nahaufnahmen kriegerische Auseinandersetzung in uns vertrauter Ikonographie in einer Mischung aus Mittelalter und schwäbischer Fasnet in uns hineininjiziert. Bei drei weiteren, deutschen Neustarts sind überall gute Ansätze da, aber es hapert an allen Ecken und Enden, vor allem bei den Büchern, da sollten sich die Highpotentials doch besser aufschlauen, bevor sie zu drehen anfangen: Ente gut! fasziniert zwar mit seinen beiden bildhübschen Vietnamesen-Girlies, leidet aber leidet enorm unter der fernsehredaktionellen Vorgabe, ein besonderer Kinderfilm sein zu sollen, Outside the Box ist nach einer gelungenen Exposition restlos von sich begeistert und glaubt, damit auf die weitere Ausarbeitung verzichten zu können und Der Nachtmahr schafft es erst ganz am Schluss, eine Beziehung zwischen dem Teenage-Girl und dem schnuckeligen Trickwesen herzustellen.
Archiv für den Tag: 26. Mai 2016
The Whispering Star
Ein Fukushima-Film der etwas anderen Art von Sion Sono mit einem Plot-Konstrukt, das ihn vor jeglichem Fingerzeig oder Moralin bewahrt, das das krampfige Zusammengestöpsele einer Frau Dörrie mit Grüße aus Fukushima, das noch marktschreierisch den Katastrophenort im Titel führt, in seine mickrigen Grenzen weist.
Es geht eben nicht um Fukushima. Die Story ist eine ganz andere. Trotzdem erfährt man über Fukushima mehr und Drastischeres als im ganzen Dörrie-Brimborium.
Die Schauspielerin Megumi Kagurazaka ist als Yoko Suzuki in einem einzigartigen Gartenhäuschen von Raumschiff und Jahrtausende von unserer Zeit entfernt als Gepäckbotin unterwegs.
Die Kartons sind hinter einem Netz im hinteren Teil ihres Raumschiffes gestapelt. Sie ist Android ID 722, ein Roboter mit künstlicher Intelligenz; immer wieder muss sie ihre Batterien neu aufladen.
Sie hat lange Fahrten, teils jahrelange Fahrten von einem Empfänger zum nächsten. So eine Auslieferung kann sich um ein paar Jahre verzögern.
Der Film macht in unerschiedlichen Frequenzen Zeitangaben, immer wieder ist ein neuer Wochentag, mal sind auch ganz genaue Uhrzeiten angegeben, immer in Weiß auf Schwarzbild.
Dazwischen tropft der Wasserhahn oder Yoko muss niesen. Unter einer Deckenlampe zappeln Insekten, die sie bei einer Landung aufgefangen hat. Vor ihr das endlose Weltall. Der Mensch im In-der-Zeit-Sein, in seinem Sein, im Im-Raum-Sein, vielleicht im Bei-Sich-Sein, wenn sich gar nichts tut, eine Ruhe, wie sich frühere Romanautoren von einem Schrankenwärterdasein versprochen haben.
Einsam im All unterwegs. Es gibt eine Bodenschrubbaktion, Tee wird getrunken. Das Raumschiff ist altmodisch ausgestattet. Es selbst ist ein Roboter, seine Maschine gibt lustige Geräusche von sich, auch mal kommentierend zu Yoko.
Die Übergabe der Pakete ist ein genauer, konkreter Vorgang. Die Empfänger müssen auf einem Doppel der Adresse unterschreiben, das nimmt die Gepäckbotin an sich. Die Pakete sind nicht verschnürt, die Deckel öffnen sich leicht. Drin sind Alltagsgegenstände wie ein Hut.
Für den Film hat Sino als Empfängerdestinationen Sets aus und um Fukushima gewählt. Die Empfänger sind realiter Menschen, die durch die Atomkatstrophe vertrieben worden sind.
Es herrscht eine großartige Ruhe in dem Film. Es kommen auch richtige Menschen vor, die sind lärmempfindlich, höchsten 30 Dezibel ertragen sie in dem eh schon leisen Film, in dem aus einem anderen Saal womöglich die Bässe von „Batman vs Superman“ rüberdonnern, was diese gegen die unendlichen Leere der Zeit bemerkenswert verfremdet und in gartenzaunenge Schranken weist.
Die richtigen Menschen sind allerdings nur Schattengeschöpfe. Hier hat Sono ein zauberhaftes, reiches Schattenspektakel von Spiel und Freude und Respekt und Zuneigung durch ellenlange von hinter den Wänden erleuchteten Fluren inszeniert. Hier gibt es Musik der Romantik, des Höfischen, des Verspielten, des Klassischen; sonst gibt es an Musik nur noch das Ave-Maria bei Frau Ingrid Coach auf dem Stern P. Zero. Und nur für eine Paketübergabe wird ein Wandelement, das wirkt wie die Schiebtüren japanischer Behausungen, kurz geöffnet. Schattenmenschen, Höhlenmenschen.
