Leviathan

Die Macht der Ungerechtigkeit in einem Rechtsstaat mit Verfassung, Gesetzen und Organen.

Mit Bildern von der Natur und der Macht der Natur fängt Andrey Zvyagintsev, der mit Oleg Negin auch das Drehbuch geschrieben hat, sein episches Erzählkino an.

Die Macht der Ungerechtigkeit wird das Leben von Kolya und seiner kleinen Familie, bestehend aus Frau Lilya und Sohn Roman, der gerade in der Pubertät steckt, brutal zerstören. Er ist ein einfacher Handwerker und wohnt mit seiner Familie in einem Haus am See. Sie haben ein Boot, Kolya hat Werkstätten. Lilya arbeitet in einer Fischfabrik.

Der Filmemacher verzichtet allerdings darauf, erst die intakte, perfekte Familie zu schildern, wie Hollywood es machen würde (zuletzt in Cinderella). Der Arm des Gesetzes (dahinter der Bürgermeister) hat seine Pranke bereits auf die Familie und vor allem auf den inzwischen begehrten Grund und Boden geworfen. Ein Enteignungsverfahren ist im Gange.

Kolya holt einen befreundeten Anwalt aus Moskau am Bahnhof ab. So fängt der Film an. Er lässt sich Zeit. Gerade für den Westler wichtig, sich in die russische Dimension von Zeit und Sein einzulassen.

Dimitri heißt der Anwalt, ist gutaussehend und eher vorsichtig mit einem allzu forschen Vorgehen bei Gericht. Bald schon kommt die erste Gerichtsszene. Die macht brutal klar, wie Gesetze, die im Sinne der Gerechtigkeit erfunden worden sind, in ihrer Funktion zur Ungerechtigkeit umgemünzt werden können. Das ist ein Meisterstück an Monolog allein, wie die Richterin alle Paragraphen und Vorgänge, wie Kolya sich gegen die Enteignung wehrt und der Fall zwischen den Gerichten hin und hergeschoben wurde, runterrasselt. Sonst macht keiner Papp im Saal, auch nicht der Anwalt. Keine Chance gegen dermaßen verfugtes (Un)Recht.

Dimitri hat belastendes Material über den Bürgermeister gesammelt; was diesem nicht gelegen kommen kann, da im nächsten Jahr Wahlen anstehen. Der leistet sich am Tag nach der Urteilsverkündung gegen Kolya einen peinlichen, betrunkenen Auftritt auf dessen Anwesen. Diesen wiederum will Dimitri vor Gericht gegen ihn verwenden.

Aber der Film ist pessimistisch und hat auch noch andere Überraschungen gegen Kolya parat. Die Anzeige wird nicht angenommen, weil keiner zuständig oder da ist, Kolya wird gleich eingebuchtet, immerhin schafft Dimitri es, dank dem Material gegen den Bürgermeister, Kolya wieder rauszuholen.

Inzwischen war Dimitri in seinem Hotelzimmer mit Lilya, der Frau von Kolya, intim zugange. Jetzt fügt der Filmemacher als Intermezzo in dem zwei spannende Stunden und zwanzig Minuten langen Film, einen Ausflug zu einem Bergsee mit Freunden ein, mit Fischen, Picknick, Schießen; hier fliegt die Affäre von Lily mit Dimitri, die sich nicht zurückhalten können, auf, versorgt die Story mit dem nötigen Schub für den zweiten Teil.

Somit ist die Voraussetzung geschaffen für den zweiten Akt des Dramas, das nun mit archaischer Naturgewalt über Kolya einbricht und ihn und sein Leben definitiv in den Ruin treibt.

Zvyagintsev erzählt seine Geschichte in gezielt ausgewählten Szenen, die er ausdauernd spielen lässt und gründlich gearbeitet hat. So gewinnen die Charaktere bannende Leinwandintensität und -glaubwürdigkeit. Der Poltertyp von Bürgermeister, der nur nach dem Prinzip Seilschaft lebt, dem das Recht zu Diensten zu sein hat und nicht umgekehrt, dem aber kurzfristig ganz anders wird, wie er vom Anwalt mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird.

Zwei Heilmittel scheint es in Russland gegen das Übel der Menschen, gegen die Gerechtigkeit, die sich so ungerecht gebärdet, zu geben: der Alkohol und die Kirche. Auch das wird in ausgewählten Szenen deutlich.

Andererseits hat diese Konsequenz der Macht des Schicksals für den Zuschauer auch zur Folge, dass er sich schnell daran gewöhnt, sie als solche akzeptiert und er den weiteren Absturz von Kolya fast schon als folgerichtig oder wenigstens gleichmütig annimmt. Insofern kann der Film die russischen Behörden wohl kaum beunruhigen. Russische Seele, Tiefe und Schicksalsergebenheit spricht aus dieser großartigen Filmerzählung. Das Leviathan- und das HiobThema wird von einem Kirchenmann vorgebracht; auch der vertritt die Lehre, dass das Schicksal anzunehmen sei.

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