The Cut

Ein Film, der weit über das darin beschriebene Einzelschicksal hinausweist.
Deprimierende Einsicht: auch 100 Jahre Kino haben die Welt nicht besser gemacht. Daher die Hommage ans Kino in diesem Film doch eher fragwürdig, wenn sich das Elend auf der Welt überhaupt nicht mindert – denn genau dies zeigt der Film.

Leider auch im noch nicht allzu alten 21. Jahrhundert eines der dominierendsten Themen: Unterdrückung, Diskriminierung, Aussonderung, Verfolgung und Vertreibung nach religiös-rassistischen Motiven. Das 20. Jahrhundert scheint noch nicht vorbei. Im Gegenteil: wie die Pilze im Herbst vermehren sich zur Zeit die Krisenherde und damit die Flüchtlingsströme.

Fatih Akin, der sich klugerweise für das Drehbuch der Mitarbeit eines alten Meisters, den er in Amerika ausfindig gemacht hat, Mardik Martin (hat mit Scorsese-Filmen Filmgeschichte geschrieben siehe IMDb), versichert hat, bietet jetzt einen intensiven, hochaktuellen, epischen Bilderbogen von fast 2 ½ Stunden Länge zu diesem Thema.

Es handelt sich um einen Völkermord und eine Vertreibung von vor 100 Jahren, den Genozid der Türken an den Armeniern. Wobei es die armenischen Bewohner im abgelegenen Mardin ganz unvorbereitet trifft. Die leben hier als kleine Handwerker mit ihren Familien ein glückliches Familienleben. Unser Protagonist, Tahar Rahim, als Nazaret Manoogian mit Frau und zwei Töchtern. Das kleine Glück in der Familie und im Beruf, was sich jeder Mensch ersehnt.

Zwar gibt es Gerüchte, dass der Sultan irgendwas plane, aber man sei ja weit weg und nicht betroffen, beruhigen sich die Leute. Doch mitten in der Nacht poltert die Polizei an die Haustür. Alle armenischen Männer werden sofort eingezogen. Bestechung wird zwar angenommen, hilft jedoch nichts. Das ist „the cut“, der Schnitt im Leben von Nazaret. Dem Versuch der Wiederherstellung des plötzlich auseinandergerissenen Familienglücks wird er die nächsten Jahre um die halbe Welt und den Rest des Filmes hinterherlaufen.

Die armenischen Männer werden erst zum Straßenbau eingezogen. Peu a peu kommen Szenen vor, die punktuell ein Licht auf die genozidalen Gräueltaten gegen die Armenier werfen. Nicht parteiergreifend oder anklagend. Nazaret will auch nur seine eigenen Haut retten. Das gelingt ihm kurz vor der Enthauptung (aktueller Flash: das islamische Kalifat und die Enthauptungen); Nazaret kommt mit einem Stich in den Hals davon; verliert aber seine Stimme.

Als Stummer verfolgt und auf der Suche nach seiner Familie. Auf seiner Reise wird er Situationen begegnen, die alle aktuellen Flüchtlingsbilder versammeln: auf die Flucht der Jessiden, ganze Ortschaften armselig zu Fuß unterwegs mit wenig Habseligkeiten, in Aleppo beim Roten Kreuz die Suche nach Vermissten und Verwandten (hier bekommt Nazaret 100 Adressen von Waisenhäusern im Libanon, wo er nach seinen Töchtern suchen könne – dass seine Frau tot sei, hat er inzwischen erfahren); Flüchtlingslager, könnte wie Somalia oder Sudan sein, eindrückliche Szene mit seiner sterben wollenden Schwägerin, Pietá mit brutalem Schluss, im Libanon endlich die Waisenhäuser von christlichen Schwestern betrieben, da fühlt sich der Westler schon fast wie zuhause in dieser Ordentlichkeit.

Aber seine beiden Töchter sind nach Havanna gereist, um dort zu heiraten. Schiffspassage nach Kuba. In einem fremden Land ohne Sprachkenntnis und ohne Stimme. Dort erfährt er, dass die Töchter nach Minneapolis in den USA gezogen seien, bei einem Herrn Edelmann hätten sie als Näherinnen gearbeitet (Assoziation: Billignäharbeit in Bangladesch); Schiffspassage von Kuba rüber in die USA; erinnert an die heutigen Bootsflüchtlinge, die zu Tausenden auf dem Mittelmeer unterwegs sind; in den USA schließlich das Aufspringen auf den Güterzug, das machen in Lateinamerika heute täglich Tausende, um in Richtung USA vorwärts zu kommen. Schließlich wird er Schienen-Bauarbeiter in Nord Dakota. Und es wird dort tatsächlich zu einer Begegnung kommen.

Der Film beeindruckt durch die Konsequenz des epischen, kommentarlosen Erzählens, des nie das Ziel aus dem Auge verliert; da wirkt die deutsche Synchro, besonders wenn auf der Leinwand eine orientalische Sprache gesprochen wird, als nicht mit der Mühe gemacht, mit der der Film gemacht ist.

Die düstere Leidensgeschiche Vertriebener ins Heute fortgeschrieben. Ein Gang durch die Welt heutiger Flüchtlingsströme in der Verkleidung und Etiekttierung von vor 100 Jahren. Geändert hat sich an Rassismus, Diskriminierung, Tötung, Vertreibung, Todesmärschen offenbar gar nichts.

Und eine subtile Referenz an die neueste Geschichte in den USA. Nazarets Weg führt über Talahassy. Das ist der Ort, an welchem Bush Junior den Wahlbetrug begann, der ihm die Präsidentschaft verschaffte, mit der er den Hass anfeuerte, mit dem Krieg gegen den Terror in Afghanistan und im Irak, die heute Millionen Menschen zur Flucht oder in den Tod treiben.

In Aleppo gibt es eine direkte Referenz an die Kinogeschichte: hier wird Charly Chaplin gezeigt.

Es gibt vielleicht noch eine andere Schlüsselszene: wie die Welt bei Nazaret noch in Ordnung ist, beichtet er in der Kirche, er hätte gesündigt, er hätten geneidet. Der Neid, der viel Unglück in Gang setzt, jeder will nur sein kleines Glück, aber wenn der Nachbar etwas mehr davon hat, so kann das bereits zu Ungleichgewichten führen, die im großen politischen Spiel ganze Nationen gegeneinander aufbringen und die Sündenböcke, schwarze Schafe brauchen: die Juden, die Griechen, die Armenier. Ein nie endender Kreislauf?

Für mich der bewegendste und bemerkenswerteste deutsche Kinofilm seit langem, der weit über den Tellerrand des Pfründenlandes hinausschaut und von diesem in keiner Weise beeinträchtigt scheint.

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