Nur die Roboter existieren wirklich in der Weltallrealität. Eine Welt von Philosophie, Poesie und Dadismus, die gespenstisch dadurch wirkt, dass die Menschen und die Robotermenschen, wenn sie sich bewegen, keinen Ton von sich geben, wenn nicht gerade eine leere Getränke-Aludose sich hartnäckig an einem Schuh festklemmt; welches Geräusch dann über lange Strecken den Takt vorgibt. Das hindert den Menschen nicht in seinem So-Sein und Da-Sein und Materie-Sein, Sache-Sein, in seinem Zur-Sache-Sein, in seinem In-der-Zeit sein, verfangen in der Dinglichkeit. Die Währung in dieser Welt heißt Kikki.
Warcraft: The Beginning
In diesem Film von Duncan Jones (Source Code), der mit Charles Leavitt auch das Drehbuch geschrieben hat, werden Ängste von friedlichen Bürgern vor fremdartigen Invasoren bebildert. Von dem Hintergrund der Hysterie, mit der hierzulande die Diskussion über die Flüchtlinge geführt wird, könnte man meinen, bei den Flüchtlingen handle es sich um Orcs, wie hier im Film, die zu uns drängen, aus einem unbekannten Jenseits von hinter einem „Portal“.
Die Orcs sind die Gefahr. Es sind Wesen ohne Bildung, Riesen mit Walrosszähnen und auch mal mit Nasenringen versehen, mit larvenhaft ausufernden Knautschgesichtern, mit Kostümierungen wie grimmige Fasnetfiguren oder Winter- und Teufelaustreibgesellen, in unserer Kultur regional gut bekannt und verbreitet, also durchaus mit anheimelndem Wesen. Oder sie erwecken Assoziationen ans anthropologische Museum mit seinen Ausstellungstücken indigener Kulturen. Sie leben in Horden.
Die guten Menschen kommen nicht aus Sezuan, sondern leben in Azeroth. Auch das ist ein uns gut bekanntes Milieu: Fachwerkhäuschen und Türmchen, dicht an dicht, Bücher in enormer Anzahl gibt es und redliches Handwerk, das Rüstungen und Schwerter schmiedet und einen König, Lothar, der ein persönliches Drama erleiden und ein beachtliches Opfer bringen wird. Das uns bestens vertraute Mittelalter, ein übersichtliches Faszinsoum mit viel Nostalgiewert noch ohne Handys und Telefon, ohne Computer und Fernsehen; aber mit heftigen Eingriffen der Computerpostpro.
Beiden Welten ist gemeinsam, dass sie Anführer haben, ergo auch Machtkämpfe, dass es bei ihnen Verräter gibt, dass es Figuren gibt, die sich fragen, ob die Welt nicht auch ohne Krieg bewohnbar sei, dass sie gegenseitig Gefangene machen, die zumindest in Azeroth hochanständig behandelt werden, wie der Umgang mit Garona, dem urtümlich auf sexy getrimmten Orcweib, zeigt. Gemeinsam ist beiden Welten der Hang zur Magie, was die Computerkünstler zügellos nutzen für Riesel-, Quirl- und Verschwurbelleffekte, Blitz- und Lichtlinien, die sich zu Faradayschen Käfigen formen oder sich als leuchtstarke Spinnweben verschwiemeln, und das magische Grün in den Augen der Akteure, das giftige.
Vertraute Topoi, lustigerweise in der Orc-Welt, stammen aus der Bibel: das Weidenkörbchen, in welchem der prädestinierte Nachwuchs auf einem Fluss ausgesetzt wird, die heilige Familie mit Kind in einer Hütte aus Geäst. Und der Verräter bei den Menschen, Medivh, sieht im Moment der Offenlegung seines Verrates aus wie Jesus auf vielen Gemälden und Bildern.
Die Bildwelt dieses aufwändigen Filmes dürfte also dem Konsumenten deutlich vertrauter sein als jene aus dem Marvel-Universum mit seinen Superhelden, auch die grünen Wälder und bergigen Schluchten, und sogar das Reh in der Natur kommt vor. Es fehlt nicht viel und diese Ikonographie erinnert gar an miefig-abgestandene, verwohnte Stuben oder an Spelunken-Stammtisch-Ästhetik. Wobei der Flug mit dem mächtigen Greif, dem Flugvogel, als Formulierung für die Sehnsucht abzuheben und die Schwingen zu heben sich nahtlos einfügt; der kann auch Orcs ganz nebenbei eine tüchtige Abreibung verpassen.
Mittelalterliche Schlachten und Heerscharen, Gemetzel. Der Zuschauer ist durch die vielen Nah- und Großaufnahmen mitten drin in dieser schlägerischen Auseinandersetzung zwischen Archaik und Zivilisation – die – wie poetisch – noch einen Hinweis auf Novalis, auf die Blaue Blume, animiert als ephemeres Wesen, enthält.
