Am Hang

Wie kann ich mit einem Kinoprojekt schnell an Geld kommen? Man schaue sich auf dem Bestsellermarkt um, sichere sich den Titel für einen Überraschungsbestseller, der nicht allzu personenintensiv ist (3 Hauptdarsteller und einige Nebenfiguren ohne Belang), „Am Hang“ von Markus Werner; man hole sich einen Letter of Intent von namhaften Darstellern (Henry Hübchen, Martina Gedeck); so dürfte der Hauptteil der Finanzierung schon in Aussicht sein; da es sich um ein Schweizer Produkt für den deutschen Markt handelt, spreche man die entsprechenden, potentiellen Geldgeber an.

Parallel dazu setze man zwei Schreiber (Martin Gypkens, Klaus Richter) an die Computer; die gehen nun Seite für Seite den Roman durch, schreiben erst mal die direkten Dialogsätze raus oder formen Sätze aus dem Roman zu solchen Sätzen um. So wichtig ist das aber nicht mehr, denn die Geldgeber haben bereits auf Grund eines kurzen Treatments von vielleicht einer halben Seite, der Verkaufszahlen des Bestsellers und einem Blick auf die Stab- und Castliste (als Regisseur nimmt man noch den in der Schweiz bekannten Namen Markus Imboden) ihre Zusage signalisiert; das ganze Buch zu lesen, erst recht es auf Kinotauglichkeit abzuklopfen, dürften die meisten Geldgeber weder Lust noch die Fähigkeit und vermutlich auch nicht die Zeit haben – es gibt ja soo viel wichtigere Dinge auf der Welt.

Nun müssen schnell die Drehtermine und die Locations gefunden werden. Die Verträge geschlossen. Da es sich um einen idyllischen Schweizer Seeuferfilm mit einer Prise Tumorfilm handelt, also einige schöne Hotels am Wasser und vielleicht noch eine Berghütte. Und schon kann der Routinedreh, für den keiner so richtig Zeit und Lust hat, beginnen. Jetzt wird lieblos runtergekurbelt, was die Drehterminierung fordert. Jetzt kann die Subventionsmaschinerie abgemolken werden.

Die Schauspieler haben vor lauter Textmengen und Anschlussbeschäftigungen vor und nach dem Dreh keine Zeit, sich vorzubereiten, der Regisseur auch nicht. So behilft sich denn ein Henry Hübchen, der unbestreitbar ein prima Darsteller ist, mit reiner Routine, mit einigen Energieausstößen und vielen Hebungen am Ende der Sätze (so wie Tänzer ihre Partnerinnen heben).

Es geht um eine Dreierkonstellation. Seine Frau, die mit dem Tumor, hat ihn verlassen. Er kommt nicht von ihr los. Er hat sich in einem Hotel mit Sicht auf ihr Hotel einquartiert und beobachtet ihr Zimmer mit dem Fernrohr. Auf der Veranda des Hotels lernt er den dritten Hauptdarsteller dieses Filmstückes, was den Begriff Kino nicht verdient, kennen. Sie kommen ins Gespräch. Dieser Dritte war das Zweitverhältnis von Hübchens Gattin.

Die Darstellung wirkt, da kaum Zeit war, in etwa so, als hätten die beiden Hahnreie auf der Schauspielerebene sich für einen Wettbewerb entschieden, wer seine Texte routinierter wegsprechen könne. Das ist das Unterhaltsame an dem im übrigen nicht sehr erhellenden 91-Minuten-Teil, das stellenweise wie ein auswendig gelerntes Drehbuch-Reading anmutet.

Fürs Kulturpublikum soll attraktiv eine Rolle spielen, dass er Cello spielt und sie Klavier, so kann man, wenn man die beiden einmal hat spielen sehen, diese Musik drüber legen, denn ihre Sinnigkeit wurde plausibel eingeführt.

Spät im Film kommt noch des Rätsels Lösung, wozu das Ganze; es ist die Referenz auf ein Gedicht von Conrad Ferdinand Meyer: Die Füße im Feuer. Das ist nun tatsächlich eine Überraschung. Die einzige.

As Time goes by in Shanghai

Ein gefällig gemachtes, leicht zu konsumierendes Erinnerungsalbum an die Reise des ältesten Jazzorchesters der Welt, Durchschnittsalter 76, welches seit über 30 Jahren jeden Abend im Peace Hotel in Shanghai zum Tanz aufspielt, zum North Sea Jazz Festival Rotterdam.

Dieser süffige Bilderbogen von Uli Gaulke ist arrangiert um die immer wieder durchscheinende Story, dass nämlich das Orchester eine Einladung zum Jazzfestival in Holland bekommen hat und sich darauf innert eines Monats vorbereiten muss und wie sie hinfahren und dort Standing Ovations erleben – und Schweiß während des Auftrittes, obwohl sie doch abgehärtete Profis sind, wie ein Kollege, der nicht mitgefahren ist, in einem halben Lachanfall feststellt. All dies ist eingebettet in zahlreiche Impressionen aus Shanghai, den Hochhäusern, den Straßen, den Verkehrsmitteln und vielen Aufnahmen vom Üben, immer in Anzug und Krawatte, kurzen Interviews, kurzen nachgestellten Szenen oder einzelne Musiker mit ihren Instrumenten auf ein Hausdach gestellt und spielend. Postkartenfotogen.

