Kreuzweg

Formal einfach und streng konzipierte, inhaltlich dichte, hochkonzentierte, an der lustfeindlichen und immer mit dem Teuflischen drohenden Moral der fiktiven Priesterbruderschaft St. Paulus orientierte Erkundung der Pubertät als eines Passionsweges mit tödlichem Ausgang.

Mit dem Passionsweg haben sich Künstler aller Zeiten immer wieder beschäftigt. Sie haben ihn bebildert oder er gibt den Stoff für die Oberammergauer Passionsfestspiele her. Bilder- und Skulpturenzyklen aller Jahrhunderte schmücken Kirchen und Kloster, Museen, Bildbände und Kreuzwege. Und die Kunstgeschichte befasst sich mit ihnen.

Auch die Filmgeschichte kommt um den Topos nicht herum. Die Geschwister Anna und Dietrich Brüggemann fügen dieser Geschichte ein weiteres Kapitel hinzu mit ihrer Realisierung von „Kreuzweg“, zum dem sie das Drehbuch gemeinsam geschrieben haben. Dietrich Brüggemann hat auch die Regie geführt, während Anna Brüggemann vor der Kamera als Ärztin agiert.

Es ist die Leidensgeschichte von Maria Göttler (für die Kinobewussten hierzulande dürfte dieser Familienname kein Zufall sein, deckt er sich doch mit dem Familiennamen eines renommierten Filmkritikers, für den Kino eine radikale Passion ist).

Maria wird in der ersten Szene mit anderen Jungs und Mädels vom Pfarrer in einer einzigen, langen Einstellung für die Firmung unterrichtet. Die Filmemacher setzen das mit der ersten Station des Kreuzweges gleich, mit der Verurteilung Jesu zum Tode. Was ist die Eucharistie?, über den Übergang ins Erwachsenenleben, über die Versuchung, das Teuflische, zum Beispiel die Zeitschrift Bravo, der Gläubige als Soldat Christi, der Seelen retten und Opfer bringen soll. Diese Verurteilung oder diese streng moralkatholischen Lehren (die Interpretation dieser ersten Kreuzwegstation durch die Brüggemanns ist gewiss nicht ohne Schalk zu lesen) fallen bei Maria auf ein offenes Ohr, einen offenen Geist, ein offenes Herz. Denn sie ist wenig geformt, voller unartikulierter Erwartung, Hoffnung, wie es so ist in der Pubertät, in welche die Eltern sie hineinlaufen lassen wie in ein offenes Messer.

Zuhause ist man streng gläubig, es herrscht vor allem von der Mutter, die immer noch alles über ihr Kind wissen willen, ein strenger Ton, der kaum Zuneigung zulässt, Mutterschaft als besorgte Besitzerschaft, als ob die Nabelschnur nie durchgetrennt worden wäre. Besonders der Opfergedanke trifft Maria tief. Sie möchte nicht nur auf Lustbarkeiten verzichten, sie möchte sich ganz Christus opfern. Kann man Landschaft opfern, fragt sie bei einem Spaziergang ihre Vertraute Bernadette, die als Au-Pair-Mädchen aus dem französischen Sprachraum bei Göttlers lebt. Aber schon bei diesem Familienspaziergang stellt Bernadette fest, dass Maria nicht gut aussieht. Kann sie denn nicht mal fürs Familienfoto lächeln? Nein, denn auf ihrer weißen Bluse ist ein Flecken, das widerspricht ihrem inzwischen gefassten (religionseitlen?) Ziel, eine Heilige zu werden. Die Ideen, die der Pfarrer in ihr gesät hat, arbeiten heftig in ihr. Sie ist zum großen Opfer bereit. Sie möchte sich nicht mit Oberflächlichem beschäftigen. Das kann man auch von diesem extraordinären deutschen Film sagen, dass er mit dem Vokabular einer so extrem katholischen Theologie in medias res des Pubertierens geht.

In der Bibliothek sucht Christian, ein netter Jungen aus der Parallelklasse, das Gespräch mit Maria über die mathematischen Hausaufgaben. Versuchung. Er singt in einem Chor. Die singen sündige Sachen. Aber auch Bach. Das wäre ein Weg, Glauben und Begegnung mit dem Jungen in Einklang zu bringe. Und auch die Aufgabe in der Familie, das Hüten des vierjährigen, behinderten Bruders Johannes, denn den könnte sie sogar mitnehmen in den Chor, meint Christian. Später wird er ihr, um sie zu ködern, sogar vorschlagen, sie könnten gregorianische Gesänge üben. In ihrem Kopf entwickeln sich Vorstellungen. Diese führen zu Lügen der Mutter gegenüber und zu eine eindrücklichen Beichtszene.

Die Geschwister Brüggemann bleiben in ihrem Drehbuch, das bei der Berlinale mit einem silbernen Bären ausgezeichnet worden ist, was für Deutschland, mit seiner kränkelnden Drehbuchkultur eine Sensation ist, immer hart am geistigen Prozess. Sie konzentrieren sich auf die Performance desselben durch die Darsteller, wobei die Auswahl zweitrangig ist; denn die Hauptherausforderung an die Schauspieler war, die Szenen ohne Unterbrechung durchzuspielen; allein dadurch entsteht eine Spannung von hoher Konzentration auf den Text und den roten gedanklichen Faden; method-acting-Elemente sind dabei zweitrangig, für die ist bei den meisten gar kein Platz mehr – und der Zuschauer ist genauso gefordert. Sie trauen den Zuschauern was zu, die Brüggemanns.