Ein Satz, der nah an der heutigen Politik liegt, die Orcs seien eingeladen, gerufen worden.
Ein Schlachtenepos, dem sich kaum zu entziehen ist, zumindest wenn der Film wie bei der Pressevorführung in Dolby Atmos gezeigt wird, einer Rundumbeschallung, der nicht auszuweichen ist, (und noch 3D dazu), wobei der Ton einem näher geht, so dass ich nach dem Kinobesuch noch minutenlang das Gefühl hatte, mir fehlt etwas; ich hätte meinen Schutzhelm im Kino liegen gelassen. Ein Kino was einen allein durch diese technische Tüftelei und Innovation mit 118 kombinierbaren Soundobjekten umfängt, unabwehrbar physisch in einen eindringt.
Symbolisch hochaufgeladen sind Begriffe wie das Fell, das Portal, der Dämon garniert mit der Erkenntnis: dass das Alleinsein schwach mache. Die Aufopferung von König Lothar zur Rettung des Friedens findet ein feierlich staatstragend krönendes Schlussbild mit Katafalk und Massenveranstaltung.
Mein Praktikum in Kanada
Wenn Demokratie so leicht wäre, wie Philippe Falardeau sie hier wunderbar leicht darstellt, dann wäre sie tatsächlich ein Leichtes.
Falardeaus letzter Film, Monsieur Lazhar, war nicht ganz so leicht, hat einen Schmerzpunkt getroffen. Diesmal unterhält Falardeau uns leicht und lustig, fast launig mit den chronischen Anfälligkeiten der Demokratie.
Falardeau setzt der gesättigten, eingeschmierten auf Äußerliches und Formelles reduzierten und von Aushöhlung bedrohten Demokratie ihr ursprüngliches Ideal entgegen, das hier vertreten wird durch Rousseau, Montesquieu und Tocqueville, gelesen und zitiert von der Hauptfigur Souverain Pascal, wunderbar politisch blauäugig aber schnell raffiniert und mit Einsprengseln von Slapstick gespielt von Irdens Exantus.
Souverain ist intellektueller Nachwuchs aus Haiti, hat Politikwissenschaft studiert und die Lektionen der Demokratie gelernt. Er möchte sie jetzt als Praktikant in Kanada in der Praxis erfahren und studieren. Zu diesem Behufe hat er Unmengen von mehrseitigen Bewerbungen verschickt. Der einzige, der überhaupt geantwortet hat, ist der Provinzpolitiker Steve Guibord, ein ehemaliger Eishockeynationalspieler, der wegen einer Aviophobie seine politischen Ambitionen auf mit Auto oder Schiff erreichbare, regionale Größenordnungen beschränken muss.
Guibord wird sympathisch und leicht botoxhaft von Patrick Huard gespielt in Jeans und Karohemd und gerne einem Baum zum Pflanzen auf dem Autodach. Aber das ist so eine Aktion, die immer wieder zurückgestellt werden muss, denn plötzlich steht Guibord im Fokus nicht nur der kanadischen, sondern der internationalen Politik.
Es geht um einen, so wird es im Film erzählt, künftigen Auslandseinsatz der kanadischen Armee. Im Parlament steht ein Patt bevor, weil eine Abgeordnete erkrankt sei. Guibord, über den sich auf kanadisch-französisch auch Wortspiele machen lassen, wird das Zünglein an der Waage spielen, für oder gegen den Einsatz.
Viele Interessen und Interessengruppen nagen an ihm. Sogar der Premier lädt ihn ein, eine eindrücklich schräge Szene, in der die Musik von Scaralatti dominiert. Souverain wird schnell zum Spin-Doctor des überforderten Provinzpolitikers avancieren.
Der Praktikant hat die glückliche Idee mit der Befragung der Wähler, denn Guibord steckt im Dilemma, dass er persönlich gegen den Krieg votieren würde, die Regierung von ihm aber eine Pro-Stimme erwartet und ihn mit einem Ministerposten ködert. Wodurch der Startschuss zu einem kleinen Roadmovie durch die Provinz Prescott-Makadewá-Rapides-aux-Outardes gegeben wird, was einen Einblick in die Probleme des Bergbaus, des Raubbaus am Wald, der indigenen Algonkin (die ein Wigwam und nicht ein Tipi benutzen) und zu wunderbaren Flugaufnahmen über die weiten Wälder und Seen mit sich bringt.
Sein Wahlkampfteam besteht aus seiner Familie. Der ehrgeizigen, gesichtsgeschliffenen Gattin Suzanne, Suzanne Clément, die selbst eine Baumschule betreibt, der kumpelhaften, rundlichen Tochter Lune, wie der Mond, friedensbewegt dargestellt von Clémence Dufresne-Deslières, sie sorgt für die Internetpräsenz von Papa und will ins Ausland nach Dänemark, allesamt schön herausgearbeitete Charaktere, die zur Zuspitzung der Konflikte das ihre beitragen. Mit leichten Regiedirektiven werden die Schauspieler zu schönen Charakteridfferenzierungen geleitet.