In den Interview- oder Gesprächsfetzen wird etwas von der Geschichte der Einzelnen und auch ihrer privaten Situation skizziert. Vor allem die Zeit der Kulturrevolution 1953 bis 1976 (dunkle Erinnerungen; die haben viel durchgemacht; inzwischen haben sich die Lebensbedingungen gebessert), in der klassische Musik und Jazz absolut verboten waren; wie sie heimlich übten, der Saxophonist mit einem Lappen zum Dämpfen der Lautstärke oder wie sie sich Kassetten besorgten und diese kopierten. Und wie sich eines Tages 1976 plötzlich die Straßen leerten, weil Beethoven am Radio kam; das muss eine ungeheure Sensation gewesen sein.

Die alten Herren unterhalten sich auch über Frauen, wie die in Holland sich in Schaufenstern anböten und wie das mit dem Baden sei. Ihre Devise für das Konzert ist, nicht zu viel üben und Perfektion ist sowieso nichts für den Jazz. Ein bisschen versucht auch der Filmemacher diese Stimmung in seinen Film zu übernehmen.

Es wird viel gelacht und gescherzt zwischen den alten Herren; erst recht wie sie eine junge Sängerin suchen. Die Musik, die sie machen, ihre Ballroom-Musik, die sie selbst als „eine alte Schallplatte“ bezeichnen, kann nach ihrem Eigenverständnis nicht im Vergleich mit anderem Jazz gesehen werden, sondern vor allem vor dem Hintergrund ihrer Geschichte. Dass sie, die Chinesen nämlich, im Gegensatz zu den „Langnasen“, wie sie die Westler nennen, nicht diese Tradition haben und dass sie sich mühsam daran gewöhnen mussten und immer wieder hineinhören in diese Musik; dass sie vor dem Hintergrund der traditionellen chinesischen Musik aufgewachsen seien.

Ein Film sicher geeignet für den Seniorenclub. Fit durch Jazz im Alter. Wobei der lange Flug bei einem Teilnehmer ein geschwollenes Bein und einen kurzen Krankenhausaufenthalt zur Folge hat, Befürchtung einer Thrombose und Infusionen.

Völkerverständigung auf Ansichtskartenidyllenniveau (in Holland fehlen die Windmühlen nicht) mit einer ansprechenden, kleinen Geschichte. Der große Autobahnkreisel in Shanghai war kürzlich schon in einem deutschen Film zu sehen, Hannes Stöhr hat ihn in „Global Player – Wo wir sind isch vorn“ allerdings mit Suspense wahrgenommen.

Neugierige Fragen eines alten Herren: „Wie verdienen die Holländer ihr Geld?“, „Sind die eventuell noch schlauer als die Chinesen, die holländischen Langnasen?“

Biancanieves

Ein besonderer Hochgenuss dürfte dieser Film für Kenner und Liebhaber von Stummfilm-Meisterregisseuren wie Murnau, Pabst, Dreyer, Abel Gance sein, denen Pablo Berger mit diesem Film einerseits ein Denkmal, eine Hommage setzen möchte, die er aber mit diesem Film mit ihren speziellen Kinofertigkeiten, wie mittels einer Lektion über das Filmemachen der Vergessenheit entreißen will.

Schwarz-Weiß und stumm, aber mit einer zart orchestrierten Musik drüber. Berger hat lange vor Michel Hazanavicius an „The Artist“ mit seinem Film begonnen; hatte aber sehr lange Vorarbeiten und just im Moment, wo „The Artist“ in Cannes seine triumphale Geburt erlebte, stand Berger vorm Beginn seiner Dreharbeiten. Nicht dass es jetzt heißt, er sei ein Nachahmer. Ihn fasziniert diese gründliche Art des Filmemachens, des ganz genau Überlegens, was er erzählt, wie jemand darauf reagiert, was wichtig ist. Die Schauspieler sprechen ganz normal bei dem wenigen Text, den sie haben. Meist wird er in schöner Stummfilmmanier auf Tafeln eingeblendet.

Berger hat sich das Schneewittchen der Gebrüder Grimm vorgenommen und es nach Sevilla verlegt. Es ist die Tochter eines berühmten Toreros. Allein wie Berger das Stadion filmt, wie die Menschen hineinströmen; er nimmt es aus der Zeit heraus, stellt es in einen fotogen abstrakten Raum.

Sehr schnell kommt das erste Unglück in die Geschichte. Ihr Vater nämlich, der in einem Durchgang 6 Stiere hintereinander bekämpft, steht kurz vorm Triumph, vorm sechsten Stier. Er steht frontal zu ihm. Ein Fotograf, der schon beim Einzug ins Stadion sich ungebührlich in den Weg gestellt hat, setzt auf die Szene an. Sein Blitzlicht blendet im entscheidenden Moment den Stierkämpfer, dieser verliert seinen Gegner aus den Augen und wird überrannt, führt ab da ein Leben in unermesslichem Reichtum aber behindert. Seine Frau stirbt bei der Geburt von Carmen. Das böse Weib Encarna bemächtigt sich des reichen Mannes und will vom Stiefkind nichts wissen, will es vom Vater fern halten. Wie es doch mit Huhn im Koffer in die Finca geholt wird, heißt es, der zweite Stock (da wohnt der Papa) sei tabu.

Das Beeindruckende an dieser Art Film zu machen ist, dass das Vergnügen am Schauen fast noch zunimmt, wenn man vorher gelesen hat, was sich genau abspielen wird. Weil alles so wohlüberlegt inszeniert ist. Auch die Ähnlichkeit der jungen Carmen als Mädchen und der erwachsenen Carmen als junger Frau in einer traumhaft schönen Übergangsszene. Carmen hat den Kontakt zum Vater gefunden und er hat mit ihr vor einem ausgestopften Stier mit der capa geübt, Trockentraining, und so übt sie spielerisch auch bei der einfachen Tätigkeit des Wäscheaufhängens mit Wäschestücken, übt Drehungen und aus einer dieser Drehungen kommt die junge Frau heraus, schöner Zeitsprung-Schnitt.

