Lucy

Was wäre, wenn der Mensch 100% seines Gehirns nutzen könnte? Die Antwort darauf malt sich Luc Besson als Drehbuchautor und Regisseur in diesem Film aus.

Ihn beschäftigt, dass nach aktueller, wissenschaftlicher Erkenntnis der Mensch nur etwa 10 Prozent seines Gehirnes aktiv einsetze. Bei den Affen, mit einem solchen fängt der Film an, der ist übrigens gut inszeniert und trinkt Wasser in einer Urlandschaft, sei es nur etwa 1 Prozent.

Lucy, Scarlett Johannson, ist Bessons Versuchskaninchen. Je höher er die Prozente der Verfügbarkeit über das Gehirn bei ihr steigert, desto mehr schießen seine Spekulationen ins Kraut, in die Gegend reinen Fantasysepktakels vor. Aber vernünftigerweise nimmt er wissenschaftliche Analysen zum Ausgangspunkt für seine furiose Filmspielerei.

Den vertrauenswürden Professor für den wissenschaftlichen Input im Film spielt Morgan Freeman als seriösen Forscher, der zum Thema Vorlesungen hält und dadurch rahmensetzende Infos in den Film einbringt.

Die sinnliche Blondine Lucy gerät in das Feld dieser Spekulationen durch eine handfeste Ausdeinandersetzung, die Besson als soliden Storygrundpfahl an den Anfang rammt. Ein Pärchenkrach vor einem Hotel in Taipeh. Sie streitet sich mit dem abgerissenen Typen, den sie erst einige Tage kennt. Er hat einen Alu-Aktenkoffer am Handgelenk und soll ihn im Hotel einem Chinesen abliefern. Das sei ein Vorgang, der nur 5 Minuten dauere und würde mit 1000 Dollar belohnt. Aus einem Grund, den er nicht rausrücken will, bittet er Lucy, das an seiner Stelle zu tun.

Plötzlich ist der Koffer an ihr Handegelenk gekettet und es bleibt ihr keine Wahl, so sehr sie sich dagegen wehrt. Im Koffer sind 4 Päckchen CPH4, einer brandgefährlichen, bewusstseinserweiternden Droge in kristallfunkelndem Blau. In den Bauch eingenäht sollen die Päckchen von vier Personen nach Europa geschmuggelt werden. Eine dieser Personen ist Lucy. Ihr Päckchen platzt im Bauch. So ist das Experiment für die Bewusstseinserweiterung freigeschaltet zu Bewusstseinshöhen, die ihr bald schon erlauben werden, mit Hilfe des französischen Cops Pierre del Rio, der asiatischen Drogenmafia zu zeigen, was so eine Bewusstseinserweiterung alles bewirken kann und wie selbst ein Drogenboss wie Amr Waked (der mit der filmstarken Fresse) ausgeschaltet werden kann.

Das liest sich vielleicht nicht besonders originell und aufregend. Das ist auch nicht das, weswegen mir der Film ganz gut gefallen hat.

Es ist einmal Lucy. Scarlett Johannson spielt sie verwegen, als ob sie mit jedem Schritt ihr Leben hinter sich lassen würde, als sei jeder Schritt der letzte, sie ist so direkt und gegenwärtig in ihren Gefühlen, versprüht weibliche Geliefert- und Ausgeliefertheit, aber auch weibliche Schlagkraft, in jeder Sekunde ein Blick- und Emotionsfang.

Es kommt eine weitere europäische Komponente positiv ins Spiel: wie Besson die Transformationseffekte einsetzt und welche (die sind eine Folge zusehender Aktivierung von Gehirnregionen bei unserem Versuchskaninchen, die in Richtung Allwissenheit pendeln; reizvolle Gedankenspiele). Er bebildert sie künstlerisch fantasievoll, er lässt an Walter Ruttmann denken oder an Oskar Fischinger, faszinierende surrealistische Bilder über Gehirn- und Transformationsprozesse. Dagegen sind die Transformers, mit ihrem fünffachen Budget, 200 Millionen, fast schon Armenkinder, zumindest wirkt die dort massenhaft eingesetzte Transformationsillustrationsfantasie unpersönlicher, deutlicher computergeneriert.