Es gibt nur wenige Kamerabewegungen in diesem Film mit seinen 14 Stationen (im Moment scheinen Filme, die in Kapitel eingeteilt werden, in zu sein, Lars von Triers „Nymphomaniac“ und Philip Grönings „die Frau des Polizisten“). Wenn die Kamera bei der Firmung plötzlich eine Fahrt mit den Firmlingen zum Altar beginnt und Maria, die vorher unauffällig in der Gruppe war, so gar nicht protagonistinnenhaft herausgehoben, und jetzt in der Schärfe begleitet wird, so bewirkt das im Zuschauer den Eindruck, als ob er jetzt im Sessel mitbewegt wird. Oder im 12. Kapitel „Jesus stirbt am Kreuz“, wie die Kamera sich plötzlich von Maria, die sich an der Hostie, die der Priester ihr zur Heiligen Kommunion in den Mund gesteckt hat, erstickt, wie sie, grob gesagt, den Geist aufgibt, da weiß die Kamera, wo das Wunder passieren wird und dreht sich mit Priester, Mutter und behindertem Buben auf dem Arm mit auf die andere Bettseite und der Zuschauer darf erleben, wie Marias Opfer sofort als Wunder auf ihren kleinen Bruder übertragen wird und Johannes seinen ersten Satz spricht. Auch an dieser Stelle lässt Brüggemann galligen Humor durchblicken. Worauf es allerdings die nächste Szene „Jesus wird vom Kreuz genommen und seiner Mutter in den Schoß gelegt“ etwas schwieriger hat, es ist die Szene im Bestattungsinstitut und es ist fraglich, ob die strenggläubige Mutter wirklich etwas kapiert hat. Bei der prosaischen Szene zur letzten Station „Der heilige Leichnam Jesu wird in das Grab gelegt“ ist der Vorgang schon passiert, die Erdaushubmaschine füllt die Erde über den Sarg in das Grab. Christian kommt vorbei und geht weg. Jetzt mag die Kamera auch nicht mehr beim Irdischen bleiben, folgt aus einigen Metern Höhe noch ein Stück Christian und schwenkt dann gen Himmel.

So direkt hat mich schon lange kein deutscher Film mehr angesprochen und beschäftigt. Weil er meiner Ansicht nach weit über die formale Begrenzung auf den Rahmen Kirche-Schule hinausgeht (die kommt auch vor bei einer Turnstunde, das Mobbing, richtig lebensnah und humorvoll, wie die anderen Kinder auch plötzlich eine Religion haben wollen, die ihnen dies und das nicht erlaubt). Vielleicht ist die Pubertät als tödliches Thema eher randständig in unserer Gesellschaft, obwohl sich in Deutschland alle ein, zwei Tage ein Teen umbringt.

Der Film fesselt, weil das Thema Toleranz und Recht des Menschen auf eine Entwicklung und auf Eigenleben im Zentrum stehen, weil das Thema einer konflikthaften Pubertät ernst genommen und nicht wie so oft oberflächlich verblödet wird.

Mit den beiden Hauptdarstellerinnen Lea van Acken als Maria und Lucie Aron als Bernadette, arrondiert von Franziska Weisz als Mutter und Moritz Knapp als Christian ist darstellerisch bereits viel gewonnen.

Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Mit 100 Jahren nach einem abenteuerlichen Leben noch nicht genug davon haben und statt der Feier im Altenheim ausbüxen und die noch verrückteren Abenteuer und Verwicklungen erleben, eine ziemlich unglaubliche Geschichte. Felix Hengren hat den Erfolgsroman von Jonas Jonasson jetzt verfilmt, das Drehbuch hat er mit Hans Ingemansson geschrieben.

Kein Wunder, dass Leute einem sagen, man müsse das Buch unbedingt lesen. Das vermittelt der Film in skandinavischer Lakonie und Trockenheit. Der Humor entsteht durchs Band und durchgängig dadurch, dass die Leute sich entweder nicht verständlich genug ausdrücken oder sich nicht genau genug zuhören; diese Kommunikationsdefizite haben schon die ersten Hundert abenteuerlichen Jahre von Allan Karlsson, eindrücklich gespielt von Robert Gustafsson, geprägt, die immer wieder in den Erzählstrang des aktuellen Roadmovies eingeflochten werden.

Im Altenheim laufen die Vorbereitungen zu Allans Geburtstagsfeier. Es wurde seiner Vorliebe entsprechend extra eine Marzipantorte zubereitet. 100 Kerzlein auf diese zu stellen und dann genau nachzählen, sind in diesem Milieu eine bewegende Aktion.

Der Jubilar sitzt in seinem Zimmer. Es ist eine spontane Idee von ihm, die sich aus einer Jugenderinnerung mit einem Blick aus dem Fenster ergibt, dass er sich entscheidet, mit seinem Pantoffeln und im Hausanzug aus dem Fenster zu steigen.

Die Jugenderinnerung ist die an eine Katze, die von einem Fuchs getötet wurde. Das erfordert nach Ansicht des Buben Konsequenzen. Hiermit wird sein Faible fürs das Sprengen eingeführt. Eine fette Sprengladung wird mit Würsten zusammengebunden und wie der Fuchs sich wieder herbei schleicht, con volpe in die Luft gejagt.

Nun ist der Alte draußen. Die Festgemeinde steht mit der Marzipantorte mit 100 Kerzchen drauf da. Keiner mag Marzipantorte. Allan ist bereits an der Busstation. Ein paar Münzen hat er dabei. Damit kommt er von Malmköping gerade bis Byringe, eine Ortschaft bestehend lediglich aus einem alten Bahnhäuschen. Ein junger Mann mit einem silbernen Alukoffer möchte aufs Clo. Der Koffer hat keinen Platz in der engen Toilette. So drückt er ihn dem Alten in die Hand.

Der Bus kommt. Gedankenverloren zieht Allan den Koffer hinter sich her. Und weg ist er. In Byringe steigt er aus. Der einzige Bewohner ist ein freundlicher Mann. Der lädt den skurrilen Alten auf einen Drink ein. Der junge Glatzkopf, dem der Koffer gehört macht anderntags die beiden Herren ausfindig. Es gibt eine kurze Gewaltaktion. Altenpower. Der junge Mann landet im Kühlraum. Die beiden Herren sind neugierig auf den Inhalt des Koffers. 50 Millionen Kronen.

