Der große Kanton

Angriff ist die beste Verteidigung, wird sich Viktor Giacobbo, der mit Domenico Blass auch das Drehbuch geschrieben hat, gedacht haben und wenn die Deutschen schon die Kavallerie gegen die Schweiz und ihr Bankgeheimnis in Gang setzen wollen, so wird jetzt der Spieß umgedreht und auf liebenswürdige, TV-kabarettistische Weise – der Film selbst untertitelt sich mit: „eine dokumentarische Konversation zur Beilegung eines nachbarschaftlichen Konfliktes“ -, die Möglichkeit erwogen, dass die Schweiz sich Deutschland als 27. Kanton einverleibt.

Anlass für den Film waren diverse aktuelle Streitpunkte zwischen der Schweiz und Deutschland: der Steuerstreit, das Bankgeheimnis und die Einflugrouten zum Flughafen Kloten über den Südschwarzwald.

Ein tieferes Motiv dürften aber durchaus auch diffuse Ängste speziell der Deutschschweizer vor Überfremdung sein, die Zuwandererquote aus Deutschland ist exorbitant, aber auch generell diffuse, mentale Ängste allein schon beginnend bei der Sprache, der Landessprache, die ein alemannisches Idiom ist abweichend von der deutschen Schrift- und oft auch Umgangssprache. Diese Gründe werden aber im Film nicht behandelt.

Aus diesen Ängsten heraus hat sich Giacobbo wohl für eine fast zärtliche Annäherung an den unfassbar großen Nachbarn, den großen Kanton, entschieden, versucht mit einer Umkehrung der Größenordnungen den eklatanten Unterschied auf den Begriff zu bringen; mit der kleinen Kategorie, die große Kategorie zu ermessen, sie einzukantonen, sie in die eigene Denkweise einzupassen. Was sicher eine nette Spielerei ist, irgendwie aber auch etwas klebrig wirkt, also man traut sich eben nicht so richtig auf Augenhöhe, man schiebt sozusagen jedem Satz noch ein kommentierendes Grinsen hinterher. War ich nicht lustig?

Trotzdem: eine reizvolle Überlegung, die Anlass bietet für 84 Minuten humoristisch erörternde Unterhaltung, in der viele bekannte Figuren aus beiden Ländern ihre mehr oder minder ernst gemeinten Statements zu dieser Unschärferelation abgeben. Bundeskanzlerin Frau Merkel wird gezeigt, wie sie mit dem Rücken zum Publikum vor einer Schulklasse an einer Wandtafel mit den Umrissen von Europa Berlin lokalisieren soll, kein leichtes Unterfangen. Von deutscher Seite sind dabei Gregor Gysi, Joschka Fischer, der Ex-Außenminister, der sich am Beschlagensten zeigt, was die Schweiz-Kenntnis begtifft, Cem Özedmir, Gerhard Polt, Frank Steinmeier, Elke Heidenreich, die erstaunt darüber ist, dass die Schweiz die Wiege der Demokratie sei, das war doch Griechenland! Gerhard Polt kann vom Teerbelag einer stillgelegten Tankstelle in München-Mitte die Spuren der Geschichte ablesen: dass hier – oder ein paar Meter daneben – im 14. Jahrhundert der Kaiser Ludwig der Bayer Städte im Bereich der heutigen Schweiz in die Reichsfreiheit entlassen habe.

Es gibt Rückblicke auf die Geschichte von der Schlacht bei Marignano bis zur Zeit, als Rottweil über 100 Jahre lang zur Schweiz gehörte, einen Blick auf die Enklave Büsingen.

Giacobbo selbst versucht sich in parodierenden Auftritten von Hitler bis Gaddafi.

Nach etwa einer Stunde Film wird es kurz ernsthafter, da geht um die grundsätzlichen Differenzen in der Auffassung von Demokratie, dass die Schweiz sich das über Jahrhunderte entwickelt hat, beginnend mit der Befreiung vom Hause Habsburg. Solche Aktionen wären in Deutschland schwer vorstellbar gewesen; hier ist nach wie vor eine Angst der Politik vor dem Volk zu konstatieren. Fischer räsonniert über die Konsensgrundlage der politischen Konfrontation in Deutschland, das sei doch ein essentieller Unterschied zur Schweiz.

Für die Schweiz wäre positiv, dass sie mit diesem 27. Kanton endlich Zugang zum Meer hätte (und die Deutschen zum Tessin). Andererseits gäbe es für einen Tessiner Politiker ein großes Problem, denn die Swiss Miniature, die sich in seiner Nachbarschaft befindet, müsste über sein Grundstück hinaus erweitert werden.

Es sind einige Sketche in den Film eingebaut. Zwei Darsteller sollen Boat-People auf dem Bodensee spielen, aber die sind ohne Boot gekommen „wir sind vom anderen Ufer“, sagen sie und schwimmen hilfesuchend in Neopren-Anzügen; der Moderator hat keine gute Meinung von diesen deutschen Akteuren. Ein anderer Darsteller spielt einen Nachfahren des Hauses Habsburg, das die Schweizer vor Jahrhunderten vertrieben hatten. Sein Rollenaufgabe: am Miststock rumgabeln.

Der Moderator hat ausgiebig in TV-Archiven wühlen lassen und den Film mit vielen Ausschnitten sowohl aus Show als auch aus der Geschichte gespickt. Kunterbunt.

