Mommy

Das kanadische Regiewunderkind Xavier Dolan mutet uns eine weitere krasse Mutter-Sohn-Beziehung zu. Anlass für den Film war ein neues Gesetz in Kanada, S 14, was es Angehörigen erleichtert, psychisch kranke Verwandte in Sicherheitsverwahrung zu geben.

Anne Dorval als Diane „Die“ Després hat eine explosive Beziehung zu ihrem herangewachsenen Sohn Steve, Antoine-Olivier Pilon. Am Anfang des Filmes holt sie ihn aus einer geschlossenen Einrichtung zu sich nach Hause. Er ist hyperaktiv, hat dort die Cafeteria angezündet, er kann sehr unberechenbar sein. Laut, heftig und expressiv geht es in ihrer verhängnisvollen Beziehung zu, aber sie ist durchdrungen von dieser Urbeziehung Mutter-Sohn.

Sie wohnen in einem Reihenhaus im Süden von Montreal, sprechen dieses wie gequetschte französische Idiom und Mamma verliert gerade den kleinen Job als Kummerkastentante bei der lokalen Zeitung, sie sei keine professionelle Journalistin. Später wird sie mit Hilfe des Larousse spielend Übersetzungen von Kinderbüchern anfertigen.

Die Beziehung zu ihrem Sohn ist wie eine Amour fou. Ständig streiten sie sich, aber sie kommen nicht voneinander los. Er muss seine Medikamente nehmen. Er möchte noch den Schulabschluss schaffen. Dazu wird ihm die Nachbarin Kyle helfen, eine Lehrerin in einem Sabbatical, die Dinge erlebt haben muss, die ihren Sprachfluss öfter ins Stocken bringen. Sie wohnt gegenüber den Després‘ mit Mann und Kind, er ist in der IT-Branche tätig, die stocktrockene Gegenfigur gegen die beiden Damen und den Jungen, die oft zusammen kochen oder einkaufen gehen.

Besonders in den Anfangsszenen wirken die beiden, Mutter und Sohn, gelegentlich wie Asoziale, völlig aus den bürgerlichen Verhaltensregeln Herausgerissene, und Mutter lacht sich kaputt, wenn ihr Sohn die Welt durcheinanderbringt.

Das Format des Films ist stark eingeschränkt, kaum breiter als Super-8, aber in einem Glücksmoment, wenn Steve mit der Mutter und Kyle vergnügt und angeregt mit Longboard und Fahrrädern unterwegs sind, da greift der Sohn sich plötzlich die linke und die rechte Bildkante und zu einem Geräusch, das sich anhört wie zwei schwere Spundwände, die sich öffnen, weitet sich das Bildformat auf die ganze Leinwand aus. Allerdings sind diese Glücksmomente wenige. Bald schon engt sich das Format wieder ein. Einmal noch verbreitern es die Träumereien der Mutter, dass alles gut ausgehe mit ihrem Sohn, dass er den Schulabschluss schaffen und heiraten werden. Aber auch diese Vision währt nicht lange.

Das Glück wird weiter eingengt dadurch, dass die Familie von Kyle nach Toronto zieht. Jetzt ist Die wieder allein mit dem Sohn, sieht sich überfordert.

Dolan bombardiert den Zuschauer förmlich mit der Enge dieser Welt, mit ihrem Temperament. Er praktiziert den Gebrüder-Dardenne-Realismus als ob er ihn noch potenziert. Formal und äußerlich wirkt diese Trio im Zentrum wie eine Freakshow; da aber Dolan dieses Element nur zum Unterstreichen einsetzt, kommt die seelische Elementar-Beziehung der Figuren noch heftiger zur Geltung. Sie wirken wie Gestörte und sind doch die herzlichsten Menschen, konstant aktiv, unerträglich aktiv. Die Heftigkeit, mit der sie sich immer wieder anschreien, entspricht der Heftigkeit der Gefühle, die sie für einander haben. Eine Liaison folle.

Steves Tanz mit dem Einkaufswagen auf fast leerem Parkplatz ist so ein Bild für seinen Lebenshunger. Und dann krachen sie sich wieder wegen Geschenken. Es braucht nie viel, bis es eskaliert zwischen den beiden. Dann fotografiert Dolan seine Protagonisten wieder, wenn sie mal ruhig zusammen sind, fast so verträumt wie Gustav Klimt seine Musen gemalt hat, mit diesem verspielten Dekor, bei Dolan die Muster der Kleider, die Beleuchtung und auch die Umgebung.

Steve hat ADHS-Störung. Er sei hyperaktiv, gewalttätig, nie langweilig; seine Bewegungs- und Tanzimpulse. Eine bittere Szene beim Karaoke. Steve will seiner Mutter und den Nachbarn vorsingen. Aber im Lokal herrscht Unruhe, sie werden ausgelacht, ein Zuschauer bespritzt Steve mit seinem Getränk. Bis Steve ausrastet.

Pralles, expressives, exzessives Leben. Hier meditiert niemand.
Bei den Visionen der Mutter kann sich Dolan wunderbar im Atmosphärischen verlieren. Hochdramatisch. Hammerfilm.

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