Rico, Oskar und die Tieferschatten (Filmfest München)

Die Figurenkonstellation aus dem dieser Verfilmung zugrundeliegenden Kinderbuch von Andreas Steinhöfel ist fabelhaft, genial: der „tiefenbegabte“ Rico, der fast wie ein Autist beim ersten Vorstellen einer neuen Person gegenüber immer den haargenau gleichen Monolog monoton von sich gibt: er heiße Rico Doretti sei tiefenbegabt, könne nur gerade ausgehen… Der sein Freund wird dagegen, Oskar, ist der hochbegabte, der immer mit dem Fahrradhelm rumläuft, weil allein das Überqueren der Straße schon gefährlich ist und weil die Statistik sagt, dass Unfälle nicht nur beim Überqueren der Straße passieren, bei denen ein Helm die Folgen lindert. Für alles und jedes hat Oskar eine lexikonreif runtergespulte Begründung und Erkenntis bereit. Hie also der tiefstapelnde Tiefbegabte, der seine Defizite mit hartnäckiger Autodidaktik kompensiert, der kreativ ist, indem er Dinge sammelt, Zettel, Papiere, Spuren von Gegenständen, indem er wie ein Schriftsteller ständig ein Aufnahmegerät bei sich hat und sich Begriffe merkt, indem er versucht den Dingen auf den Grund zu gehen, der Typ, der alles erst in seinem Kopf entstehen lassen muss und auf der anderen Seite Oskar, der Typ, der sicher ein Einser-Abitur machen wird, der die Welt aus der Theorie, aus dem Auswendiglernen kennt, aus dem Ansammeln von Wissen bewältigt, sich gleichzeitig aber vor schmerzlichen Erfahrungen zum Vornherein hütet, vor eigener Kreativität letztlich. Und so wird Oskar im echten Leben bös in eine selbstgestellte Falle stolpern, aus der Rico, der Kombinierer ihn wieder rausholen wird. In unserer Wissensgesellschaft allerdings dürfte es an Ricos zusehends fehlen, denn für Karrieren zählt das Einser-Abitur.

Dieser starken Substanz an Grundkonstellation können weder die Drehbuchbearbeitung von gleich drei Köchen (Andreas Bradler, Klaus Döring und Christian Lerch) noch die in knallbunter, kinematographisch praller Fülle fleißig zusammengebastelte Inszenierung (Neele Leana Vollmar), die gerne auf halbem Wege stehen bleibt, nichts anhaben.

Die Dialoge rettet die Inszenierung gerne, indem sie die Gesprächspartner einfach sich gegenüber stellt, so stehen und ihren Text austauschen lässt. Dieser Mangel an Regiekunst, versucht sie mit Kameramätzchen zu kompensieren: pausenlose Fahrten, Zooms, Reißschwenks, Zeitraffer, Überschneidungen, Zeichentricks; sie führt sich so auf, als wolle sie partout beweisen, dass sie selber noch Kind sei und das Spielen mit solchen Kinoelementen spaßig finde statt sich ernsthaft zu fragen, was zu zeigen denn wichtig sei, um der Fantasie der Zuschauer Raum zu lassen; so aber wird die Fantasie eher zugemauert, der Blick auf die Charaktere (und das dahinter stehende ernsthafte gesellschaftliche Problem) mit einem pausenlos hektischbunten Bilderreigen eher verstellt denn eröffnet. Darunter leidet die Klarheit der Erzählung, der Erzählrhythmus, der es auch von der Drehbuchkonstruktion her schwierig hat, denn erst nach einer Stunde fängt die kleine Kriminalgeschichte mit der Entführung durch den Kidnapper 2000 an.