Der Praktikant gibt seine Demokratielektion aus Kanada per Skype an eine stetig wachsende Zuhörerschaft in Haiti weiter. Diese wiederum erteilt ihm Ratschläge und ist überzeugt, am Drücker der Weltpolitik zu sitzen.
Zur Untermalung mit teils indianischen, teils haitischen Klängen kommen die wunderbaren Sprachlaute des kanadischen Französisch, des Quebecois hinzu, teils ins Ordinäre abdriftend und dadurch eine schräge Sprachmusik erzeugend; bitte keine deutsche Nachsynchronisation.
Neckisch gelegen ist auch das Hauptquartier des Abgeordneten Guibord direkt über einem Ladengeschäft mit pikanten Dessous „Les Dessous petillantes“ (prickelnde Unterwäsche). Zu seinem Büro muss man durch diesen Laden hindurch. Hier wird Politik nicht zur Kunst des Möglichen, sondern des Unmöglich-Möglichen stilisiert, mit viel humoristischem Beifang.
Sonita
Dokumentation als Märchen, zu dessen Wahrwerdung die Dokumentaristin nachhilft. Dies legt sie offen und bietet gleichzeitig Einblick in Verhältnisse, in die wir nicht unbedingt reinkommen, in die Betreuung unbegleiteter afghanischer Flüchtlinge in Teheran.
Sonita ist ein junger Flüchtling. Der Vater ist gestorben, die Mutter in Afghanistan, einige der Geschwister sind in Iran, einige in Afghanistan.
Sonitas Traum ist es, Rapperin zu werden. Das lässt der strenge Islam in Iran nicht zu. Sonita entwirft ihren Traum in einem Oktavheft, in das sie Bilder bekannter Solisten und Rapper klebt, die sie mit ihrem Gesicht versieht.
Zum großen Konflikt für sie wird die Forderung der Familie aus Afghanistan, sie verheiraten zu lassen für 9000 Dollar, damit einer ihrer Brüder seinerseits eine Braut kaufen kann. Ihrer Mutter ist es nicht anders ergangen. Sie hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden, 8 Kinder zur Welt gebracht und ist früh gealtert.
Dass sich die Dokumentaristin Rokhsyareh Ghaem Maghami mit Sonita eine besondere Begabung als Protagonistin für ihren Film ausgesucht hat, wird ersichtlich bei Theaterszenen im Heim, in dem Sonita wohnt. Sie sollen Szenen aus ihrem Leben mit den anderen Kindern nachstellen, zuerst so, wie es wirklich war, das belastet die Seele ziemlich, kann sie aber auch in einem Weinanfall befreien und dann so, wie sie es sich vorgestellt hätten. Bannende Inszenierung, Eindruck überbordenden Talentes.
Beinah wäre der Dokumentaristin ihr Objekt abhanden gekommen; die Mutter kommt aus Afghanistan zu Besuch und möchte die Tochter zur Verheiratung mitnehmen. Für 2000 Dollar würde sie sie noch zwei Monate da lassen. Ob das Dokumentarfilmteam die aufbringt?
Hier wird kurz pausiert für einen Diskurs darüber, was Dokumentarfilmerei darf, nämlich die Realität zeigen, nicht aber in sie eingreifen. Die Filmerin schlägt trotzdem einen Deal vor, macht die 2000 Dollar locker und rettet damit das Märchen für den Film und so auch den Film. Dieser bietet Einblicke in den unsicheren Alltag von Flüchtlingen, die leicht ihre Wohung verlieren können, die nur provisorisch eingerichtet leben, aber auch in eine Betreuungsinstitution in Teheran, die sich kümmert um die oft traumatisierten Flüchtlinge. Sichtbar werden die Machtstrukturen und politische Lage in Iran und in Afghanistan. Man kann nur lachen darüber, dass Afghanistan für die Bundesregierung ein sicherer Drittstaat sein soll.
Mit den 2000 Dollar an die Mutter holt die Filmemacherin zwei Monate mehr Drehzeit heraus. Diese nutzt sie, um ein Demotape von Sonita nach Amerika zu schicken. Tatsächlich wird ihr daraufhin ein Stipendium offeriert. Das ist die andere Seite der Amerikaner, großzügig Talente fördern, und so Balsam auf die Wunden streichen, die die kopflosen Kriege in Afghanistan und Irak angerichtet haben.
Wobei die Beschaffung eines Passes in Afghanistan ein eigenes Abenteuer mit ungewissem Ausgang ist; besonders schwierig für eine junge Frau, die keine Papiere hat und als Flüchtling illegal in Persien lebt.