Die Stiefmutter hält diese hübsche junge Frau nicht mehr aus, denn sie ist mit ihrer eigenen Schönheit beschäftigt und schickt die Stieftochter mit Limousine und Chauffeur weit weg zum Blumen pflücken. Dort soll er sie erwürgen. Was dieser nicht tut.

Schneewittchen landet bei der Wandertruppe „los enanitos toreros“, das sind Zwerge, die Gaudiauftritte als Toreros machen und von Stierkampf zu Stierkampf ziehen. Wie Schneewittchen eine gespielte Nummer, bei der einer der Zwerge einer Schönheit im Publikum eine Blume überreichen will und er vom Stier von hinten angegriffen wird, für echt hält, greift sie ein, bändigt den Stier. Wird als Torera entdeckt. Und so berühmt, dass sie auf die Titelseiten kommt, damit eine geplante Homestory der Stiefmutter rauskickend.

Man könnte jetzt alles weiter erzählen, weil es so schön ist. Zu verraten gibt’s bei einem solchen Märchen, auch wenn es neu umgesetzt ist, nichts. Ich hätte jedenfalls noch lange zuschauen können. Weil es so schön war.
Wie der Zeppelin überm Stadion.

Die Eiskönigin – völlig unverfroren

Zauberhaft sind die Eisgebilde, die Königin Elsa mit einer kleinen Geste ihrer Hand hervorrufen kann, wundervolle Kristallgebilde, ganze Eisbrücken und ein Eispalast wachsen vor ihr empor, wie sie auf der Flucht vor den Menschen ist, denen sie mit ihren magischen Fähigkeiten nur Unglück und ewigen Winter bringt, bereits gebracht hat, denn dass ihre Schwester, Prinzessin Anna, am Krönungstag bekannt gegeben hat, dass sie sich spontan mit Hans verloben möchte, das ließ die böse Kraft in Elisa unkontrolliert ausbrechen, ihr ganzes Königreich Arendelle in harten Winter tauchen.

Anna glaubt, sie könne den Zauber von Schwester Elsa bezwingen. Sie macht sich auf den Weg, bald begleitet von einem blonden Naturburschen von Norweger, Kristoff und seinem Rentier Sven; dazu kommt noch der von Elsa gebastelte Schneemann, dem man auch mal den Kopf abhauen kann und auf dessen Rübe = Nase der Elch scharf ist. Olaf heißt dieser drollige Schneemann und erfüllt die Funktion des Hofnarren, des Lustigen, des Clowns, des kleinen Kecken, der den Humor nie verliert. Ein Pendant zu dieser Figur sind die Trolle, die grauen Steinmännchen, die sich einrollen können und sich kugeln und dann aussehen wie moosbewachsene Steine, sie stellen aber einen bedrohlich oder schützend eingreifen könnenden Chor dar. Die Komik der Hofschranzen wird gebündelt in der Figur, die schon reine Karikatur ist, des Duke of Weselton mit seiner Klapphalbglatze. Und zwischendrin in aller Flucht entsteht ein Schneemonster wie King Kong und es wird eine nette King-Kong-Reminiszenz an schneebedecktem Felsabhang mit Monster und Anna und Kristoff eingebaut. Oder um der Ödnis eines Winterfilmes etwas entgegenzusetzen, wird Schneemanns Sommertraum dazwischen geschnitten, zauberhaft strahlende Bilder von Blumenwiesen und Sonne; doch der Schneemann ist sich der Gefahr, dass er schmelzen könnte, gar nicht bewusst.

Der Film fängt an mit einer Referenz auf die Arbeiterkunst: Arbeiter, die aus einem Eissee zu entsprechenden Gesängen und in entsprechendem Rhythmus Eisblöcke sägen und wegtransportieren. Arbeiterkontrast zum Fantasiefilm.

Die Märchenmaschine Hollywood ist am Werk: oben kommt eine Prise Christian Andersen (die Schneekönigin) rein, dann wird das mit vielen Zutaten durch den Disney-Animations-Automaten („völlig unverfroren“ Drehbuch: Jennifer Lee, Chris Buck, Shane Morris nach Hans-Christian Andersen in der Regie von Chris Buck und Jennifer Lee) gepresst und unten kommt eine zeitlose Geschichte in zeitlosem Disney-Zuckerguss konfliktentschärft erzählt und entsprechend musikalisch untermalt heraus.

Die Prinzessinnen sind reinste Püppchen. Als Folklorezutat gibt es skandinavische Inspirationen, einen kleinen Laden mit Sauna im nördlichen Schneewald (Oakens Trading & Sauna), in den Anna, vollkommen durchnässt (die einzige Stelle, wo menschliche Empathie aufkommt) und frierend eintritt und wo sie Kristoff für ihren Snowtrip zum Eisschloss kennenlernt, wobei sie zu dem Zeitpunkt noch glaubt, Hans sei ihre große Liebe. So was kann innert einer Spielfilmlänge sich auch mal ändern. Jedenfalls muss ein „Act“ aus reiner Liebe passieren, ein Kuss zwischen zwei sich wirklich Liebenden, um die außer Kontrolle geratene Magie von Königin Elsa wieder zu bändigen und dem Land Arendelle sein gefrorenes Leben zurückzugeben.