So ist es im Leben. Immer geht es einen Schritt weiter. Mal wird es besser, mal weniger. So läuft es auch im früheren Leben ab. Über die Sprengungen kommt Allan nach Spanien, rettet aus Zufall General Franco das Leben, landet in den USA, gelangt mitten in die Atomforschung und lernt Herrn Oppenheimer kennen, hat eine simple Idee und der Atomtest gelingt. Anstoßen mit Harry S. Truman, der in diesem Augenblick durch den Tod des Vorgängers Präsident wird. So führt eines zum anderen. Bis Moskau und dann Paris. Und so wenig ist sein Altersausbüxen von Abenteuern verschont. Bald ist die Mafia hinter ihm her, die Polizei und in Bali hockt ein großer Drahtzieher. Just dorthin fliegt am Schluss die ganze Abenteuerbande, die sich inzwischen um den Alten herum gebildet hat – noch dazu mit einem Elefanten.

Was Allan am meisten zu beschäftigen scheint, dass immer wieder Menschen ihn angebrüllt haben. Irgendwann kennt man den Humormechanismus und da hätte Herngren gegen Ende hin vielleicht etwas kürzen können. Sonst ein Vergnügen, bei dem das letzte Jahrhundert im Eilzug durchfahren wird und wo man spontan nicht das Gefühl hat, man muss jetzt in schwierige Interpretationsgedanken verfallen. Aber Achtung, sollte Ihnen jetzt ein Hundertjähriger in Hausschlappen und Hausanzug begegnen, vielleicht hätte der eine Menge zu erzählen – und womöglich hat er auch etwas Kleingeld dabei – oder Explosiva!

Die Moskauer Prozesse

Mit Schweizer Präzisions-Logistik gegen Ideologie oder Kino, das verändern will.
Dieser Film von Milo Rau ist im besten Sinne ein Dokument. Wobei das Verwunderlichste daran ist, dass es so überhaupt entstehen konnte, grenzt die Veranstaltung doch bereits an Subversion gegen das immer extremistischere Putin-Absolutismus-Regime.

Milo Rau ist ein Schweizer und ein Theatermacher, der sich den demokratischen Idealen der Schweiz verpflichtet fühlt, die auch die Freiheit der Kunst postulieren. Er greift dort ein, wo er diese gefährdet sieht. Beispiel Russland. Seine hier initiierte und dokumentierte Theateraktion stellt 3 Prozesse gegen Künstler nach, die seit 2003 in Moskau stattgefunden haben. Es geht immer darum, ob Kunst die Religion beleidige und deshalb verurteilt gehört. Denn, das wird auch sichtbar, Putins Politik und Kyrills orthodoxe Kirchenpolitik gehen eine verhängnisvolle Symbiose ein, die jede freie Meinungsäußerung, jede kritische Kunstäußerung ersticken und verbieten will. Oder wie ein Priester es formuliert, der Prozess lege offen, dass Putin Kyrill heiraten will.

Die Stimmung bei diesem Thema scheint jedenfalls aufgeladen zu sein in Russland, die Nerven liegen blank; die Rationalität scheint verlorengegangen zu sein. Umso erstaunlicher ist es, oder ist unser Bild doch zu negativ von Russland?, dass der neutrale Schweizer Milo Rau es geschafft hat, lauter Originaldarsteller, also Künstler, Kunstexperten, eine Richterin, Geschworene, Anwälte, Staatsanwalt, Kirchenvertreter, Gläubige, Wissenschaftler dazu zu bringen, an einer einmaligen Nachstellung der drei Prozesse über die Ausstellungen „Vorsicht Religion“ und „Verbotene Kunst“ sowie den berühmten Kirchenauftritt von Pussy Riot in Moskau teilzunehmen, wobei manche Teilnehmer sich geweigert haben sollen, ihre Gegner, vor dem Prozess überhaupt zu sehen und zu begrüßen.

Umso erstaunlicher ist, dass der Prozess, der wie eine Theateraufführung mit Publikum und mehreren dokumentierenden live Kameras stattfand, so relativ demokratisch ordentlich und ohne Handgreiflichkeiten, kaum Beleidigungen durchgeführt worden ist. Es ist spannend zu verfolgen, wie Ankläger und Verteidiger versuchen, die Geschworenen davon zu überzeugen, dass die diskutierten Kunstaktionen bewusst die Gläubigen beleidigen, respektive nicht beleidigen wollten, und wo überhaupt so eine Beleidigung anfange und was denn mit den Ikonenverbrennungen im Rahmen der Revolution gewesen sei.

Das Urteil der Geschworenen erstaunt, konterkariert etwas das Bild von einem totalitären Russland. Andererseits stand die böse Realität einmal bedrohlich nah. 40 orthodoxe Kosaken hatten von dem Prozess gehört, der öffentlich so gut wie nicht angekündigt war, hatten gerüchteweise gehört, dass hier die Religion beleidigt werden soll und ließen, obwohl vorurteilshaft voller Animosität sich nach einiger Argumentation darauf ein, dem Prozess zu folgen, den sie allerdings bald wieder wortlos verlassen haben sollen.

Schon tags zuvor meldet sich die Einwanderungsbehörde und erreicht eine Zwangsunterbrechung der Aufführung durch minutiöse Kontrolle der Papiere des Regisseurs und anderer. Aber auch das kann die Fortführung des Prozesses nicht stoppen.

Die Künstler werden von einem Orthodoxen als Vorboten eines liberal-totalitären, liberal-faschistischen Staates bezeichnet. So prallen die Welten aufeinander.

Wunderschön die Stelle im Prozess, wo die Kunstkritikerin einen den autoritären Staat unterstützenden und von ihm profitierenden Künstler fragt, ob das von ihm als eine Kunstaktion zu verstehen sei, dass er sich dieses faschistoide Kostüm anziehe; worauf er Drohungen ausstößt und die Richterin den Künstler ermahnt, solches zu unterlassen. Der Film macht an verschiedenen Statements deutlich den Geist des heraufziehenden Putin-Kirchen-Totalitarismus, mit dem sich zu unterhalten außerordentlich schwierig ist, weil er nur Gut und Böse und keine Zwischentöne kennt.
Kino als Bericht über eine demokratische Lehrstunde mittels des Versuchs einer Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Totalitarismus, hochaktuell angesichts der Krim-Krise.