Money Monster
Voodoo für den kleinen Mann, der die Zeche für die Betrügereien der Finanzjongleure bezahlen durfte und immer noch darf; jetzt zeigen wir es denen mal, stellvertretend für alle picken wir Walt Camby (Dominic West) heraus und stellen ihn in einer TV-Life-Sendung an den weltweiten Pranger, überführen ihn seiner Lügen. Wie gut das tut, endlich passiert mal Gerechtigkeit.
Um dahin zu kommen, gehen wir von einer Börsen-TV-Show aus. Der bekannte Moderator Lee Gates (George Clooney) ist ein bekannter Stimmungsmacher und Stimmungstreiber für das Geschehen an der Börse. Er hat die Aktien des Unternehmens von Camby hochgejubelt als absolut sicheren Tipp, sicherer als Sparguthaben. Was leider nicht stimmte, denn über Nacht haben diese Aktien 800 Millionen an Wert verloren.
Einer der Betrogenen, der sein kleines Erbe aus dem Haus seiner Mutter, 60’000 Dollar, in diese so sicheren Aktien gesteckt und jetzt verloren hat, schleicht sich in die Sendung von Gates, nimmt ihn zur Geisel, bindet ihm eine Sprengstoffweste um, droht ihm mit dem Leben. Alles live.
Solch unerwarteten Ereignisse zu spielen, ist eine knifflige Angelegenheit für Schauspieler, was ist jetzt Show, wo und wie lange lässt so ein Showmaster sein Kameraface fallen? Clooneys Lösung lässt Spielraum in Richtung Glaubwürdigkeit der Überraschung zu; dass er sich nachher fängt und mit seinen persönlichen als in diesem Fall auch rollenbedingten Spielroutinen über die Geiselnahmegeschichte jongliert, das passt.
Dagegen braucht Julia Roberts als Patty Fenn, die die Studioregie führt, insofern keinen großen Unterschied in ihrer Figur herausheben, als sie diese von Anfang an als hochkonzentriert besorgte Person anlegt.
Das Drehbuch von Jamie Linden, Alan Difiori und Jim Kouf ist ordentlich gedacht, hat sich die Folgen eines solchen Ereignisses gut überlegt, bringt auch einige der Machenschaften der Geldzocker an den Tag.
Dass der Film meines Erachtens trotzdem eher fürs TV geeignet ist, dürfte an der Regie von Jodie Foster liegen, die gerade bei Clooney die Differenz zwischen Show und Ernstfall nicht genügend herausgearbeitet hat, mag aber auch an anderen Gewerken liegen, Kamera und Schnitt vielleicht, die dem Film nicht diesen Schwung zu verleihen vermögen, dass er einen so richtig hineinzieht, wobei, das was zu sehen ist, als solches unterhaltsam und auch für manche Pointen gut ist; aber wenn der Reallife-Effekt nicht ganz sauber herausgearbeitet ist, so bleibt man als Zuschauer doch schnell distanziert.
Es mag auch an der Besetzung der beiden Bösewichter liegen, des kleinen Mannes, der aus Verzweiflung zu diesen Terrormitteln greift, Jack O’Connell als Kyle Budwell, wirkt zu eindimensional, vielleicht auch zu sehr darauf bedacht, dem Clooney ja nichts an Show zu stehlen und auch dem Oberhalunken scheint das Castingdepartment nicht allzuviel Gewicht beigemessen zu haben.
Außerdem, dafür dürften vor allem die Autoren und die Regie zuständig sein, droht der Film im Gefühlssumpf des Psychosozialen abzusinken, speziell in der Phase, in der die schwangere Freundin von Kyle ins Spiel kommt und auch, wie sich die erwartbare Kumpanei zwischen Geisel und Geiselnehmer entwickelt und erst recht, wie Clooney fast wie ein gütiger Opa der Geiselnahme zu einem halbwegs gelungenen Ende verhilft und den Obergauner entlarvt, ein aufrechter Held und dann noch die rührende Entdeckung, dass der Kameramann unbeirrt seinen Job gemacht hat; das wäre allerdings einer näheren Betrachtung wert.
Urmila
Ein großes Thema: Freiheit des Menschen versus Unfreiheit/Sklaverei.
Ein exotisches, herzerweichendes Beispiel, Kamalari, Sklavenmädchen in Nepal und eine sympathische, hübsche Protagonistin als Repräsentantin der Sklavenmädchen und auch von deren Befreiungsbewegung FKDF (Freed Kamalari Development Forum): Urmila, 23, die sich nach 12jähriger Haushaltsklavschaft mit 18 selbst befreit hat, ihre Eltern haben sie im Alter von 6 Jahren aus Armutsgründen hergegeben.
Heute will sie ihre Bildung nachholen, um Rechtsanwältin zu werden; heute schon ist sie in der FKDF engagiert.
Stoff genug für einen spannenden bis brisanten Dokumentarfilm.