Um diese Geschichte, wie Böses in der Welt erst bewusst wird (schon beim Spielen der Königskinder) und wie bei den Heranwachsenden versucht wird, es ruhig zu stellen, es von der Welt fern zu halten, wie es bei der Krönung von Elsa zum Tragen kommt (dummerweise verlangt der Zeremonienmeister, dass sie die Insignien der Macht mit bloßen Händen halte, was sofort die Umwandlung in Eis bewirkt und die Katastrophe auslöst) und wie dann die Dramatik darauf hin arbeitet, die Unglückseigenschaft wieder zu neutralisieren oder sie gar im Sinne der Lust der Menschen (Eislauf auf künstlicher Eisbahn) nutzbar zu machen, um diese Geschichte zu erzählen ist nun 3D grad gar nicht nötig, resp. ändert daran nicht das geringste, auch nicht, dass es sich hier teilweise um ein Musical handelt, denn es gibt viele Songs und die sind zumindest in der amerikanischen Originalfassung ganz gut anzuhören. Wenn schon 3D, dann hätte bei den wundervollen Eisgebilden noch mehr Zauber drin liegen müssen.

Tage am Strand

Eine luxuriös-exklusive, weibliche Art, die Angst vor dem Altern in Lust umzuformulieren.

Zwei blondierte Frauen, Naomi Watts und Robin Wright (bei der man seit „The Congress“ immer überlegen muss, ob sie es ist oder ihr Scan) als Lil und Roz haben in beneidenswert australischer Küstenlage auf dem Lande direkt am Meer je einen Sohn groß gezogen. Sie waren von klein auf dickste Freundinnen, haben sich sogar einmal geküsst, ein Herz und eine Seele also, aber garantiert nicht lesbisch. Jetzt sind die Söhne 19, wie Götter gewachsene junge Männer, knackig, braungebrannt aber noch bei ihren Müttern lebend.

Der Mann von Lil stirbt und der Mann von Roz, der ein Theatermann ist, hat einen Job in Sydney. So verbleiben an der recht einsamen Küste zwei etwas mittelalte Damen und ihre göttergleichen, jungen Söhne.

Anne Fontaine, die Regisseurin dieses Filmes, lässt die Chemie der Geschlechter nun nach dem Drehbuch von Christopher Hampton, der sich auf die Erzählung „Die Großmütter“ von der kürzlich verstorbenen Literaturnobelpreisträgerin Doris Lessing stützt, wirken. Auf einem Floß kommen sich die ungleichen Körper näher. Die blondierten Damen verlieben sich je in den Sohn ihrer Freundin. So entgeht man dem Inzest. Traumhafter kann man sich das Altern nicht vorstellen.

Anne Fontaine serviert das sanft angerührt und sinnlich bis an die Grenze des Schmachtfetzens. Ödipale Ersatzhandlungen vielleicht. Die aber keine Zukunft haben. Frauen, die für ihre Freundin einen Liebhaber für die späteren Jahre herangezogen haben. Für die Darstellerinnen sicher auch bei der Dreharbeit ein Genuss. Aber das Leben kennt keine Verschonung. Tom geht nach Sydney. Kann am Theater ein Musical inszenieren. Verliebt sich in die Hauptdarstellerin. Die Mütter wollen der geheimen Liebeslust ein Ende bereiten. Bis schließlich die jungen Männer verheiratet sind und mit Kind und Kegel bei den Omas auftauchen. Jetzt kann die Fantasie Hochrechnungen anstellen.

Anne Fontaine bereitet diese pikanten, nicht so ganz gehörigen Liebesabenteuer liebevoll fürs Damenkränzchen. Der eine Sohn zündet sich eine Zigarette mit dem Feuerzeug unter seinem T-Shirt an, Schutz vor dem Wind, unverschämt männlich. Anne Fontaine zelebriert ein Leben für die Liebe, für die Sinnlichkeit angereichert mit pikanten Konflikten in schönster Gegend am Ende der Welt. An Australiens Küste ist gut altern. Man kann zwar neben der Liebe noch eine Galerie betreiben. Aber in so einem Film kommt keine Arbeit vor, kein Putzen, kein Abwasch, kein Kochen. Oder man kann einen kleinen Bürojob bei „Wester Yacht“ annehmen; der ist aber nur dafür gut, die nächsten Verabredungen zu treffen. Kinowelt. Traumwelt. Träumerwelt. Grauen, mitteleuropäischen November-Alltag-Wegschiebewelt. Kleine Nummer von Harald, dem Theatermann, wie er wieder einmal bei seiner in den Sohn der Freundin verliebten Frau ist und eine Zigarette anzündet und welche Tricks er verwendet, um eine aggressiv werbende Zigarettenmarke nicht erkennbar zu machen; scheint wie eine Ersatzhandlung, als ob er die Wahrheit nicht erfahren möchte.

Ein wunderbares Feelgoodmovie für Damen, die unter Novembermigräne leiden und sich inspirieren lassen wollen von der Alterssexvorsorge der beiden Protagonistinnen. Zieht Euch Eure Lover selbst heran. Die Enkel sind schon ganz putzig.
Über das Paarungsverhalten blondierter, australischer Mütter mit erwachsenen Söhnen an luxuriösen Orten am Meer.

The Counselor

Der Wunsch nach Tiefsinn und Sinnhaftigkeit einerseits und der sinnentleerte, mexikanische Drogenkrieg andererseits liefern sich in diesem Film von Ridley Scott nach einem Buch von Cormac McCarthy in souveränen Großkinobildern eine akademisch-asymmetrische Auseinandersetzung, bei der es viele Tote gibt, schöne Filmleichen berühmter Stars. Denn das Leben ist hart. Das Drogenkriegsleben ist unvorstellbar hart. Es hat mit der Welt des Protagonisten, des Counselors, eines Anwaltes in Geldnöten, gespielt von Michael Fassbender, nichts und rein gar nichts zu tun. Für ihn als einen Papiermenschen, als eines Gerichtssaalmenschen ist die Realität eine andere und die Gier bringt den Menschen dem Abgrund sehr nah. Das wird ihm einmal in einem Telefonat ein mexikanischer Anwalt aus einem grandios-prunkvoll-protzigen Büro heraus klar zu machen versuchen. Und der Film versucht ebenselbiges.