Die Frau des Polizisten

Filmkünstlerisch in einer kompromisshaften Mischung zwischen Bela Tarr (ganz genau hinschauen, ob und was sich tut) und den Gebrüdern Dardennes (den Akteuren hautnah auf die Pelle rücken) dann doch systematisch-deutsch-themenhaft-lehrhaft behandelt Philip Gröning das Thema Gewalt in der Familie.

In 59 Kapiteln, die immer mit Schwarzbild geöffnet resp. geschlossen werden, öffnet er Hingucker auf das Leben der Polizistenfamilie Perkinger (David Zimmerschied als Uwe, der Vater, Alexandra Finder als Christine, die Mutter und Töchterchen Clara). Diese Kapitel sind teils auch Lektionen. Das System wirkt wie ein ruhiges Kreisen eines Leuchtturmscheinwerfers, der immer wieder an und ausgeht und dabei kurz innehält.

Gleich das erste Kapitel ist die Lektion zum Hinschauen. Fast eine Nature Morte, ein Stilleben im Wald. Geäst. Ein Baumstamm mit einer roten Farbmarkierung. Nichts rührt sich. Die Tonspur hält sich mit Waldleben zurück. Festpositionierte Kamera. Da. Eine kleine Schärfeveränderung bei der Kamera. Und noch eine. Und noch eine. Ah, wir müssen ganz genau hinschauen. Und eine Ankündigung für den Naturmystizismus, der ein durchgehendes Thema sein wird. Ein Hase hoppelt davon. Später wird es ein Reh sein, ein Fuchs, ein Hirsch, ein Dackel, ein Wurm, eine Maus. Immer sind die Tiere gefährdet. Bild der Gefährdung. Dagegen die Natur als wunderbar gewirkt und schön, sei es Ährenfeld oder Geäst im Frühjahr vor dem Knospen der Blätter gegen den Himmel oder ein kleines von der Welt vergessenes Wehr, um das sich die Natur rankt oder das Glück des Familien-Osterspazierganges im deutschen Wald.

Das intakte Leben der Kreatur. Das gefährdet ist. Das angefahren werden kann, das Reh. Der Polizist muss es erschießen, denn es zuckt noch. Er muss. Gewalt ist sein Beruf, gelegentlich, eigentlich.

Eine weitere Klammer in diesem Film und wie sich im letzten Bild herausstellen wird, doch recht mahnfingerhaft, ist der Alte, der alte Mann, der alte Herr. Single ganz offensichtlich. Der in einer peinlich sauberen, einfachen Behausung wohnt. Das erste Kapitel, das sich ihm widmet, Kapitel 3, zeigt ihn zuerst in Nahaufnahme von hinten mit einer Wintermütze auf dem Kopf vor Winterlandschaft. Er dreht sich zur Kamera. Jetzt schaut er die Zuschauer an, das Geschehen an. Die Klammer wird im vorletzten, im 58. Kapitel geschlossen. Jetzt schaut der Alte zuerst in die Kamera. Dann dreht er sich weg. Er will nichts gesehen habe. Das dürfte die eindeutige Symbolik sein. Die Mahnung an den Zuschauer, sich jetzt nicht gleich wegzudrehen.

Die Familie Perkinger lebt irgendwo in Norddeutschland in einem Stadtviertel aus roten Backsteinhäusern mit engen Gassen. Man kann die Nachbarn übers Fenster beobachten oder in die Gasse hinunterschauen. Und es gibt einen kleinen Hof von kaum mehr als einem Meter Breite. Hier pflanzt Christine mit ihrem Töchterchen Clara Grünzeug an oder beobachtet das Gewürm, das nach Wegnahme der Steinplatten, die die Beete zugedeckt haben, herumkriecht.

Das Thema der dunklen Seite unseres Polizisten wird erst im Laufe des Filmes peu a peu, erst mal ganz unverhofft, nie psychologisch vorbereitet, eingeführt oder sichtbar gemacht an immer mehr blauen Flecken, die den Körper seiner Frau übersäen. Aber genau so oft ist das Paar aneinander geschmiegt, zärtlich, unglaublich zärtlich miteinander, auch wenn diese Szenen seltener werden.

David Zimmerschied dürfte der eigentliche Protagonist sein, um den es geht, er meistert seinen Part mit Bravour, er hat immer den Subtext, dass in ihm etwas verborgen ist, was nicht zu seiner korrekten, jeglicher Aggression abholden Oberfläche passt. Obwohl der Titel des Filmes heißt, die Frau des Polizisten, so ist sie dramaturgisch nicht als Hauptfigur behandelt. Sie ist das Opfer, das anfangs alles weg lächelt oder gar übersieht. Denn so ein kleines süßes Mädchen wie ihre Clara ist Segen und Glück, Kompensation genug.

Von der Performance her wirken die Szenen, vor allem wenn es um die Gewalt geht, eher thesenhaft, indikatorisch denn realistisch, weil dezidiert auf das Aufzeigen der psychologischen Herleitung, die zu den Taten führt, verzichtet wird.

Damit keine Langeweile aufkommt, gibt es als belebende Elemente, je nachdem, was der Polizist für einen Dienst hat, einen heftigen Unfall mit Traktor und zwei toten Frauen aus einem kleinen PKW, eine Rennveranstaltung mit aufgemotzten Traktoren, ein Umzug mit Pferden und Blaskapelle oder eine wilde Fahrt mit dem Töchterchen im Polizeiauto über Land, denn Clara möchte, dass Papa das Blaulicht und die Sirene anstellt. Das ist von dem wenigen Lärm in diesem leisen Film über Gewalt, der ganz auf eine Musiksauce, die drüber gelegt wird, verzichtet.

Zuhause vergnügt sich Uwe gerne mit der Playstation. Wenn seine Frau im Bad raucht, da kann er richtig böse werden. Das Desaster in der scheinbar intakten Familie schlägt sich verräterisch in den Kinderzeichnungen nieder. Andererseits gibt es wieder unendliche Harmonie zwischen Mutter und der Tochter, die in einer riesig scheinenden Badewanne sich nackt vergnügen, wo die Kamera da überall hinschaut und auch mal ganz kurz verharrt, das dürfte die zeitgeistig hysterisierten Sittenwächter gegen die Kinderpornographie aufs Äußerste alarmieren.