Susan Gluth, die an der HFF München ausgebildete Dokumentaristin, geht ihr Thema nach der bei Münchner Dokumentartaristen bereits mehrfach diagnostizierten „Mäuschen-spielen“-Methode an.
Die verlangt immerhin, ein Vertrauensverhältnis und Gewohnheit im Umgang mit dem Objekt des Interesses aufzubauen. Dies besteht aus mehreren Reisen nach Nepal, einmal auch nach Oslo zum Oslo Freedom Forum, ein paar pastellene Landschaftsnaufnahmen aus Nepal, einmal kurz Religionsfolklore dazwischenschneiden, sonst Urmila mit Papa, Urmila mit Mama, im Wohnheim für befreite Mädchen, in der Schule oder bei Theaterproben, bei denen Szenen aus dem Leben der Sklavenmädchen nachgestellt werden.
Weiterer Doku-Beifang ist Material mit dem deutschen Helfer Andreas, der in Nepal zu Besuch weilt, Befreiung eines Mädchens auf dem Weg in die Sklavschaft auf einem Busbahnhof im Beisein der Polizei, Bilder von Demonstrantinnen, die gegen die Polizei anschreien.
So entsteht eine Materialsammlung, die über das rein Touristische hinausgeht, weil es doch Urmila folgt, es wirkt aber insofern beliebig, als die Dokumentaristin nur Mäuschen spielt, gerade mal eine Szene mit den Eltern inszeniert, in der diese erzählen sollen, wieso sie das Mädchen damals weggegeben haben, es war die pure Armut, aber nirgendwo keinerlei Nachfragen, kein Nachhaken, auch nicht der Versuch, Zusammenhänge zu ergründen oder auch die Seite der Herrschaften, die solche Mädchen halten, zu Wort kommen zu lassen; es fehlt der journalistische Biss, die Neugier nach dem Funktionieren der Organisation der Befreiungsbewegung oder eine ebensolche Frage nach dem „Oslo Freedom Forum“, warum Urmila dort in prächtig folkloristisch nepalesischer Tracht vors Mikrophon tritt; das Funktionieren von solchen Organisationen und wie sie offenbar immer wieder Protagonisten, die gewisse Anforderungen erfüllen, suchen.
Es gäbe so viele Fragen, denen man nachgehen könnte; was ist die Motivation von Andreas, bekommt er seine Hilfe bezahlt, ist er in einem Netzwerk oder einer Organisation oder macht er das rein privat? Es gäbe in diesem Umfeld genügend Dinge zu recherchieren.
Aber, um an deutsche Fördergelder zu kommen, reicht es vollkommen aus, einen an sich rührenden Fall eines solchen Mädchens aufzuspüren, um damit die Reisen und die Arbeit zu finanzieren. Wobei der Dokumentarist oder die Dokumentaristin unbedingt offenlegen soll, wie die finanzielle Entschädigung für Urmila ausschaut, ist sie am Erfolg des Filmes beteiligt? Ist sie beteiligt an Einnahmen aus allfälligen Ausstrahlungen am Fernsehen oder vom DVD-Verkauf, wird sie beteiligt an den Kinoeinnahmen? Oder wird sie wieder nur ausgenutzt wie bereits als Sklavenmädchen?
Sing Street
Bewältigung des Coming-of-Age mittels Gründung einer Band.
Conor, Ferdia Walsh Peelo, ist mitten in diesem Prozess, der noch erschwert wird durch die sozial-ökonomische Krise zu Hause, die Ehe der Eltern im Eimer.
Immerhin hat er im älteren Bruder Brendan einen ihm freundlich gesinnten Menschen. Die ökonomische Krise zu Hause hat zur Folge, dass Conor an eine billigere, kirchliche Schule wechselt, die von Jesuiten geleitet wird: nur schwarze Schuhe sind akzeptiert, der Ton ist rau, die Disziplin schwächelt.
Conor verliebt sich in Raphina, Lucy Baynton, die wie ein Model vor ihrer Haustreppe sich den Jungs auf dem Schulweg provokant präsentiert, Zigarette in der Hand. Sie setzt in Conor die Kreativität zur Erfindung einer Band in Gang, um an sie ranzukommen. Sie selbst möchte Model werden und träumt vom Ausbruch aus Irland nach London. Viele träumen hier so.
John Carney, Autor und Regisseur dieses Filmes (Can a Song save your Life) bleibt dicht am Leben, somit auch dicht an diesem großartigen, irischen Dialekt, der für unsereins ab und an kaum verständlich ist; was dem zwingenden Charme der Geschichte keinen Abbruch tut; bewahrt diese Filmpreziose vor einer deutschen Nachsynchronisation!