So wird der Film denn mit dem Verlust einiger bemerkenswert schöner und bekannter Darsteller enden und zwar, auch ein Pluspunkt für diesen Film, ohne eine dieser filmtypischen Trauerfeiern. Und ob der Counselor am Ende etwas gelernt hat aus diesen grauenvollen Lektionen, no sé.

Denn auch das gilt: warum ist Jesus nicht in Mexiko geboren? Weil es dort weder eine Jungfrau noch drei Weisen gibt. Jungfräulich fängt der Film insofern an, als die erste und praktisch einzige Liebesszene eher gespenstisch wirkt, wie zwei Geister bewegen sich zwei Körper vollkommen zugedeckt unter Betttüchern in einem Hotelzimmer in Juarez an der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Und so dürfte es auch um die genaue Geschichte bestellt sein. Nicht ganz durchschaubar, in welches Gewirr von Beziehungen, gnadenlosen Geschäftspraktiken, Skrupellosigkeit eleganter Figuren mit Luxusleben der Counselor hineingerät. Ihn treibt die pure Geldnot an. Und wer könnte widerstehen, mit einem relativ geringem Einsatz an einer Fuhre Drogen von Mexiko nach Chicago 20 Millionen zu verdienen? Allerdings sind daran eben auch andere interessiert, die sich nicht unbedingt zu erkennen geben und mit denen man möglicherweise gleichwohl zu tun hat.

Die Drehorte sind jedenfalls kinobildergiebig: von luxuriösen Hotels über superluxuriöse, weißgetünchte Fincas in Mexiko, von schmierigen Werkstätten mit verrotteten LKWs über Diamantenhändler-Settings in Amsterdam (Bruno Ganz philosophiert hier, ein postmoderner Jünger Spinozas, ellenlang über die Reinheit der Diamanten, aber auch ihre Unvollkommenheit, den Wert und Grad der Verschmutzung, die Farbe und ihre Abstufungen und die Parallelen zu den Frauen), Privatjets, Fotoshooting mit Wildkatzen (Geparden), die mit 100 Stundenkilometern Hasen jagen, Londoner Businesswelt, Blondinen, wie nur das Kino sie hervorbringt und auch Müllhalden, in denen Menschenkörper schon vom nachrückenden Müll zugedeckt sind, bevor die Aasgeier sie entdecken, mexikanischer Frauenknast, menschliches Transportgut in Ölfässern, grausame Tötmethoden und ein rasender Motorradkurier, dem ein Seil zum Verhängnis wird (dumm nur, wenn es den Kopf abhaut, dass die wichtige Kurier-Information unter dem Helm versteckt ist). Ein Verhängnis, das sich wiederum verhängnisvoll auf unseren Counselor bei all der brutalen Konsequenz des Drogenkrieges vollkommen zu Unrecht ziemlich negativ auswirken wird. Aber was spielt in dieser Relation Recht noch für eine Rolle. Die mexikanischen Drogenkrieger sind hart, sie glauben nicht an Zufälle, denn sie haben noch nie einen gesehen. So steht denn der Counselor an einer Kreuzung – die gar keine ist.

Tja, es sagt sich’s so leicht, mit Drogen schnell mal ein paar Millionen zu verdienen, um damit eine finanzielle Klemme zu überbrücken. Die Realität spricht eine andere Sprache. Und die Kinorealität noch eine andere, most sophisticatedly.

Tore tanzt

Der Film fängt beim Titel mit einem verblüffend subtilen Gag an. Ein T formt sich und bleibt hell leuchtend stehen. Es ist das T von „tanzt“. Dann kommen genau gleich groß und gleich hell die anderen Buchstaben hinzu. Der Effekt ist der, dass das anfängliche T, das sich bereits wie ein Kreuz ins Auge eingebrannt hat, noch einen kurzen Moment heller zu leuchten scheint als die anderen Buchstaben. Dieses Versprechen von Subtilität löst der Film allerdings nicht ein. Denn diese kurze Erleuchtung dürfte die einzige geblieben sein, derlei Feintarierungen oder Hintergründigkeiten scheinen Katrin Gebbe, der Autorin und Regisseurin dieses mit öffentlichen Geldern geförderten Filmes nicht gegeben.

Rudimentäres Vorwissen des Zuschauers beim Betreten des Kinos dürfte sein, dass die Hauptperson ein Jesusjünger ist – insofern fängt der Film verheißungsvoll an: mit einer Aufnahme auf dem Hinterkopf des Protagonisten, sich ihm nähernd und ihn so als solchen kennzeichnend, was ja immerhin schon etwas ist im deutschen Film – und der dann von einem Schrebergärtner brutal misshandelt werden wird.

Der Jesusjünger-Darsteller Tore wird gespielt von Julius Feldmeier, einem blondschöpfig-großäugigen, jungen Mann, der Irritation und Sensibilität zulassen kann. Tore huldigt einem naiven Glauben an Jesus. Das zeigen die ersten Szenen, die sich mehr darauf konzentrieren, das Leben eines Jesusjüngers zu zeigen, Taufe, Gottesdienst, Jünger-Leben statt Tore als Charakter unter die Lupe zu nehmen, den Boden zu bereiten, der die spätere Opferrolle auch nur halbwegs verständlich machen könnte; sicher er ist kein aggressiver Mensch und irgendwie regelt Gott alles und alles ist gottgewollt, aber auch diese religiöse Einstellung bleibt vage; sie geht bis zum Wunderglauben.