Vorher wird ausgiebig der womöglich subventionsopportunistisch zusammengestellte Cast vorgestellt. Da ist der in solchen Multiförderprodukten offenbar unvermeidliche Axel Prahl, der vor lauter Rollen- und Gagenmitnahmeeffekten droht in Eindimensionalität abzuflachen; Vorsicht Spoiler: wenn er einen Sack mit Wäsche eine Treppe hinaufträgt, in dem noch ein schwerer Gegenstand drin versteckt sein soll, dann soll er ihn bittschön auch so tragen, und nicht den Eindruck erwecken, hier sei wirklich nur Wäsche drin, Unsorgfalt in einem tragenden Moment, die man bei der sicher stattlichen Gage nicht durchlassen dürfte.

Aus dem inhomogenen Cast ragen als großartige Highlights hervor: Karoline Herfurth als die leicht überforderte Mutter von Rico, die in einem „Etablissement“ arbeitet, schönste Berliner Farbe, man möchte sie küssen für die Rolle. Zuckersüßen altberliner Charme verbreitet Ursela Monn als Frau Dahling, die ihren Namen regelmäßig wiederholen muss wegen der Ähnlichkeit zu Darling, entzückende Miniatur. Und auch Anke Engelke deutet an, was mit ihr für eine tolle Szene als Eisverkäuferin zu machen wäre, wenn denn die Inszenierung das Klappern des Eislöffels nicht bloss als Gag verstanden hätte.

Ein Punkt, bei dem mir scheint, dass die Besetzung nicht gründlich durchdacht ist: Rico, der Tiefenbegabte, warum spricht er ein angepasstes Hochdeutsch, obwohl doch seine Mutter so wunderbar berlinert? Anpasserei scheint mir in diesem Falle rollenkontraproduktiv, nicht rollenkonsequent. Das würde ja auch den Gegensatz zum Besserwiss und Alleswiss reizvoller, emotional nachvollziehbarer gestalten.

Auch der Tick der Mutter von Rico, Taschen zu sammeln, der wird filmerzählerisch eher nur erwähnt, denn wirksam in die Story eingeflochten. Wir lernen die Mutter und den Buben zwar beim Kietzbingo kennen und Rico weiß, dass er sich wieder für eine Tasche als Gewinn zu entscheiden hat. Der Information halber kommt später der Schrank, der vor lauter Kietzbingo-Taschen überquillt noch ein-, zweimal vor, aber dass das mit dem Charakter der Mutter zu tun hat und für sie essentiell ist, das scheint mir irgendwie in der Luft zu hängen; kommt mir eher vor wie der Vollständigkeit halber zu Protokoll gegeben. Das Entsprechende könnte von der Geschichte mit der Fundnudel gelten, die meiner Ansicht nach auch nur ansatzweise zur Geltung und angemessener Wirkung kommt. Oder auch das Motiv „Klimpermann“ ist mir zu wenig in die Story verwoben, nur so, als ob es sich um eine ganz normale Alltäglichkeit handelt, der man kein besonderes Augenerk widmen müsse. Ist es eben nicht.

Die Eigenschaft des Suchens und Sammelns von Fundstücken von Rico, die spielt bei einem anderen Kinderfilm, der gerade diese Woche ins Kino gekommen ist, auch eine entscheidende Rolle: Otto ist ein Nashorn. Auch hier ist die eigene Findigkeit, das Sammeln von Fundstücken eine elementare Eigenschaft der Hauptfigur, wobei der Film es als Animationsfilm sicher leichter hat, die Kinderwelt konsequent ernst zu nehmen und deren Perspektive zu vertreten.

Mehr Tiefenforschung von Drehbuch- und Inszenierungsseite her hätte wohl auch dazu geführt, dass mehr auf die Reaktionen der Personen geachtet worden wäre, die das erste Mal mit Rico und seinem Vorstellungsmonolog konfrontiert sind.

Ja, es ist fröhlich sorglos-unbehaustes Dekokino. Die Drehbuchautoren, Regie und Caster als Dekorateure von Motiven nach dem zugrundeliegenden Kinderbuchbestseller.

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