Carney neigt sich seinem Objekt und Thema zu, als drehe er einen Super-8-Film über die Realität Mitte der 80er Jahre. Er hat in Ferdia Walsh Peelo einen jugendlich-unverdorbenen Darsteller, der auch für seine großartig gecasteten Bandmitglieder die Offenheit, diese Neugier so rüber bringt, dass auch der Zuschauer bei aller Abgebrühtheit nie ganz sicher ist, wie das nun ausgehen wird; ob die Band, die in einem liebevoll spießig ausgestatteten Wohnzimmer, das mit allen nötigen Instrumenten von Keyboard über Elektrogitarre und Drums und vielen anderen Instrumenten vollgestellt ist, ob die Band, die sich „Sing Street“ nennt, es überhaupt zu einem Auftritt bringt; denn nie verliert Carney aus dem Blick, dass es sich dabei um einen Überbrückungsversuch zum Aushalten der Verlegenheit der Lebenssituation ist, der Zwang zur Schule, der die Interessen nicht deckt bei gleichzeitigem Mangel an belastbaren Alternativen und dann noch die Unruhe, die die Mädchen verursachen.
Das ist eine der großen Stärken von Carney, das Leben im Film so darzustellen, als ob er eine Dokumentation macht, wenn die Band ihr erstes Video dreht, die köstlichen Klamotten, mit denen sie erscheinen und Raphina, die lang erwartet doch noch auftritt und unbedingt die Mitglieder schminken möchte.
Wie sich die Jungs an die Musik herantasten, wie der älter Bruder Brendan Connor einige Platten zum Hören gibt, wie Connor mit dem einen Kollegen Lyrics ausprobiert. Und immer wieder die nahe und doch unerreichbare Raphina, die viel sicherer und abgeklärter erscheint und tut als sie in Wahrheit ist; sie ist ein Jahr älter als Connor, wirkt aber deutlich weiter und reifer. Die beiden sind hier für mehr als einen magischen Kinomoment gut.
Outside the Box
Die darwinistische Botschaft bringen sie fett rüber und es scheint, als seien dabei mindestens ein Frosch und ein Kücken ums Leben gekommen. Der Frosch vom luxuriösen Autobus, der die vier Protagonisten zum Team-Building Weekend in die Berge Tirols bringt, das Kücken am Schluss, damit jeder es versteht, von einem echten Raubvogel.
Wäre gar nicht nötig, denn die Skizze des Konzeptes des Drehbuches, das Philip Koch mit Anna Katrin Schneider geschrieben hat, und das er hier verfilmt, bringt die These des Darwinismus im Geschäftsleben mit plausibel recherchiertem Karrieristen- und Businesssprech und dem Survival-Trip, der, so ist es gut angedacht, brutal aus dem Ruder läuft, bestems zur Geltung. Die Tiersymbolik wirkt wie doppelt gemoppelt.
Besser wirkt die Waldkulisse. Steiler Herbstwald, der immer wieder eingeblendet wird und eine Rolle spielt, aus tiefer Perspektive aufgenommen, die Baumstämme wie stramme Karrieristen nach oben strebend, versuchend, dem Nachbarn, dem Kollegen Luft und Licht wegzuschnappen.
Die Überlebensspiele im Wald werden mit fest installierten und zusätzlich mit in die Overalls der Agierenden eingebauten Kameras in das Übungsleitungszentrum der Firma Bickstein übertragen und von einem Kontrollraum aus gleich zu einem Livestream ins ad hoc eingerichtete Pressezentrum eingespielt. Die Presse soll von der Leistungsfähigkeit der Firma, von der hervorragenden Qualität der Personalschulung überzeugt werden.
So weit die gelungene Exposition, die auch die Figuren und ihren Hickhack im Bus plausibel vorstellt und neugierig macht auf den Fortgang.
Zwei semibekannte TV-Darsteller sind engagiert, um zwei Kidnapper zu spielen und die vier Teilnehmer zu bedrohen. Hier allerdings verselbständigt sich das Programm. Die angeheuerten TV-Mimen riechen Bicksteins Geld, wollen die Teilnehmer zu Geiseln nehmen und echtes Lösegeld von Firmeninhaber Bickstein fordern. Allerdings hapert es bereits hier an einer zwingenden, inszenatorischen Umsetzung.
Bickstein wird gespielt von Hans Zischler in einer Rollstuhlrolle, sieht mit seiner Glatze glänzend aus und bemüht sich deutlich zu zeigen, dass er das Zuschauen zu mimen sich bemüht.
Mit der Geiselnahme und einem echten Schuss aus einem Gewehr gerät der Event-Plan durcheinander.
Allerdings geht es ab hier auch dem Film nicht mehr so gut, zumindest so, dass es seinen Wirkungsgrad hinsichtlich Publikumszuspruchs deutlich schmälern dürfte. Die Dramaturgie des Filmes leidet.