Familienglück: er schenkt ihr Rosen; das Zuspitzen der Stengel ist eine brutale Angelegenheit. Gemeinsam mit dem Töchterchen Salzstangen verzehren und Playstation spielen.
Der Spießer, der mit dem Dackel in der Gasse spazieren geht.

Viele Interieurs, Details von Wänden und Möbeln. Nach dem ersten Kapitel ist man im Minikurs geschult, genau zu beobachten, wie jetzt der Polizist gegen Morgen von der Nachtschicht vorsichtig, leise nach Hause kommt und behutsam die Schuhe auszieht, die Hausschuhe anzieht und die Kamera lange auf dem Muster des Treppenläufers hängen bleibt, versucht man darin Sinn, Bedeutsamkeit zu entdecken. Die Sehnsucht nach Harmonie, die vergeht nie, die schlägt sich selbst in so einem Teppichmuster nieder.

In Sarmatien

Volker Koepps Update zu seinen früheren Filmen aus dem Osten als der Versuch einer Zusammenfassung im Sinne einer Gesamtsicht, welche die Veränderungen im Herzen von Europa zeigt.

Sind die früheren Filme von Koepp als prägend für die Landschaften und fast elegisch in Erinnerung, so wird heute schmerzlich klar, dass so eine Prägung wohl kaum mehr machbar ist. Es gibt zwar noch die Landschaftsbilder, es gibt auch Dorfjugend, die auf einem Pferdekarren die Traubenlese vom Weinberg ins Dorf fährt und fröhlich Trauben mampft und erzählt, die seien eigentlich nur zum Pressen von Wein gut. Aber selbst bei ihnen zeigt sich so etwas wie Medienabgebrühtheit und die Kunst drauf los zu plappern und Statements abzugeben. Wie das die Jungen heute tun oder wie Volker Koepp es von ihnen verlangt, dass sie über ihre Situation reden, familiär, beruflich, wo sie leben, in der Ukraine oder in Kalinigrad oder sich nach dem Europa orientieren, was gar nicht die Wiege oder der Kern Europas sei, denn der liege in Moldawien. Nur ist das dabei sich zu entleeren von Menschen. Die Jugend sieht dort keine Perspektive.

So sind denn die Ausschnitte aus Koepps früheren Filmen die beeindruckenden, wie aus „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“; während die heutigen Interviews der auch viel jüngeren Leute alle viel glatter sind, Statements, Meinungen und kaum Ansätze von Lebensgeschichten.

Andererseits ein hochaktueller Film, ein Muss für jeden politisch Interessierten, was ist die Ukraine überhaupt, wenigstens einen Einblick zu bekommen, angesichts der sich überschlagenden Ereignisse dort.
Eine brutale Info: dass die Rumänen in Russland rumänisch in kyrillischer Schrift schreiben mussten, wobei das Rumänisch auch noch russifiziert wurde, und das Regime dauerte 60 Jahre!

Als Abwechslung zu Meinungen und Bildern gibt es zwischendrin Religionsfolklore: das dreitägige, chassidische Frühjahrsfest, wo nur Männer sind und das ganze Dorf und alle Bewohner ihre Wohnungen und Zimmer und Häuser vermieten.

Momentweise entsteht der Eindruck, Volker Koepp verliere sich etwas in seinen Filmen und einigen Figuren daraus, verhasple sich in der eigenen Spur, in der Menge des Materials und des Stoffes. Durch diese vielen Statements ist der Film dann wohl doch eher fürs TV geeignet. Da ließe sich ein wunderbarer und fürs TV sicher herausragender Zwei-, Drei- oder gar Vierteiler draus machen.

Die Dinos sind los

Die Überfülle an Bildmengen des US-Trick-Kinos mischt sich hier mit der Härte koreanischer Animation. Nach einem Drehbuch von Adam Beechen, Jae Woo Park, James Greko & Zack Rosenblatt haben Yoon S. Choo und John Kafka die Regie geführt.
Für Kinder ab 6 Jahren soll dieser brutale Monsterfilm sein? Vielleicht kann ich mich nicht in die Jugend von heute versetzen. Die einerseits, wie hier in diesem Animationsfilm die Hauptfigur Ernie, ein 12jähriger Junge, ständig von seiner Mutter überwacht wird. Leicht zu bewerkstelligen in Zeiten der Handys. So lebt der Junge wie eingekerkert in ein Regelsystem. Etwa ein Drittel des Filmes von 85 Minuten nimmt die Schilderung der Familienverhältnisse und dieses Lebens von Ernie ein und seiner ihn ständig bespitzelnden und ihn verpetzenden, kleinen Schwester Julia, derweil die Mutter, sich öffentlich ehren lässt dafür, wie regelkonform sie doch ihre Kinder erziehe.

Aber Ernie stöbert mit seinem Freund Max, dessen Vater wiederum seit Jahren an einer Zeitmaschine bastelt, in der Terra Dino herum, wo bald ein neues Dinosaurier-Skelett enthüllt werden soll. Das böse Schwesterchen schleicht den Spitzbuben nach und löst den Alarm aus. Der Schaden hält sich in Grenzen, nur die Hose des unaufmerksamen Wachmannes geht kaputt dabei.

Eigentlich sollte der Bub im Laden seiner Mutter aufpassen. Aber die Zeitmaschine reizt. Der Vater ist nah dran, sie funktionstüchtig gemacht zu haben. Die Kinder kommen dem zuvor, Ernie, Max und Julie sitzen drin. Sie funktioniert und weg sind die Kids.

150 Millionen Jahre zurück in einer Dinosaurierwelt setzt sich die Maschine, die wie ein Ei aussieht, ausgerechnet der T-REx-Dame Tyra ins Nest. Diese glaubt, es seien ihre Jungen die da geschlüpft sind. Während ihr richtiges Ei, die Zeitfahrt ins Heute gemacht hat und im Atelier von Maxens Vater landet. Bald wird dort das Kleine T-Rex-Kücken schlüpfen.

