Staudamm

Kino mit Nachhall. Das Grauen, der Horror, das Unfassbare, das Sensationelle kommt in diesem Film gänzlich unspektakulär daher, verpackt in keinesfalls dröge Staatsanwalts-Akteneinleserei und eine unforcierte Liebesgeschichte, die eingesprüht scheint in einen Hauch von Nouvelle-Vague in Steinwang im Allgäu, nicht nur weil die beiden Protagonisten gerade nichts anderes zu tun haben, als sich über den Weg laufen; weil sie auf höchst unterschiedliche Weise das Grauen, das schier Unaussprechliche verbindet (bei der Nouvelle Vague dürfte es das Grauen des Zweiten Weltkrieges gewesen sein, hier der Amoklauf).

Thomas Sieben wagt nach einem Drehbuch von Christian Lyra eine behutsame, fast schon pädagogisch zu nennende (insofern auf jeden Fall für den Schulunterricht bestens geeignete) Annäherung an ein grauenhaftes Phänomen unserer Zeit: Amokläufe von Schülern in der Schule mit vielen Toten im Gefolge.

Hier geht es um einen Amoklauf in Steinwang im Allgäu. Die Annäherung folgt über den sensiblen Schauspieler Friedrich Mücke. Er spielt einen jungen Mann, der sich ein Geld verdient mit dem Einlesen von Gerichtsakten für einen Staatsanwalt, damit der auch beim Autofahren mittels dieser Audio-Dateien Aktenstudium betreiben kann. So findet die Einführung statt. Wir sehen den jungen Mann, Roman heißt er im Film, wie er in seiner kleinen Bude in München vor dem Computer sitzt und Aktentexte zu diesem Amoklauf spricht.

Immer wieder schneidet Sieben den Ausschlag der Tonspur ein, auch ein prima Mittel zur Kunst der Indirektheit. Vielleicht macht es sich Mücke etwas zu schwer, spielt zu sehr noch mit, dass ihn der Text nicht kalt lässt. Aber das dürfte eine Frage der Regie sein. Ob es nicht wirkungsvoller gewesen wäre, das erst mal rein routiniert einzuspeichern. Es ist bei dieser Konstruktion zu erwarten, dass der Fall ihn mehr involvieren wird. So kommt es tatsächlich.

Da noch Akten fehlen, wird Roman vom Staatsanwalt nach Memmingen geschickt, um diese auf der Polizeistation abzuholen.

In Memmingen, wo ihn die Umstände, nämlich dass der Polizeichef die Herausgabe der Akten noch nicht erlaubt hat, länger in einer bescheidenen Pension halten, wird er prompt auf die der Polizei bislang noch nicht bekannte Freundin des Amokläufers treffen und es wird sich ein Verhältnis entwickeln, das dazu führt, dass ihm das der Polizei ebenfalls unbekannte Tagebuch des Täters in die Hände gerät. Das ist ein Meisterstück, wie Mücke aus diesem vorliest. Eine respektvollere Annäherung an einen Menschen, der so Furchtbares getan hat, ist schwer vorstellbar. Das macht die Spannung, dass Mücke das so poetisch liest. Im übrigen joggt er oft. Die happige Kost muss mit Pausen verabreicht werden, in denen der Zuschauergeist kreisen kann.

Konzentrierte, kompakte, signifikante Akten-Textstellen wechseln mit genügend Verschnaufauslauf für den Zuschauer mit diesem Hauch von Liebesgeschichte und Impressionen aus dem Allgäu, Gebirge oder was die Menschen herstellen, Häuser, Infotafeln über den Trachtenverein und den Strickabend oder eine aus Holz geschnitzte Figur.

Wie er diese Akte erhält, fragt der Staatsanwalt ihn, was er sich dabei denke und Roman meint ganz trocken, dass er darüber noch nicht nachgedacht habe. Sein Leben besteht aus Rauchen, Einlesen, Joints, Playstation, Alkohol und Joggen. All die Dinge sind seine Begleiter auch im Allgäu.

Es ist ein einfaches Kino, wie es scheint, das auf cineastischen Firlefanz calvinistisch nüchtern verzichtet, ohne jedoch die Berglandschaft im Allgäu zu übersehen; sorgfältig themenorientiert über die Textstellen, die mal von Mücke gelesen oder von ihm zur Kontrolle gehört werden, die verschiedenen Aspekte eines solchen Amoklaufes bewusst macht; das Zuhause des Täters, seine Weltsicht, die Reaktion von Überlebenden, Ansätze zum Verarbeiten; das wachsende Misstrauen der Ortsbewohner den Medien gegenüber, die Reaktion der Schule (ist jetzt in Containern untergebracht).

Die beiden Protagonisten Roman und Laura wirken gänzlich unverbildet, sprechen sehr natürlich und haben viel Privacy, ein exzellenter Cast und wie es im Allgäu immer mehr Winter wird.

Arbeitskino. Themenkino.
Mücke, einer der angenehmsten Schauspieler der jüngeren Generation, der so gar kein Schauspieler-Getue hat und eine diskrete Privacy spielt.

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