Wieviel ist ein Menschenleben wert? Um diese Frage, resp. um den Auslöser dieser Frage, einen von einem Auto angefahrenen Radfahrer mit anschließender Fahrerflucht des Täterautos, kreist dieser Film von Paolo Virzi (Drehbuch: Paolo Virzi, Francesco Bruni, Francesco Piccolo nach dem Roman von Stephen Amidon) konzentrisch und in ständigen Rückblenden, ohne sich nach oben zu schrauben, auch die häufig eingesetzte Steadycam liebt das Kreisen besonders um zwei Figuren, wenn diese in einer heftigen Auseinandersetzung sind.
Der Film benutzt sein Kreisen um diesen Fall in der Absicht, ein grelles Schlaglicht auf das Italien Berlusconis zu werfen. Lange wird nämlich vermutet, der Fahrer des Autos sei Massi Bernaschi, der Sproß eines reichen italienischen Clans, gewesen, der wohl nicht zufällig ganz ähnlich wie Berlusconi klingt. Der ist noch ein milchgesichtiger, schwarzlockiger Junge und hat an diesem Abend an seiner Schule, dem Istituto Gregorio XIV, den ersten Preis für den Premio Cottavafi 2011 einer braunhäutigen Schönheit überlassen müssen. Was zu einem Besäufnis mit verheerenden Folgen führen wird.
Der reiche Vater fertigt seinen Filius nach der Niederlage knapp und schneidend hart ab und verzieht sich. Mehr Schmerzen kann ein Vater seinem Sohn nicht bereiten. Aber Vater ist ja auch mit undurchsichtigen Finanzspekulationen beschäftigt.
Die italienischen Verhältnisse drehen sich um sich selber, das zeigt dieser Film, ein Abbild der italienischen Verhältnisse. Denn der Sohn von Bernaschis ist befreundet mit Serena Ossola (wenn mein Italienisch mich nicht trügt, könnte das eine Verkleinerungsform des Wortes Knochen, Knöchelchen sein, an denen die Reichen nagen, wie sich gleich zeigen wird), der Tochter des kleinen Immobilienhändlers Dino Ossola. Dieser sieht ein bisschen aus wie Willy Millowitsch, so wie er grinst, wie er den Mund leicht verzerrt offen hält angesichts der Weltlage, mit seiner Brille, dem gestutzten Schnauzer und dem noch gestutzteren Unterlippenbart und dem halblang wirren Intellektuellenhaar, mit unvermeidlichem Halstuch, Lotterhose; er wird an einer Stelle einmal ausdrücklich „buffone“ genannt, ein Hanswurst.
Dino fängt an, mit dem Schwiegervater in spe, Giovanni Bernaschi, Tennis zu spielen und ganz nebenbei schwatzt dieser ihm Anteile an einem Risikofonds auf, unter einer halben Million geht da gar nichts und zum Lesen des Kleingeschriebenen bleibt keine Zeit; so jongliert denn Dino riskant Geld um, verschuldet sich hoch, obwohl er in schwieriger Situation mit seiner zweiten Frau, die gerade wieder schwanger ist, lebt, als Entrée sozusagen in die besseren Kreise.
Ein entzückender Nebenstrang nebst der Hauptentwicklung rund um die Fahrerfluchtgeschichte, die nach und nach in immer neuen Rückblenden auseinandergefaltet wird inklusive allem Drumunddran von Polizei, Anwälten, ist das kulturelle Engagement der Gattin von Giovanni, von Valeria Bruni Tedeschi als Carla, immer auf viel zu hohen High-Heels, auf denen sie in riskanter Balancierlage die Freitreppe vor ihrer Luxusvilla herunterstöckelt. Sie will das marode Nuevo Teatro Politeama renovieren, schwatzt ihrem Gatten das nötige Kleingeld ab und muss nun Besprechungen mit lauter pointiert gezeichneten, eher linken und also nicht so reichen Künstlerfiguren führen, einer der die Internationale als Handyton hat, die Schreiberin des Prealpino (wir sind in der Nähe von Mailand) und dann ist da noch der Prefessore, feinsinnig und gebildet, zu dem sich Carla plötzlich nicht mehr nur kulturell hingezogen fühlt.
Im Abspann erfahren wir in rasch folgenden Titeln, wie der (versicherungstechnische) Wert eines Menschen, il capitale umano, wie der italienische Titel des Filmes heißt, berechnet wird. Da spielen Faktoren eine Rolle wie Alter, Geschlecht, Gesundheitszustand, Bildung, zu schnell jedenfalls über die Leinwand gezogen, um alles mitschreiben zu können.