Lucy macht Besson in einem rasanten Ineinanderschnitt von Raubkatzen und Tigerfelljacke als Frau noch attraktiver, urhafter, genderhafter, aber wie ein déjà-vu, das Mittel, das hat er auch schon eingesetzt, kommt mir jedenfalls bekannt vor. Kleinigkeiten zur Erdung der Geschichte: das Gespräch mit dem chinesischen Drogenboss, das über einen Telefondolmetscher übersetzt wird. Sprechen Sie meine Sprache? Die Hilflosigkeit eines Menschen, die schnell in einem anderen Land eintreten kann.

Die deutsche Synchro hört sich gut an.

Dazu der 100% zum Geschehen pulsierende Sound von Eric Serra.

Die Überlegenheit, Überheblichkeit des Wissenden. Lucy zum Professor, wer möchte nicht so allwissend sein. Das Thema Wissen und Beherrschung ist latent vorhanden, wenn auch Besson zwischendrin, wenn es sich grad ergibt, noch schnell eine Autoschredderverfolgungsjagd einbaut, das macht er aus dem Effeff.
Der Mensch und seine Gier alles wissen zu wollen, alles beherrschen zu wollen, unsterblich werden zu wollen.
Lucy hat sämtliche Arbeiten von Professor Norman gelesen: ich kenne Ihre Theorie, sie hat einige Lücken, aber Sie sind auf der richtigen Spur. Ein Schlag in die Magengrube des professoralen Überlegenheitsduktus. Dahinter ganz leise, die Frage nach dem Sinn des Lebens, die hier damit beantwortet wird, dass es keinen gebe, nur das Wissen, was man habe, weiterzugeben, kein höheres Ziel.

Ein schönes Bild sind die Bewusstseinsfäden, die Wege der Kommunikation und des Wissens, die Lucy in der Nähe ihrer 100 % plötzlich überall sieht. Erinnert mich an eine Vorstellung, die ich gelegentlich habe, dass ja im Grunde genommen sämtliche Handy-Gespräche und auch die drahtlose Internetkommunikation etc. alles durch einen hindurch gehen, an einem vorbeigehen müsse, dass man Lucy sich vorstellen kann, wie die NSA, die alles abschöpfen und lesen kann. Alldurchdringung von Allem.

Um den Kontakt zum Alltagsmenschen nicht zu verlieren gibt es immer wieder menschliche Hickhack-Szenen, die ein paar Vorurteile, Frau am Steuer, virulent werden lassen, wenn Lucy sich ans Steuer mit Rio setzt und er das gar nicht lustig und plausibel findet und sie dann die erwähnte Verfolgungsjagd startet und dabei noch zum Besten gibt, das sei das erste Mal dass sie fahre. Später gibt es noch eine Kussszene zwischen ihr und ihm, auch Superhirne brauchen Liebe.

Warum mich der Film fasziniert? Weil er auf der Klaviatur eines Stückes Realität spielt, dass eben heute fast überall auf der Welt über den Computer ein riesiges Wissen der Menschheit sofort und jederzeit abrufbar ist. Wobei die Wirkungen beträchtlich anders sein dürften, als die Auswirkungen auf Lucy; da ist vieles abgehoben in den Fantasy-Bereich, aber der Film wirkt wiederum wie ein kühner Tanz auf dem Vulkan menschlicher Hybris.

Allwissen, Allpräsenz: die Zeit, die hält die Dinge zusammen, bringt sie vorwärts. Lucy auf einem Bürostuhl, sie kann sich in alle Zeiten und Regionen hineinversetzen. Nun, das ist Fantasie, das tut das Kino, das kann der Mensch, wenn er träumt, das kann er bereits jetzt, wo er doch nur 10 Prozent seines Hirnes einsetzt.

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