Die Kinder wachsen in der Dinovergangenheit als kleine Saurier auf, werden von der Mutter beschützt und abgeschlabbert. Aber es gibt Monster, die hungrig auf kleine Saurier sind. Das hat rasende Fahrten, gerne auch auf dem Skateboard mit Raketenantrieb in knallharten Actionkulissen zur Folge. Jetzt wird der Film ein hardcore Actionstreifen, von dem ich nicht weiß, wie ich mit 6 Jahren drauf reagiert hätte.

Es geht alles rasend schnell, es ist sehr, sehr dunkel (3D!) und sehr, sehr laut. Auch das Auftreten der Tyra, einer Mutterfigur, erinnert an ein mittleres Erdbeben. Es gibt Abgründe und Klüfte und Höhlen und bedrohliche Vögel und grässliche Monster. So eine Zeitreise kann sich ziehen. Aber der Vater von Max baut eine weitere Zeitmaschine, so dass dem glücklichen Ende nicht mehr viel im Wege stehen kann. Schön ist der Moment, in welchem seine Spielkameraden in Gefahr sind, wie Ernie in den Monsterhöhlen mit Hilfe seines Helmes ein die Monster erschreckendes Echo fabriziert und diese irritiert. Kampf durch Witz und List.

Lone Survivor

Schwülstiger, die Kriegskameraderie verherrlichender Militärpropagandakitsch in einer Kulisse, von der Louis Trenker nur geträumt haben könnte.
Ständig fragt man sich, was machen diese geleckten und dann oft plump auf verletzt geschminkten süßen Hollywoodboys in diesem unwegsamen, felsigen Gelände, was Afghanistan markieren soll. Haben wir es mit einem Trainingsplatz für Schauspieler zu tun, die sich in Todesröcheln, Hyperventilation, dem Felsenhinunterkullern und unendlich vielem Fuck-Sagen üben wollen? Wie viel Geld mag das Pentagon in dieses Kriegsheldenpoesiealbum gesteckt haben? Denn als solches fängt es an. Und kein Konflikt weit und breit.

Einmal nur hat die kleine Truppe von GIs, die hier im Mittelpunkt steht, und von denen zur Erfüllung des Titels nur einer überleben wird, ein Entscheidungsproblem. In einem Bergwald hoch über einer afghanischen Ortschaft müssen sie sich entscheiden, wohin sich zurückziehen. In der Ortschaft vermuten sie einen richtigen Bad Guy, der schon so viele kostbare, amerikanische Soldaten auf dem Gewissen hat, und den sie töten sollen. Der Einsatz muss zu einer Zeit gespielt haben, als die Amis noch keine Drohnen im Einsatz hatten, sonst hätte man das Gebiet vorher absuchen und feststellen können, dass die paar dummen Soldaten direkt in ihr Verderben laufen, in dem sie sich dafür entscheiden, sich in Richtung Bergkuppe zurückzuziehen, wo die Taliban wie Skulpturen am Horizont aufgereiht in Reh und Glied auf sie warten.

Dieser Film von Peter Berg, der auch Schauspieler ist und der mit Marcus Luttrell und Patrick Robinson für das Drehbuch zeichnet, sieht sich in einer moralischen, nicht nur in einer kriegspropagandistischen Mission. Er weist ausdrücklich darauf hin, dass nicht jeder Afghane ein Bad Boy sei. Der einzige Überlebende des hier verfilmten Vorganges, der auf einer wahren Begebenheit beruhe, der wird von einem Afghanen in seinem Dorf aufgenommen, weil dieser sich der traditionellen Gastfreundschaft verpflichtet fühlt.

Verwunderlich, dass deutsche Verleiher sich trauen, so eine schmachtfetzige, amerikanische Heldentümelei, der Film hört sogar mit einem Song über Heldentum auf („how we can be heroes“), hier ins Kino zu bringen; sie scheinen nicht zu verstehen, dass bei uns der ideologische Boden für solche Filme fehlt – und hoffentlich für alle Zeiten fehlen wird. Umso mehr als der Film cineastisch armselig ist, die Rollen ohne Konflikte bleiben.

Der Film fängt an mit einer schwärmerischen Ode an die Militärkameradschaft unter hübschen, sinnlichen Männern, die eher für die Werbung von Rasierwasser geboren zu sein scheinen denn für den Kampfeinsatz am feindseligen Hindukusch. Lauschiges Bergwalddrama mit viel Schießerei.

Und warum sie sich den Berg hinauf zurückziehen? Mit ihren Zielfernrohren haben sie den Bad Guy im Visier. Er ist nicht, wie sie glauben, nur von zehn Beschützern umgeben, sondern von einer „fucking army“. Außerdem scheint der Bad Guy nichts anderes zu tun zu haben, als die ganz Zeit die Dorfstraße auf und ab zu gehen mit seiner Entourage und sich im Zielfernrohrbereich der amerikanischen Good-Guys zu bewegen. Das ist die List, die den Heros nicht zu denken gibt.

Der Film hat zudem große Probleme mit der Glaubwürdigkeit, denn die Handlungen dieser Soldaten wirken konfus. Ständig fragt man sich, was tun die da? Der Verzicht auf individuelle Konflikte oder der Entscheid für die Lobhudelei der Mutigen, führt dazu, dass einem auch total wurscht ist, wer nun erschossen wird oder wer wen erschießt, manchmal am Rande der Lächerlichkeit; wenn einer schreit „I lost my rifle“. Der Ärmste, ohne Gewehr im Jagdwald!

Ein Stöhn-, Schnauf- und Fuckkrieg. Oberkitsch: wie einer stirbt, kullert ihm eine dicke Träne die Wange hinunter, so wie der Sterbende vorher den Felsen hinuntergekullert ist, verwunderlich, dass er das überlebt hat. Dafür verlustiert sich der Film in breiter Zeitlupe gleich doppelt an einem Schuss in den Rücken eines Ami-Soldaten. Beschwörung, you are not dying. Lügen bis zuletzt. Das heißt auch Krieg.