Die erste Begegnung mit dem späteren Täter Benno und seiner Familie findet an einer Tankstelle statt. Hier bleibt Bennos Wagen stehen. Tore und seine Freunde sind aus filmdramaturgischem Zufall auch an dieser Tankstelle. Sie legen die Hände auf die Kühlerhaube, sprechen ein Gebet und das Wunder geschieht tatsächlich. Diese erste Begegnung verrät, wie genau kann ich allerdings nicht sagen, dass Benno der Misshandler werden wird. Man fragt sich allerdings, da Benno mit seiner Familie wieder weg fährt, was muss sich die Autorin jetzt einfallen lassen, um später Täter und Opfer wieder zusammenzubringen.

Da in diesem Film offenbar kein künstliches Licht gesetzt worden ist und nur mit unruhiger Handkamera gearbeitet wurde, mag es sein, dass mir diese erwartete, vorbereitende Situation entgangen ist; jetzt schickt die Regisseurin Tore und seinen Freund in die Disco. Später findet Tore sich bei Benno in der Gartenlaube, wird von ihm und seiner Familie aufgenommen. Vielleicht war der Gott der Dramaturgie oder dessen stellvertretender Berater auf Erden kurz austreten.

Jetzt wird viel Zeit mit Familienleben gefüllt. Auch Nachbarn kommen ins Spiel, Schrebergartennachbarn. Es ist ein Film mit keinem Handlungsfaden, es ist ein Film, dessen Absicht es ist, eine brutale zwischenmenschliche Situation in verschiedenen Varianten zu schildern und da das ziemlich unerträglich wäre, muss als Füllmaterial Familienleben nacherfunden und dazwischen gefüllt werden. Bis die erste Faust in Tores Nase landet. Dann wieder viel Pause. Bis es bei einer Rangelei blaue Flecken setzt. Dann wieder viel Zeit, wo Tore Nachfragen mit Fußball beantworten kann. Das scheint mir das Problem dieses Filmes zu sein: dass er Unmenschlichkeit aufzeigen will, brutale Taten im engsten Familienbereich, dass er aber das Fundament dafür nicht legt. Denn Tore könnte jederzeit weglaufen. Das, was ihn an Benno und dessen Familie hält, das wird sinnlich nicht nachvollziehbar. Es müsste etwas Erotisches sein – vermutlich. Wobei Benno Tore anfänglich mit weicher Stimme behandelt. Aber vielleicht habe ich jene flüchtige Berührung, die Tore wie ein Blitz getroffen und ihn sofort gebunden hat, übersehen, vielleicht hat es sie aber auch gar nicht gegeben.

Insofern wird aus diesem Film ein merkwürdiges Horrorikum, in welchem bis zu äußerst Grausamem vieles vorkommt, es aber wie in einem billigen Produktekatalog mit bemüht verbindender Story vorgeführt wird. Oder: der Film will vorgeblich anhand einer Story (leider unplausibel) Wissen über mögliche, menschliche Grausamkeiten im familiären Bereich verbreiten. Familienlebenszenen, die mir nie deutlich machen können, was Tore an diesen Leuten fasziniert: Tischtennis, Tanz, Dach reparieren, Steinhaufen, gegenseitiges Abspritzen mit Gartenschlauch, Essen, Anschaffung eines Flachbildschirmes.

Noch grotesker wird diese Horrorikum durch die gerne eingesetzte, die Heftigkeit der Grausamkeit untermalen sollende Erdbebenmusik.
Tore ist Epileptiker.

Aschenbrödel und der gestiefelte Kater

Die Märchen der Gebrüder Grimm dürften mit zu unserem robustesten Kulturgut gehören. Keine noch so gute oder noch so schlechte Erzählung von Oma, Opa, Tanten, Onkeln, Pädagogen, keine Veroperung, keine Disney-Verfilmung, kein drittklassiges Provinztheater kann diesen Geschichten etwas anhaben, sie haben noch alles unlädiert überstanden. Und so wird es Aschenbrödel und dem Gestiefelten Kater auch mit der einstündigen Verfilmung durch das „Mitmachkino“ aus Berlin ergehen.

Der Kern der Geschichten bleibt meist erhalten und die Kinder hören sie sowieso unendlich oft und immer wieder, so können sie auch mit Fragmentarischem etwas anfangen. Selbst wenn wie hier noch eine völlig unmotivierte, uninteressante Rahmenhandlung drum herum gepackt wird.

In dieser Rahmenhandlung zieht eine Familie aus einem alten Herrschaftsgebäude, das mit einem Schild als „Le Chateaubriand“ angeschrieben ist, aus, weil sich das französische Restaurant in der Einöde nicht rechnet. Die Familie fährt mit Sack und Pack nach Berlin. Zieht in ein Loch mit kaputter Heizung und einem französischen Restaurant. Dieses außergrimmsche Extempore dauert eine gefühlte halbe Stunde, in der es für die Kinder nichts mitzumachen und auch nichts zu lachen gibt. Hier ertönt das Signalglöckchen zum Mitmachen nicht.

Sohn Paul ist ein Märchenfan. Er dürfte das Zielpublikum dieser Verfilmung spiegeln, die mit den Zahnlücken oder den schon nachgewachsenen ersten beiden Zahnschaufeln vorne in der Mitte.

Der geneigte Erwachsene überlegt sich anfangs, wie das Mitmachen (auch für die Erwachsenen, heißt es) gestaltet werden würde, ob die Kinder vielleicht Zusammenhänge erraten, auf allfällige Gefahren frühzeitig aufmerksam machen und mitdenken sollen. Nichts dergleichen.