Es ist vielleicht etwas spät, dass dieser Film hier in die Kinos kommt, den Ankauf des Gripen, dieses Kampfflugzeugs, den haben die Schweizer inzwischen in einer ihrer vielen Volksabstimmungen verworfen, das Bankgeheimnis ist gefallen und auch das Minarett-Thema ist nach der Abstimmung aus dem Rampenlicht verschwunden.

Dieser Film will keinem weh tun und schon gar nicht den Deutschen. Er will letztlich herzig und nett bleibt. Und das tut er auch.

Ein Film, den man vermutlich am besten zusammen mit Leuten besucht, die einen Bezug zur Schweiz haben, um gemeinsam zu lachen oder Kommentare abzugeben.

4 Gedanken zu „Der große Kanton“

  1. Diese „Angst vor Überfremdung speziell der Deutschschweizer“ ist eine Verallgemeinerung der Meinung einer Minderheit. Auch verstehe ich nicht, inwiefern unsere Sprache eine mentale Angst darstellen soll…
    Und nebenbei ist das Bankgeheimnis zwar gelockert worden, aber es existiert noch immer (innerhalb der Schweiz hat sich daran noch nichts geändert – Lockerungen betreffen Bankkunden mit Wohnsitz ausserhalb der Schweiz).

    Aber ansonsten gut geschrieben! 😉

  2. Danke, GoodCop, für das Feedback.
    Wieso Minderheit, die Abstimmung zur Beschränkung der Zuwanderung hatte doch eine Mehrheit gefunden in der Schweiz?
    Was die Angst betrifft, so scheint die zur Behauptung im Film gegensätzliche Entwicklung im Gange zu sein: durch die große Anzahl deutscher Zuwanderer tendiert die Schweiz doch eher dazu, irgendwann zu einem weiteren deutschen Bundesland zu werden. Und das soll keine Ängste auslösen? Wobei auch das gesprochene Hochdeutsch dem Schweizer Dialekt bedrohlich werden dürfte. (Dialekt = Identitätsmerkmal. Dialektbedrohung = Identitätsbedrohung).
    Andererseits sollte man die Reißfestigkeit des lange gewachsenen Viersprachen-Konglomerates Schweiz sicher nicht unterschätzen.
    Was das Bankgeheimnis betrifft, so war das die Außenperspektive, logo.
    Ein Grüezi in die Schweiz!

  3. Hallo und guten Morgen! 😉
    Was die Abstimmung angeht, so besteht eine allgemeine Fehlinterpretation:
    Sicher gibt es Leute, die aus Angst vor Überfremdung „Ja“ gestimmt haben, doch sind diese – glücklicherweise – eine Minderheit (eben diejenigen, welche sich von den plump-reisserischen SVP-Plakaten beeinflussen liessen). Der Mehrheit der „Ja-Sager“ geht es aber viel eher um Selbstbestimmung und „Angst vor Überfüllung“. Anders gesagt ging es nicht darum, die Türe zuzumachen, sondern einfach um das Recht, überhaupt noch eine Türe haben zu dürfen.
    Ich will nicht behaupten, dass es hier gar keinen Fremdenhass gibt, aber in meinen Augen nicht mehr als in Deutschland, Frankreich, Italien, usw. (ohne, dass ich das in irgendeiner Weise gutheissen will!)
    Es würde mich von daher auch interessieren, wie es aussehen würde, wenn solche Abstimmungen in diesen Ländern möglich wären…
    Abgesehen davon:
    Es ist ja auch nicht so, als hätten 90% ein „Ja“ in die Urne gelegt. Es war mit 50.3 % ein extrem knappes Resultat
    Was die Sprache angeht, so mache ich mir da überhaupt keine Sorgen. Auch die Tatsache, dass die Zuwanderung aus Deutschland einen grossen Anteil ausmacht, kann mich nicht beunruhigen. Schliesslich gehen diese Leute ja bewusst ins Ausland, was kaum einen Anschluss an Deutschland herbei führen wird (wozu es dann sowieso wieder eine Volksabstimmung bräuchte – und, wie die ausgehen würde, das können wir uns ja denken). 😉
    Aber gut, der vorliegende Film stammt von einem Satiriker, der hier für seinen Humor sehr bekannt ist und natürlich sehr gerne provokative Aussagen macht (bei Weitem nicht so derbe, wie es bei euch ein Serdar Somuncu macht, aber inhaltlich auch wiederum nicht ganz so weit davon entfernt, wie man meinen könnte), und ich will hier grundsätzlich auch gar keine Riesendiskussion lostreten. Der Punkt mit der Überfremdung war mir, als Schweizer der selbst knapp 1 ½ Jahrzehnte in Deutschland gelebt hat, einfach ein Dorn im Auge, denn so sehe ich unser Land und das Abstimmungsresultat definitiv nicht (trotz der existierenden Negativ-Beispiele – diese gibt es leider überall).
    Gruss aus Basel! 🙂

  4. Es mag sich um eine Fehlinterpretation handeln, das Signal, was diese Volksabgstimmung ausgesendet hat, das war ungünstig für die Schweiz, da spielt es leider überhaupt keine Rolle, ob es sich um eine einfache oder eine qualifizierte Mehrheit handelt. Es dürften jedoch vor allem die entsprechenden Kreise in anderen Ländern sein, die versuchen werden dieses Signal in Stimmungen umzusetzen. Aber Sie haben, recht, wir können das hier nicht ausdiskutieren und das geht ja auch über den Film hinaus.

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