Gedanke dazwischen: ein Schauspieler, der so eine Rolle annimmt, muss vielleicht eine gewisse Begrenzung der Intelligenz oder groben Geldmangel aufweisen.
Oft am Rande des Grusicals.
Der Besetzungskitsch wird mit Siegel und Stempel versehen, wenn am Ende die Originale gezeigt werden neben den Hollywooddarstellerboys. Die Originale sind ernst, verschlossen.

Journey to Jah

Jamaika, Rastafari und Reggae, für Dokumentaristen ein Traumsujet.
So bringen es uns Noel Dernesch und Moritz Springer rüber. Ihre beiden Protagonisten sind zugewanderte Jamaikaner und Sänger, die mit europäischer Gründlichkeit sich sowohl die Sprache als auch die Musik angeeignet haben und überaus erfolgreich sind.

Es gibt Aufnahmen eines Konzerts in Köln mit einer unübersehbarer Menge von Zuschauern, wo der Deutsche Tilmann Otto, der als Musiker Gentlemen heißt und der Italiener Alberto D’Ascola, der sich Alborosie nennt, die Menge elektrisieren. Sie vermitteln das, was sie auf Jamaika gefunden haben. Es ist ein Hoffnungstropfen gegen die Unfreiheit und Einsamkeit des Menschen, ein Argument für Spiritualität.

Diese Musik hat ihren Ursprung in der Ghettos von Jamaika, dort wo die Armut herrscht, die Hoffnungslosigkeit, die Perspektivlosigkeit, wo die Menschen eng aufeinander leben und aufeinander angewiesen sind. Unglück, was eine kulthaft begeisternde, ansteckende Musikkultur hervorbringt, die schon für die Befreiung aus der Sklaverei geholfen hat.

Tilmann beeindruckt am meisten die Spiritualität der Menschen dort. Dass sie über den Glauben sprechen, dass sie überhaupt miteinander reden. Das empfindet auch die Sängerin Terry Lynn, wie sie ihr Haus wieder in ihrem Viertel baut.

Der Film ist eine sympathische Zusammenstellung aus Proben- und Konzertmitschnitten, aus vielen Gesprächen mit den beiden Protagonisten, aber auch mit anderen Sängern, mit Produzenten, mit einer Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaft aus Jamaika, mit dem Vollblutrasta Natty, der in Sea View, einem Ghetto von Kingston wohnt und lebt und die Rastakultur personifiziert.

Und immer wieder traumhaft schöne Aufnahmen von Jamaika, dem Meer, den Häusern, den Armenvierteln, die so malerisch aussehen.

Auch der inhaltlichen Begründung von Reggae und Rastafari wird nachgegangen. Die Spiritualität gegen die „bad experience“; und aufregend Marly JR mit seinem dicken, knöchellangen Haar, der zu einem Auditorium sprechen soll, obwohl er doch lieber singt und deshalb ständig die Arme schwenkt auf der Bühne, als ob er ruderte. Rastafari, das den Zugang zum Allmächtigen schafft.

Auch die Themen Homosexualität und Homophobie werden diskutiert, was auf Jamaika alles andere als selbstverständlich ist; wobei Diskriminierung doch der Freiheit, die die Lieder besingen, diametral entgegengesetzt ist. Die Message: lebe im Moment, es ist Dein Leben. Während es im Ghetto in erster Linie darum geht, zu überleben.

Der Titel des Filmes „Journey to Jah“ (Reise zu Gott) ist auch der Titel eines Songs von Tilmann. „I’d rather be a hustler“ singt Terry Lynn in Berlin; sie möchte etwas von dem Jamaika-Vibe rüberbringen – was ihr mühelos gelingt. Diese Musikbewegten möchten die Welt ein bisschen besser machen und produzieren bei uns am Ende doch nur die üblichen Konsumveranstaltungen. Da es sich allerdings mehr um einen Hommage-Film handelt, werden Fragen nach der wirtschaftlichen Situation der Protagonisten zurückgestellt. Immerhin ist zu erfahren, dass Terry Lynn und auch Tilmann oft auf Tournee sind. Tilmann sinniert sogar an einer Stelle, er sei mehr im Hotel als anderswo und er fühle sich gelegentlich wurzellos – auch das direkt konträr zur Message der Songs. Wobei sein Produzent an einer Stelle meint, die Umsetzung jeder dieser Musiken werde dogmatisch. Tilmanns Satz, die Freiheit fange für ihn da an, wo die Sehnsucht stärker werde als die Vernunft, bedürfte der eingehenderen Analyse.

Need for Speed

Scott Waugh, der Regisseur dieses Filmes nach einem Drehbuch von George Gatins, hat bei IMDb am meisten Einträge als Stuntman, was vielleicht sein Vorgehen hinsichtlich des Themas Geschwindigkeit verständlich macht, was vielleicht den Eindruck, dass es hier um eine Hingabe ans Handwerk gehe, auch Kino als sorgfältiges Handwerk, orientiert am Stunthandwerk und weniger als existenzialistische, politische oder künstlerische Exploration verstanden, nicht als Suche nach einem wegweisenden Kino.

Es gibt an einigen Stellen ganz ruhige Expositionen, Besprechungen der Dinge, die kommen werden. So wie ein sorgfältiger Stuntman seine Aktionen vorbereitet. Diese Dinge sind illegale Autorennen. Bei den Rennen selbst, da donnern die Motoren, die Boliden, die Mustangs, die Ferraris, die Maseratis oder was auch immer dröhnend los und allzu gerne legen sie auf den Straßen kleine Tänze, kleine Schlenker,kleine Slaloms hin, sieht lustig auch, erklärt, dass hier einer sein Handwerk versteht.

Die Geschichte ist einfach. Bei einem illegalen Rennen passiert ein tödlicher Überschlag. Der Junge, der bisher vor allem immer dann, wenn die Kamera auf ihn gerichtet war, charmant gegrinst hat, den hat’s erwischt. Sein Kumpel Aaron Paul als Tobey Marshall wird zu zwei Jahren Knast verdonnert. Er hatte eine kleine Autowerkstätte betrieben, in der er mit Freunden Autos frisierte und herrichtete. Dominic Cooper als Dino Brewster, der Verursacher des Unfalls, geht ohne Anklage aus dem Verfahren hervor.

