Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe (Münchner Werkstattkino mit Kurzfilmprogramm des Regisseurs am Wochenende)

Was damit gemeint ist, dass die Zeit wie ein brüllender Löwe vergehe, das kann dieser filmphilosophische Essay von Philipp Hartmann (Mitarbeit bei Buch und Regie: Jan Eichberg) zwar nicht erhellen, außer dass der Spruch von der Oma stamme, aber er führt den Zuschauer an sicherer Hand durch eine ganze Reihe von Fragen, die alle auf das Thema Zeit fokussiert sind.

Von seiner Machart erinnert der Film an Hellmuth Costard (der sich sowohl mit Prof. Zuse, dem Erfinder des Computers beschäftigte, also hochwissenschaftlich, hochphilosophisch, der aber genauso Freude an den Runden der Spielzeugeisenbahn auf seinem Wohnzimmerboden haben konnte), Costard, der selbst wiederum ein deutsches Echo auf die Nouvelle Vague und da vor allem auf Godard war. Mit Philipp Hartmann meldet die sich hier plötzlich wieder, wenn auch mit wenig Filmphilosophie, bis auf das kurze Statement über die 3 Akte des Films, aber mit der collagenhaften Freiheit von Fotos, schwarz-weiß und in Farbe über Super-8-Filme ebenso, über reine Höraufnahmen, die zu einem anderen Bild geschnitten werden, über nachgestellte Spiel- und Performanceszenen, Interviews und mit Zwischentiteln, die den Geist der Zuschauer gehörig bannen und auf Trab halten und ihm nach dem Kinobesuch durchaus suggerieren sich selbst mal wieder zu dem Thema zu befragen.

Thema Zeit und Tagebuch. Ein solches führen sicher viele von uns. Was habe ich heute gemacht, wen habe ich getroffen, „es ist zwar nicht groß was passiert, aber es war Struktur da“. Das ist ein naheliegender alltäglicher Nexus zum Thema Zeit.

An die Grenzen von Wahrnehmbarkeit, Erinnerung und Geschichte stößt der Film gleich zu Beginn mit einer Serie von schwarzweiß Fotos, deren halbe Seite überbelichtet war, die Anfänge der Filmrollen, die beim Einlegen in die Kamera Licht abbekommen haben, wodurch das bisschen Motiv, was erkennbar ist, eine eigentümlich Freiheit und Losgelöstheit bekommt. Später wird diese Grenze deutlich unheimlich und gibt zu denken, das Thema Zeit frontal angegegangen: der Alzheimer-Test: auf einem vorgegebenen blattgroßen Kreis soll der Patient versuchen, das Ziffernblatt einer Uhr einzuzeichnen und dabei die Uhrzeit 5 vor 11 angeben. Viele Beispiele zeigen, wie leicht offenbar einem Menschen die Zeit entgleiten kann. Das macht schaudern.

Hartmann bringt auch eine kleine Genese über die Bewusstwerdung von Zeit und damit auch der Fähigkeit zur Narration bis zur gesetzlich fixierten Erwachsenheit über einen langen Bogen seinskonstituierender Parameter von der die Zeit manipulierenden Atomuhr über einen Pseudoanarchisten, eine Super-8-Erinnerung an eine familiär-gesellige „Reise nach Jerusalem“, Waldspaziergänge mit dem „Wittihäuser“, über Chronophobie, mit der überzeugenden Nina Petri als Patientin Christiane (von der Psychiatrie in die Neurologie) über mehrere Extempores nach Lateinamerika, die Anden, die Eisenbahn und die Zeit (kommt vorbei und vergeht), die höchst gelegene Salzwüste oder über die aztekischen Zeitalter von 52 Jahren, nach denen alles neu gemacht wurde, über einen Ampelstoppjux, die Bilder vom toten Vater, die nie einer angeschaut hat, über Verwandte, das Thema Vater über ein bemerkenswertes Statement eines chronischen Spielers, der im Leben alles verspielt hat, bis zu einer minutenlangen Sesselbahnfahrt, bei der die Kamera nur den Schatten des Sessels mit dem Kameramann verfolgt, wie dieser über die Almwiesen nach oben gleitet und dabei Gedanken über das menschliche Ende frönt. Immer ist man kurz davor, dass sich einem die Nackenhaare sträuben.

Hartmann ist ein Zeitgrübler, ein Zeitgründler, mit dem Zeit zu verbringen ein inspirierendes Geschenk ist. Nun, so ganz vergebens scheint die Nouvelle Vague doch nicht gewesen zu sein, denn ein Enkel zumindest lebt.

Am diesem Wochenende zeigt das Münchner Werkstattkino zu diesem Film noch zwei Kurzfilmprogramme von Philipp Hartmann, eines auf Deutsch, eines auf Englisch.

2 Gedanken zu „Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe (Münchner Werkstattkino mit Kurzfilmprogramm des Regisseurs am Wochenende)“

  1. Danke, Philipp, bitte sehr.
    Wird im Tagebuch notiert: Philipp Hartmann hat sich bedankt.
    Oder: Kompliment von Philipp kam vorbei und ging (wie die Zeit).
    Und: wie wird sein nächster Film aussehen?

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