Auf der Leinwand ist eine Theaterbühne zu sehen, auf der wenige Schauspieler mit wenig Requisiten die Märchen mehr erzählen als spielen, absolut kindgerecht. Aber auch ein Publikum innerhalb des Filmes ist vor dieser Bühne vorhanden und auch dieses wird gefilmt und es fängt mit riesigem Applaus an.

Während der Theateraufführung taucht ein Stoffteddy am Bildrand auf, der das Publikum direkt anspricht. Er hat die Funktion des Mitmacheinpeitschers, des Animateurs wie bei abgelutschten Fernseh-Shows. Es funkelt golden um das Bärchen, dann wippt es und die Kinder sollen nun mitapplaudieren. Die Kinder sollen das Funktionieren üben. Dieses beschränkt sich weitgehend auf Applaudieren oder Anfeuern wie Pferde, also nicht Eigeninitiative, sondern gedrillte Nachmachaktivität, ziemlich doof für ziemlich doofe Kinder. Pädagogisch fragwürdig, Sozialisation im Sinne der Erziehung zum folgsamem TV-Show-Mitmacher; Mitläufertum soll unter dem Etikett des Mitmachens konditioniert werden.

Der kulturlle Unfall, der mit diesem Kinoprodukt passiert, ist ein Crash zwischen einer simplen Praxis von Mitmach-Animiererei (im Sinne von: und jetzt alle!) und einer unausgereiften Kinderfilmphilosophie. Aber keine Bange: den Gebrüdern Grimm kann auch dieser Enterversuch nichts anhaben; da sind die Kinder bereits zu stabil und die Grimms zu alt. (Intelligentes, dialogisches Mitmachtheater für Kinder bietet beispielsweise die Märchenbande: www.theater-kommt.de)

Das Buch der Bücher – Über das Hören (TV BRalpha)

Die Bibel am Fernsehen lebendig werden lassen, ist sicher keine schlechte Idee, ist dieses Buch der Bücher doch immer noch ein Kernbestandteil unserer Kultur.

Inhaltlich ist diese 18-teilige Lese-Miniserie zu je 15 Minuten von der ersten Folge her zu schließen bestimmt auch klug durchdacht. In dieser ersten Folge geht es um das Hören, es geht darum, was die Bibel selber darüber sagt mit Zitaten aus dem 1. Buch Samuel, Jeremia, Jesus, dem Deuteronomium, Jesaja.

Die Bibelstellen lesen Markus Fisher, Anna-Isabell Zils und Gert Heidenreich. Sie lesen die Stellen nicht dem Zuschauer zugewandt, sondern sich gegenseitig vor. Das erweckt den Eindruck einer geschlossenen Gesellschaft.

Die Vorleser befinden sich in der Staatlichen Bibliothek in Passau. Als kleine Rahmenhandlung sieht man sie vorher ihre Bücher aus der schönen Bibliothek greifen; sie sind voll mit Markierungen.

Die Leser selber versuchen sich in unterschiedlichen Stilen zu kleiden: Gert Heidenreich als überzeugter Intellektueller mit schwarzem Anzug und schwarzem Rollkragenpullover am Stehpult, Anna-Isabelle Zils trägt über dem kleinen Schwarzen ein weinrotes Samtjackett und sitzt an einem Tisch in einem Winkel zu Markus Fisher, der über hellblauem, offenem Hemd ohne Krawatte eine Lederjacke trägt und sich zum Lesen eine schwarzrandige Lesebrille aufsetzt.

Sicher ein kniffliges Problem: Lesung im Film. Im Bild dem Wort die Ehre geben. Dass die drei praktisch für sich sind, sich selbst die entdeckten Fundstellen zum Thema mitteilen und sich auch mal anerkennend zulächeln, ist die Lösung, die hier gefunden wurde und von Martin Posselt in einer Art Regie umgesetzt wurde, die sich als Nicht-Regie zu zeigen versucht. Vielleicht um dem Eindruck, es könnte sich um eine Predigt handeln, zuvorzukommen? Um nicht in den üblichen, gerne pathetischen Duktus der Lesung im Gottesdienst oder vor geneigtem Publikum zu verfallen?

Es könnte funktionieren, diese Lösung des Insiderischen, sie gerade könnte die Neugier wecken, zuzuhören. Was erzählen die sich hier?

Andererseits konnten die Macher und Vorleser den Gedanken, es für ein Publikum zu tun, nicht ganz ausblenden, die Heiligkeit der Bibelworte in der Intonierung nicht ganz eliminieren. Die Lesehaltung scheint mir dadurch etwas zweideutig: einerseits den Zuhörern zu zeigen, dass man lesen kann, andererseits dieses Lesen-Können sowohl den Anwesenden in der Bibliothek als auch den Zuschauern zuhause nicht allzu sehr verdeutlichen zu wollen. Dieses Zweideutigkeit kann momentweise auch den Eindruck einer gewissen Müdigkeit, Betulichkeit, ja fast Lustlosigkeit oder eine Routineverhaftung erwecken. So dass ich mich gefragt habe, entdecken die denn so gar nichts neu für sich, für ihre Zuhörer? Denn das Wort Gottes, wie es über die Bibel heißt, das muss doch eine ungeheure Kraft haben, hat sie immer auch gehabt, sollte direkt wirken und braucht keinen Hauch bemäntelten, professionellen Lesekunsteinschlags. Die Performance schwankt zwischen der Ambition gepflegter Vorleseübung und der Absicht, dem Publikum den Text frisch und spannend zu vermitteln.

