3096 Tage

3096 Tage lang hatte der Entführer Priklopil Natascha Kampusch in einem eigens vorbereiteten Kellerverlies gefangen gehalten. Das ist der Stoff für diesen Film.

Erschütternd daran ist nicht das Martyrium der Natascha Kampusch, erschütternd an diesem Film ist das armselige Kinohandwerk von Drehbuch, Regie und Casting, das den cinephilen Zuschauer einem wahren Martyrium aussetzt.

Den Skandal zu entskandalisieren, das Böse banal erscheinen zu lassen, um sich nicht dem Vorwurf auszusetzen, sich bequem auf die Aufregungswelle drauf zu setzen, um billig abzukassieren, ist sicher bewusst entschieden, vernünftig und verständlich, schließlich will (und kann!) Sherry Hormann, die Regisseurin,  nicht den Tarantino geben. Dass aber stattdessen Drehbuch, Regie und Casting von einem reduzierten Menschenbild, wie die filmfördernde Planwirtschaft á la Degeto es in Deutschland gerne mag, ausgehen, kommt umso erschütternder zur Geltung, als hinter der Kamera ein Groß- und Altmeister aus Hollywood steht, Michael Ballhaus. Denn ein guter Kameramann denkt immer auch an die Montage der Bilder, die das Narrativ im Zuschauerhirn erst ermöglicht und herstellt. Hier ist dieses Narrativ allerdings nicht viel mehr als eine Nachbebilderung von durch die Medien längst Bekanntem, gepaart mit bescheiden nacherfundenen Dialogen und Alltagssituationen unter durchgehendem Verzicht auf Kinospannung erst ermöglichende Analyse der Konflikte der Figuren. Die eskalieren sozusagen der Reihe nach, so besehen: Chronologie statt Dynamik, Aufzählung statt Handlungsgerüst. Die Figuren haben keine Geschichte und keinen inneren Monolog. Professionell eingeübte Darstellerintensität (Ausbrüche und dergleichen) statt Figurstudium. Vom filmerzählerischen Standpunkt aus sind die Konflikte somit unvorbereitet, weil es an Tag x oder y in den historischen Aufzeichnungen (wie der Film uns in einer gewissermaßen seine billige Methode selbstrechtfertigenden Szene glauben machen möchte) nachzulesen war, die die reale Natascha Kampusch auf Klopapier gemacht haben soll, und diese vor ihrem Peiniger in einer Schachtel mit dem Brettspiel Backgammon verstecken konnte. Sicher blitzt in einzelnen Auseinandersetzungen und Zitaten der Widerstandswille und der Geist des Opfers auf. Aber er ist nie durch die Vorstellung der Charaktereigenschaften der Figur begründet. Im Gegenteil erscheint der starke Geist eher unlogisch, denn dieses Mädchen wurde als aus zerrütteten Verhältnissen stammend eingeführt, Eltern getrennt, Vater nimmt Mädchen ins Wirtshaus mit, Mutter harter, gefühlloser Typ; in den Vorstellungsszenen liess nichts auf den wachen Geist dieses Pummelchens schließen. Der kommt später situationsbedingt ex machina. Das mag realiter auch so gewesen sein. Für eine Kinoerzählung ist das schlicht untauglich oder langweilig zu nennen. Ok, Nataschas Leitsatz, dass einer von beiden das nicht überleben werde und dass sie es sei, die überleben werde, der wird allumfassend immer wieder vorgebracht.

Zu diesen dramaturgischen Konstruktionsproblemen kommt die Widerstandslosigkeit, das Sich-Abfinden der Regie mit der angebotenen Typecasting-Klischeebesetzung, welche sie unbesehen und unbearbeitet einsetzt. Mangelndes Regiehandwerk, Desinteresse oder gar mangelndes Bewusstsein dieses Defizits mag der Grund dafür gewesen sein oder war es schlicht der Drehplan, der keine Zeit dafür gelassen hat?

Mit der ersten Szene hat der Film sein bestes Pulver bereits verschossen. Eine Szene in Schnee. Fast meditative Bilder, wie die Darstellerin der Natascha eine Skipiste runter fährt in schönen Schwüngen in traumhafter Skiparadieswelt. Der heutige und hiesige Zuschauer weiß um den ganzen Hintergrund der Figur, um ihr Schicksal. Da tut sich was im Hirn. Dieses Wissen bildet einen krassen Gegensatz zum friedlichen, erholsamen Bild. So tun sich Abgründe auf. Wie bewegt sich ein Mensch, der solches, in den Medien längst breit getretenes Martyrium erlebt hat, in der „normalen“ Welt. Hier wird Kino zum spannenden Spiel zwischen Wissen und Bildern, hier wird Kino zum Bewusstseinsaufrührer. Was in den restlichen hundert Minuten folgt, darüber dürfte jedoch schnell der Schleier des Vergessens gelegt werden.

Gewiss, das ist ein Produzenten- und ein dramaturgischer Entscheid, das Opfer als die Hauptperson zu nehmen. Immerhin ein klarer Entscheid. Wenn auch sicher ein schwieriger. Denn bei solchen Taten fasziniert den Voyeur doch mehr der Täter als das Opfer. Wie kann es soweit kommen, dass ein Mensch keinen anderen Ausweg mehr sieht, ein wie man meinen sollte normal sozialisierter Mensch, dass er einen anderen Menschen seiner Freiheit beraubt und ihn wie ein Haustier verborgen im Keller hält? Aber für den Täter interessiert sich dieser Film wenig. Die glaubten, das castingmäßig lösen und erledigen zu können. Es gibt Beispiele, wie mit so einer Figur (allerdings als Hauptperson) schon umgegangen worden ist: „M- eine Stadt sucht einen Mörder“; wie Fritz Lang hier Peter Lorre als Hans Beckert ins Visier nimmt und ihm nachspürt, wie er allein durch das Lied, was er pfeift erkennbar wird, wie er ihn charakterisierte und zeichnete, das hat auch nach Jahrzehnten nichts von seiner Faszination eingebüßt; kaum zu erwarten bei dem hier bemühten Priklopil; seiner Figur wurde kaum Kinoraum gegeben.

Ein großes Problem mit dem Opfer in der Hauptperson scheint mir außerdem zu sein, dass dieses schon während der Gefangenschaft, die ja rein theoretisch und verbal und in einzelnen Szenen plötzlich auch darstellerisch als ein Existenzkampf definiert wird (dass nur einer von beiden das überleben werde), die Darstellerin bereits das Trauma spielt, was sich erst nach der traumatischen Situation einstellt, was erst im Kontakt mit der “normalen“ Welt und wenn der Überlebenskampf vorbei ist, sichtbar wird. Das scheint mir nicht sorgfältig bedacht zu sein. Wenig sorgfältig oft auch die deutsche Nachsynchronisation.

Die Billigmethode der Nachbebilderung von Aufzeichnungen und der Nacherfindung von Dialogen führt zu Sätzen wie:
„Dazu gibt’s Püree und Kuchen.“
„Und dann gibt’s noch Wurstsalat.“
„Trink aus, dann räum ich das auch noch in die Maschine.“
„Na gut, ich geh dann jetzt.“
„Hast du meine Sonnenbrille, Lippenbalsam?“

Hat jemand ein Mittel gegen solche Filme?

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