Der exakte Nachvollzug, der konkret-physisch-psychisch-haptische Dominoeffekt des Aus-dem-Ruder-Laufens und auf welcher Realitätsebene sich die Darsteller zu befinden glauben, wird nicht stringent herausgearbeitet. Vieles bleibt theoretisch, anskizziert. Das mindert das Sehvergnügen. Unlogische Reaktionen von den vier Probanden, wenn sie sich beispielsweise das zweite Mal aus der „Box“ befreien, da müssten sie doch als erstes rumschauen, ob ihr Verfolger, den sie abgehängt zu haben glauben, auf sie lauert, ob er sie bereits empfängt, aber das tut keiner von denen oder im Pressezentrum, das ist nicht sorgfältig genug erarbeitet, wie da die Skepsis wächst und wie die von den Vertretern der Firma Bickstein weggewischt werden; das bleibt im Angedachten stecken.
Auch die Geschichte mit der Frau, die kurz den alten Bickstein vögelt, um an das Bargeld unter seinem Bett zu kommen, das geht so wie abgesprochen, aber nicht glaubwürdig entwickelt vonstatten, bleibt theoretisch, bleibt hingeworfene Idee mit mangelhaftem Vollzug.
Da haben sich unsere High Potentials von Filmemachern zur Umsetzung ihrer tauglichen Idee nicht genügend „aufgeschlaut“. Bei aller Spielfreude, die Reaktion in so einem Unfall im Spiel, die muss realistisch sein, das ist das Salz in der Suppe.
Ein weiteres Indiz für diese dramaturgische Ungründlichkeit mag die immer wieder auftauchende Frage sein, was denn hier los sei, was denn jemand wo mache; im deutschen Kino nach wie vor ein ausreichender Hinweis für leichtfertig-oberflächliche Drehbucharbeit.
Bauplan zum Film ok, Umsetzung mangelhaft. Schade um Aufwand, gute Stimmung und die prächtigen Darsteller, wobei mir auch die Journalisten zu sehr als Schafsherde inszeniert scheinen – war wohl kritisch gemeint.
Der Nachtmahr
Der Nachtmahr ist ein süßes, knuddeliges, embryogreisenhaftes Animationswesen, das, real selbstverständlich, Coming-of-Age-Angst und Abnabelungsprojektionsfläche für die kalt behütet aufgewachsene (bürgerliche?) Tina (Carolin Genzkow) ist, die hier im Film von Akiz 18 wird und als Entwicklung im Film darin ihr Anderwesen gefunden haben wird.
Das Coming of Age geschafft nach knapp 90 Minunten Einsatz aller verfügbaren technischen Horrormittel des Kinos, spzieller Kameralinsen, Stroboskop-, Flacker-, Lärm-, Knall- und Gruseleffekten und der Warnung vor dem Film an Epileptiker.
Dennoch hat der Film mich erst in den letzten Minuten gefesselt, weil Tina da plötzlich zu handeln anfängt, eine Beziehung zu ihrem animierten Projektionsgeschöpf eingeht, es annimmt, nicht mehr allein ist.
Vieles mag richtig gedacht sein in diesem Film. Die Hilflosigkeit der Eltern anhand der Veränderungen und des Sich-Verschließens des Mädchens. Interessant ist auch die Behandlung eines Blaketextes bei der Englisch-Lehrerin, Kim Gordon, und die konträren Interpretationen von Jungs und Mädels.
Das mag jedoch den Eindruck nicht aus der Welt schaffen, das da einer versucht, seinem Lehrinstitut, der Filmakademie Baden-Württemberg, zu beweisen, was er alles drauf hat, ein Vorgang, der der Akademie schmeicheln mag, aber nicht dazu geeignet ist, ernsthaft Zuschauer in beachtlicher Zahl ins Kino zu locken, weil er ihnen eben nichts erzählt, was sie selber vielleicht schon ähnlich empfunden haben, aber nicht in Worte oder Bilder fassen konnten.
Vor lauter knalligen, lauten, rasanten, selbstdarstellerischen Effekten wird leicht übesehen, dass der verräterische Satz, was denn hier los sei, was jemand hier mache, zu bedenkenlos vorkommt, der noch immer im deutschen Kino ein sicheres Indiz für leichtsinnige Drehbucharbeit ist.
Wobei dieses Defizit diagnostisch leicht zu erfassen ist, während das größere Defizit schwerer zu evaluieren ist, nämlich uns für Tina zu interessieren, weil es so ein passives Defizit ist, eine Leerstelle, die nicht laut ist, mit Effekten wegknallt, sozusagen den Zuschauer wegdröhnt mit Können, statt ihn abholt mit Neugierde, ihm den Raum dafür lässt. Dann würden auch die Stereotypen von Eltern und Psychiater, Mitschüler und Mitschülerinnen erst richtig funktionieren, die ja genregemäß korrekt mit einer nachrangigen Schauspielergarnitur besetzt worden sind.
Jedenfalls ist eine Szene, dass sie auf die Straße pisst, nicht unbedingt dazu angetan, sich für sie zu interessieren. Die Effekte wirken als Selbstzweck. Deshalb fällt das Defizit des Feelings der Regie für die Darsteller gravierender auf.