So wird denn zwei Jahre später, wenn Tobey auf Bewährung aus dem Knast kommt, die nächste Stufe dieses Filmes gezündet, die die große Abrechnung zwischen Tobey und Dino vorbereitet.

Das ist eine rasende Fahrt in dem wieder hergerichteten Mustang mit Imogen Poots als hübsch-blond-schmollmündiger Julia Madden, die eine schnuckelige Fake-Britin spielt. Ziel der Fahrt, das innert 45 Stunden erreicht werden muss, ist Kalifornien. Dort findet das irrste illegale Rennen statt, das von einem Typen organisiert wird, der von Zuhause aus über Internet alles organisiert, die News und die enorme Gewinnsumme bekannt gibt und im letzten Moment auch die Strecke.

Dort wird es, das ist absehbar und nicht zu viel verraten, zur dritten Zündstufe dieses Filmes kommen, zum Countdown zwischen Tobey und Dino. Es geht um viel Geld noch dazu. Aber das ist nicht so wichtig. Im Grund zählt, dass der dünne Plot Anlass gibt locker eine frische Action(schlacht)platte anzurichten, mit alle dem, was mit schnellen Autos stuntmässig heute filmisch zu bieten ist, erst recht, wenn noch Begleitung aus der Luft garantiert ist, wenn der Gegner über diverse Überraschungen an Mitspielern, zu bedrohlichen Vehikeln umgebaute Trucks zum Beispiel verfügt und wenn das große Rennen von immer mehr Polizeifahrzeugen gestoppt werden soll und dazu noch auf einer bergigen Strecke der kalifornischen Pazifikküste entlang stattfindet, teils an gefährlichen Klippen.

Ein geradlinig entwickelte Geschichte, aber klar inszeniert und exponiert und insofern für den Autorennfreund sicher ein Vergnügen. Und für die letzte Szene gibt’s ein direkt idyllisches mit einer Mauer eingefriedetes Kirchlein hoch über dem Meer. Selbstverständlich explodieren mehrere Autos. Das gehört dazu in so einem Film wie das Amen in der Kirche.

Vielleicht ist es diese Hingabe ans Handwerk des Stuntmans, der hier Regie führt, die mir den Film durchaus sympathisch macht, auch wenn er in 3D angeboten wird. Er gibt nicht vor, mehr zu sein als er ist, wobei er trotzdem an einigen Stellen Platz für Gespräche und Besprechungen hat. Melancholisch oder romantisch am Ende noch der song „may your love never end, and if you need a friend, there is a seat along side me“. Eine Liebhaberangelegenheit.

Wer ist Thomas Müller?

Dass Durchschnittlichkeit dokumentarfilmerisch schwer zu referieren ist, das beweist Christian Heynen mit diesem seinem typisch durchschnittlich deutschen Dokumentarfilm, der sich mit dem typisch durchschnittlich deutschen Mann beschäftigt.

Der Dokumentarfilmer hat sich vom Statistischen Bundesamt erklären lassen, wer der typische Durchschnittsdeutsche sei: er heiße Thomas Müller, sei 43 Jahre alt, 1,78 Meter groß, ist mit 84 Kilo zu schwer, schaut am Tag 4 Stunden Fernsehen … (wo die alle diese Zahlen her haben?).

Nun meldet er sich mit diesem Projekt, den typisch Durchschnittdeutschen zu „erforschen“ bei den typisch durchschnittlich deutschen Filmförderungen und den typisch durchschnittlich deutschen Fernsehredaktionen, die sich selbst wunderbar gespiegelt sehen und erhält Geld für das Projekt und los kann die Reise gehen, auf zur Thomas-Müller-Feldforschung.

Dann suchte Heynen querbeet in der Republik Deutsche, die dieser Durchschnittlichkeit entsprechen (ob er die Kilos genau nachgemessen hat, wage ich zu bezweifeln) und interviewt diese.

Seinen Sammlereifer belegt sich der Dokumentarist auf einer Pinnwand. Auf dieser wird nach jedem abgehandelten Thomas Müller mit einem Reissnagel auf die Stirn ein Portraitfoto von diesem befestigt mit einer typisch durchschnittlich-deutschen Beamtengeste, wie früher Postbeamte den Stempel auf die Briefmarke knallten; auch mit diesem Triumphgefühl der Erledigung.

Dann folgt die typisch durchschnittlich-deutsche Dokumentaristen-Postproduktion: Unmengen von Dokumaterial mit Interview- und Blabla-Verhau sichten und kürzen, zusammenschneiden, mit eingängiger Musik, die der vermutete Durchschnittsdeutsche liebt, und mit ein paar schönen Kameraaufnahmen verschönen.

So ergibt sich ein unverbindlich, amorpher Themenwust vom Börsenmenschen über den HartzIVler, die Arbeitslosigkeit und das Künstlertum zur Kirche, das Immigrantenthema wie den Krieg in Afghanistan – die Bundeswehr dankbar für jeden Propagandaauftritt -, Thema Mann/Frau, Ossi/Wessi und die Musik.

Beim Militärpropagandaausflug nach Kundus hat sich der Dokumentarist allerdings atypisch durchschnittlich deutsch verhalten, Wohlverhalten gegen die Gastgeber vermutlich, und sich keine Meinung zu diesem Einsatz gebildet, insofern unterscheidet er sich vom typischen Durchschnittsdeutschen, der den Einsatz ablehnt.

Manche Statements sind inzwischen längst überholt: das Sparbuch sei nicht tot zu kriegen sagt der Börsenmensch, gerade ist Herr Draghi von der EU dabei, dies mit großem Erfolg zu tun. Und Rom und die Kirche, da ist inzwischen Franziskus, aber immerhin interessant, dass der Pfarrer an der Wand eine Franziskus-Radierung hängen hat. Die Werbeagentur in Hamburg belehrt den Filmemacher dahingehend, dass der Durchschnittsdeutsche inzwischen nicht mehr Thomas Müller heiße, sondern Jan Müller. Und dem gehört wohl die durchschnittlich deutsche Zukunft.