Anderer Beschreibungsversuch: der Eindruck einer gewissen Ratlosigkeit der Bibel oder dem Unternehmen Bibellesung am Fernsehen gegenüber; gegen eine solche Ratlosigkeit wäre nichts einzuwenden, wenn klar wäre, um welche es sich handelt. Es scheint aber eher die Ratlosigkeit dem Leseunternehmen gegenüber; das wirkt tendenziell wie performerische Unsicherheit, statt sich unbefangen vom Bibelwort verunsichern zu lassen durch ganz genaues Hineinhören.

Die Bibel verdient mehr Frische!

Die Tribute von Panem – Catching Fire

Ein Konglomeratsfilm um Macht, Machterhalt und Unterdrückung, um Politik also, um Aufstand und Kampf und Kampf ums Überleben, um den Kampf „Jeder gegen jeden“, um das Verschwenden oder das Verbrennen der Jugend, um Liebe und Show, ein dichtes Gemenge aus römischem Monumentalfilm (Auftritt der Kämpfer auf den Pferdewagen der Gladiatoren in vor Machtinsignien strotzendem Setting), Blick hinter die Kulissen von VIPs und Promis (kurz vorm TV-Show-Auftritt oder im Victory-Tour-Zug; Nähkästchenblick), Samstag-Abend-TV-Show von anno dunnemals (Mannschaften treten in ungewöhnlichen Disziplinen gegeneinander an), Modenschau (speziell die PR-Betreuerin des tourenden Siegerpaares, die jedes Mal in einem neuen, extravaganten Kostüm auftritt, ein Pfund mit dem der Film auch PR-mäßig wuchert), Auspeitschung á la urchristlicher Märtyrer, Dschungelcamp-Fernsehen, Liebesgeschichte und Fake-Liebesgeschichte aus PR-Gründen (das ist der komische Moment im Film, wenn zwei Kameras an Roboterarmen, die selbst schier wie Liebende tanzen, die vorgespielte Liebesszene zwischen Katiness und Peete live in eine Massenveranstaltung in einem Studio übertragen), Vereinnahmung des Sports und seiner Sieger durch die Politik in der Victory-Tour durch die Distrikte (die teils an Auftritte von Faschingsprinzenpaaren erinnert, teils an das Zelebrieren von Bierernst wie bei Krönung, Vereidigung, Glaubensbekenntnis), das-Leben-ist-ein-Hamsterrad-Philosophie (die Sieger kommen nicht zur Ruhe und müssen wieder antreten), Jeanne-D’Arc-Auferstehung und Revolutionsheldin, die hübsche Hauptdarstellerin, die vom ausgebeuteten Volk in den Distrikten als Freiheitsheldin und Aufstachlerin zur Revolution gefeiert wird, deren Kleid sich noch dazu gerne entflammt, (erinnert an den Scheiterhaufen), homo homini lupus: nur einer wird überleben (weichgespülte Form von Takeshi Kitanos „Battle Royale“).

Für München dürfte dieser Film nach der Ablehnung der Bewerbung für die olympischen Winterspiele 2022 vielleicht kein guter Film sein, Parallele zum IOC: Donald Sutherland als der Gott Snow und Philip Seymour Hoffman als der skrupellose Spielemacher könnten Thomas Bach sein.

Insgesamt der Eindruck eines solide zusammenmontierten Streifens, der allerdings streng vorkantianisch, altmodisch und prüde riecht (trotz modernistischer Effekte wie ultramodernste Überwachungsmethoden á la NSA und Prism-mäßige Generalüberwachung sichtbar in omnipräsenten Hologrammen zur Verfügung der Mächtigen oder Laserstrahl-Bogenschieß-Training).

Ein Wunder passiert in dem Film auch: dem Köcher der Heldin gehen nie die Pfeile aus.

Nomen est Assoziation. Panem spricht sich in der Originalfassung aus wie Pan Am (das war einmal eine amerikanische Fluggesellschaft).
Peete ist ein Peter, der sich anhört wie Pita.
Katiness ist wohl die Kindness aller Kathis, aller Reinen, und zwar nicht Evergreen, sondern Everdeen (Ever die Norm Din A4 könnte der Deutsche assoziieren).
Nach 90 Minuten Vorbereitung und todernsten Zelebrierens und Zeitschindens gibt’s endlich den Launch zur neuen Show.

Die Gefahren im neuen Spiel, was kein Spiel mehr sei, das sind ein giftiger Nebel, mäßig animierte, angriffslustige Vögel, böse Affen, die sich für Werwölfe halten, Blitze, die in einen im Dschungel herausragenden Baum schlagen und derlei Jahrmarktsattraktionen mehr.

Nach zwei Stunden Spielzeit gibt’s ein ganz kurzes, vermutlich aus Unterschätzung des Zuschauers gekürztes, besinnliches Gespräch zwischen Katiness und einer anderen Kämpferin, über die Liebe und über die junge Frau, an deren Stelle die greise Mag, die von einem Helden auf dem Buckel durch den Urwald getragen wird, getreten sei und wieso.

Weniger als eine halbe Stunde später und nach einem rettenden Pfeilschuss in den künstlichen Dschungelhimmel durch unsere Heldin ist das Spiel bald aus.

Eine Art Willkommensritual für die blühende Jugend in der widerlichen, abgestandenen Erwachsenenwelt, ein happiger Begrüssungscocktail angereichert mit viel künstlichem Süßstoff und einer satten Prise dämpfenden Mittels in der hoffnungslosen Welt der Erwachsenen.

Das Ko-Drehbuch schrieb Simon Beaufoy nach dem Roman von Suzanne Collins, die Regie führte Francis Lawrence.